Jörg Flecker
FORBA -Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt
 
ORF ON Science :  Jörg Flecker :  Gesellschaft 
 
Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen
Wie reagieren die Unternehmen?
 
  Welche Strategien verfolgen Unternehmen im Hinblick auf die Liberalisierung von Post, Elektrizität und Nahverkehr? Welche Umstrukturierungen haben die Veränderungen der Märkte und der Eigentumsstrukturen ausgelöst? Wie verändert sich die Beschäftigung, wie die Arbeitsbedingungen und was sind die Auswirkungen auf die Dienstleistungsqualität?  
Im europäischen PIQUE-Projekt wurden 23 Unternehmensfallstudien mit rund 185 Interviews in vier Branchen und sechs Ländern durchgeführt, um diese und damit zusammenhängende Fragen zu beantworten. Hier die wichtigsten Ergebnisse, über die am Freitag, 24. April 2009 auf einer Konferenz in Wien berichtet wurde.
Unternehmensstrategien
Die Liberalisierung hat ihr Ziel, nämlich Märkte mit starkem Wettbewerb zu schaffen, nur teilweise erreicht. Mehr bewegt hat sich bei der Privatisierung: Die öffentlichen Dienstleister wechselten häufig den Eigentümer. Dieser Trend spiegelt sich in den Unternehmensfallstudien wider.

Im Elektrizitätssektor haben alle bis auf ein Unternehmen den Eigentümer gewechselt und alle bis auf eines befinden sich mehrheitlich in ausländischem Besitz. Wenn der geplante Zusammenschluss zwischen der dänischen und der schwedischen Post über die Bühne geht, ist nur noch einer der vier untersuchten ehemaligen Postmonopolisten vollständig in öffentlicher Hand.

Neben Zusammenschlüssen und Übernahmen, die in Extremfällen zur Herausbildung von nationalen oder europäischen Dienstleistungsoligopolen führen, haben die ehemaligen Monopolisten auch mit Internationalisierung - durch Investitionen außerhalb ihres Heimmarktes - und mit Diversifizierung - durch Investitionen in andere Wirtschaftszweige - reagiert.

Zudem wird deutlich zwischen Kundengruppen unterschieden: Großkunden können über die Konditionen verhandeln, wozu vor allem die Preise gehören, während "kleine" Kunden nach allgemeinen Regeln behandelt werden und Standardtarife zahlen. Für sie sind die Preise in mehreren Fällen sogar gestiegen.
->   PIQUE-Paper zu Unternehmensstrategien
Organisatorische Veränderungen
Es gab auch weit reichende organisatorische Veränderungen: Einerseits legten die Unternehmen Betriebe und Abteilungen zusammen und konzentrierten so ihre Aktivitäten, andererseits lagerten sie Teile durch die Gründung von Tochtergesellschaften oder durch Verträge mit externen Anbietern aus.

Die Gründung von Tochtergesellschaften ist in der Elektrizitätswirtschaft besonders beliebt, wo der Regulator verlangte, Produktion, Verteilung und Versorgung auf eigenständige Einheiten aufzuteilen. Einige haben in der Folge Tochtergesellschaften für den Verkauf gegründet.

Mit den organisatorischen Veränderungen wurden nicht nur die Vorgaben befolgt. Unternehmen nutzten auch bewusst die Möglichkeit, den ¿teuren¿ Kollektivvertrag des öffentlichen Sektors zu verlassen. Die Suche nach niedrigeren Arbeitskosten war ein wichtiger Ansporn für Auslagerungen. Im Falle eines neuen belgischen Anbieters sind inzwischen bis auf eine kleine Kerneinheit alle Tätigkeiten an Externe ausgelagert. In Deutschland werden in vielen Städten Briefkästen inzwischen von Taxifahrern geleert.

