Jörg Flecker
FORBA -Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt
 
ORF ON Science :  Jörg Flecker :  Gesellschaft 
 
Post, Gesundheit & Co: Arbeit nach der Liberalisierung  
  In den öffentlichen Dienstleistungen - von der Post bis zum Gesundheitswesen - wird in der EU der Marktzugang zunehmend liberalisiert, viele Unternehmen werden privatisiert. Welche Märkte und Eigentumsverhältnisse entstehen dadurch? Welche Auswirkungen haben die Veränderungen auf Beschäftigung, Arbeit, Produktivität und Qualität der Dienstleistungen? Das europäische Forschungsprojekt PIQUE liefert erste Antworten auf diese Fragen.  
Trotz Liberalisierung wenig Wettbewerb
Laut ökonomischer Theorie führt Liberalisierung zu mehr Konkurrenz und damit zu höherer Effizienz und sinkenden Preisen. Die Untersuchung von vier Branchen (Elektrizität, Post, Personentransport und Spitäler) zeigt jedoch, dass schon die erste Annahme nur begrenzt zutrifft: Zwar wurden in den sechs untersuchten Ländern häufig Monopole abgeschafft, aber nur in wenigen Fällen kam es auf den neuen Märkten zu ausgeprägtem Wettbewerb.

In den meisten Fällen blieb der Wettbewerb sehr begrenzt, ja es kam bisweilen sogar zu einem Anstieg der Marktkonzentration durch die Liberalisierung.
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Weit vorangeschrittene Privatisierung
Während es nur begrenzt zu einer Marktliberalisierung im Sinne der Einrichtung kompetitiver Märkte kam, ist die Privatisierung deutlich weiter vorangeschritten. In den meisten Branchen und Ländern erfolgte ein Wechsel vom öffentlichen zum privaten Eigentum oder zumindest eine deutliche Stärkung des privaten Eigentums.
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Regulierung der neuen Märkte
Mit dem Verlust der Regulierungsmöglichkeit über das öffentliche Eigentum mussten neue Formen geschaffen werden, um die nun eingerichteten Märkte etwa über Regulierungsbehörden zu steuern. Generell hat sich der Schwerpunkt der Regulierung von der Gestaltung der Dienstleistungserbringung zur Ermöglichung von Wettbewerb verschoben.

Häufig wurden die Marktergebnisse aber dem "freien Spiel der Kräfte" überlassen, was - u.a. angesichts des vielfach begrenzten Wettbewerbs - gravierende Probleme aufwirft. Damit die Dienstleistungen leicht zugänglich, leistbar und von hoher Qualität sind, bedarf es verbesserter Regulierungsformen.
->   PIQUE-Paper zu Liberalisierung und Privatisierung
Auswirkungen auf die Beschäftigung
Im Gegensatz zu gängigen Annahmen hat die Liberalisierung und Privatisierung in den untersuchten Branchen tendenziell nicht zu einer Zunahme, sondern zu einer Abnahme der Beschäftigung geführt. Allein für die Elektrizitätswirtschaft weisen frühere Studien im Zeitraum 1995 bis 2004 einen Verlust von 246.000 Jobs in der EU-15 auf.

In Österreich lag der Beschäftigungsrückgang im selben Zeitraum je nach Datenquelle im selben Zeitraum zwischen 20 und 30 Prozent. Im Postsektor kam es in der Mehrheit der von uns untersuchten Länder ebenfalls zu einem Beschäftigungsrückgang, allerdings war dieser weniger stark ausgeprägt und weniger einheitlich.

Insgesamt hat seit der Liberalisierung und Privatisierung die Zahl der Teilzeitarbeitskräfte und der selbständig Beschäftigten stark zugenommen. In Österreich ist der Anteil der Teilzeitkräfte im Postsektor zwischen 1995 und 2005 um 28 Prozent gestiegen, die Zahl der Selbständigen hat sich im selben Zeitraum mehr als vervierfacht.
->   PIQUE-Paper zur Beschäftigungssituation
Arbeitsbeziehungen: Einheitlichkeit erodiert
Die öffentlichen Dienstleistungen hatten mit dem eigentlichen öffentlichen Dienst gemein, dass der gewerkschaftliche Organisationsgrad und die kollektivvertragliche Deckungsrate hoch und die Beschäftigungsbedingungen relativ einheitlich waren.

Der Prozess der Liberalisierung und Privatisierung hat davon wenig übrig gelassen. Er führte insbesondere zu einer Aufspaltung der Verhandlungsstrukturen und der Beschäftigungsbedingungen.
Wettbewerb auf Kosten der Löhne
Die Postdienstleistungen sind ein gutes Beispiel dafür, was bei einer Liberalisierung des Marktes passiert, wenn Löhne und Beschäftigungsbedingungen nicht für alle Firmen einheitlich geregelt sind. So sind die Grundlöhne bei den neuen Postdienstleistern in Deutschland und Österreich nur etwa halb so hoch wie bei den frühren Monopolisten und die Arbeitszeiten sind deutlich flexibler.

Während in Deutschland die neuen Konkurrenten hauptsächlich mit Minijobs arbeiten, greifen sie in Österreich mehrheitlich auf selbständige Beschäftigte zurück. Als WerkvertragsnehmerInnen fallen sie weder unter Mindestlohnregelungen noch haben sie sonst einen Anspruch auf einen sozialen Schutz.
Gleiche Arbeit zu ungleichen Bedingungen
Aber auch innerhalb der ehemals staatlichen Unternehmen steigt die Ungleichheit: Neu aufgenommene Arbeitskräfte müssen mit niedrigeren Löhnen und ungünstigeren Arbeitsverträgen vorlieb nehmen als alteingesessene.

Die Auslagerung von Aufgaben aus dem Unternehmen und die Beschäftigung von Leiharbeitskräften nehmen zu. Beides lässt die Ungleichheit in den Beschäftigungsbedingungen weiter ansteigen.
->   PIQUE-Paper zu den Arbeitsbedingungen
Mangelnde Regulierung der Beschäftigung
Angesichts der Schwächung der Gewerkschaften und der Auflösung einheitlicher Beschäftigungsbedingungen geht die Liberalisierung und Privatisierung eher mit einer Kürzung der Löhne und der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen einher als mit Innovationen und der Steigerung der Dienstleistungsqualität.

Erst die Sicherung einheitlicher Löhne und Arbeitsbedingungen ermöglicht einen fairen Wettbewerb, während gegenwärtig in vielen Branchen und Ländern eine Spirale nach unten in Gang gesetzt wurde, die nicht nur Nachteile für die Arbeitskräfte bringt, sondern wohl auch auf die Dienstleistungsqualität durchschlagen wird.

[3.11.08]
->   Überblick zum Projekt PIQUE
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