Insgesamt haben die Unternehmen häufiger mit Zentralisierung als mit Dezentralisierung reagiert. In Österreich und Deutschland wurde beispielsweise das Netz von Postfilialen seit der Liberalisierung um 40 Prozent reduziert.
Folgen für die Beschäftigung
Zwar variieren die Veränderungen der Beschäftigungszahlen zwischen Branchen und Ländern, aber folgende Trends lassen sich herauslesen: In der Elektrizitätswirtschaft und bei den Postdiensten kam es zu beträchtlichen Arbeitsplatzverlusten bei den früheren Monopolanbietern, oft gekoppelt mit Änderungen im Beschäftigungsstatus. Dagegen haben neue Anbieter an Beschäftigung zugelegt.

Natürlich können die Nettoeffekte nur auf der Makroebene nachgewiesen werden. Die Fallstudien bestätigen, dass in der Elektrizitätswirtschaft und bei der Post die Schaffung neuer Arbeitsplätzen die Verluste keinesfalls aufwiegen - vor allem nicht, wenn in Vollzeitäquivalenten gerechnet wird.

Neben dem Beschäftigungsabbau kam es zu einer Zunahme von atypischen und auch von prekären Beschäftigungsverhältnissen. Dazu zählen Teilzeit und geringfügige Teilzeit, befristete Beschäftigung, Leiharbeit und selbständige Beschäftigung. In Belgien ist ein beträchtlicher Teil der ArbeitnehmerInnen in der Elektrizitätswirtschaft nur befristet beschäftigt.

Im öffentlichen Personennahverkehr werden Arbeitsverträge zunehmend an die Dauer des Vertrages gekoppelt, den das Busunternehmen mit der Gemeinde oder dem Verkehrsverbund abschließt. In Deutschland operieren die Konkurrenten der ehemals staatlichen Post hauptsächlich mit "Mini-JobberInnen", in Österreich sind die Zusteller der neuen Anbieter auf dem Briefmarkt zu über 90 Prozent als Selbständige beschäftigt.
->   PIQUE-Paper zur Beschäftigung
Auswirkungen auf Arbeitsbeziehungen
Mit wenigen Ausnahmen kam es zu einer Fragmentierung der Arbeitsbeziehungen: Verhandlungssysteme werden aufgespalten und die Reichweite der Kollektivverträge sinkt.

Gleichzeitig nehmen die Zahl und Vielfalt der Akteure sowie die Lohnunterschiede zu. Die Unterschiede entstehen zwischen, aber auch innerhalb der Unternehmen. Einerseits wird in der Kernorganisation, in den Tochtergesellschaften und für ausgelagerte Jobs unterschiedlich viel bezahlt, andererseits erhalten neu aufgenommene Mitarbeiter niedrigere Gehälter.

Dadurch werden ArbeitnehmerInnen für dieselben Tätigkeiten unterschiedlich bezahlt. In Belgien verdienen neu Beschäftigte in der Elektrizitätswirtschaft zwischen 22 und 34 Prozent weniger als ihre länger beschäftigten KollegInnen. In der österreichischen Fallstudie macht dieser Unterschied 13 Prozent aus.

In der britischen Fallstudie verloren ArbeitnehmerInnen die relativ großzügigen Pensionsregelungen, die für ihre KollegInnen bestehen, die schon vor der Privatisierung dort gearbeitet haben. In Polen wiederum verdienen die neuen Beschäftigten mehr, weil die älteren Beschäftigten keinen anderen Job mehr finden würden und daher keine Lohnforderungen stellen können.
->   PIQUE-Paper zu Arbeitsbeziehungen
Arbeitsorganisation und Arbeitsbedingungen
Der Beschäftigungsabbau hat Folgen für die Arbeitsbedingungen. Oft führte die Reduktion der Belegschaft zu einer Intensivierung der Arbeit. Gleichzeitig nahm die Arbeitsintensität durch die Einführung neuer Kontrollmechanismen und den verstärkten Einsatz von Vergleichen mittels Kennzahlen zu.

Manager verwiesen in diesem Zusammenhang wiederholt auf ein vor der Liberalisierung bestehendes Leistungsdefizit und auf die damals herrschenden laxen Arbeitsbedingungen. Die Beschäftigten, Betriebsräte und Gewerkschafter wandten dagegen ein, dass Intensivierung und Flexibilisierung inzwischen die Dienstleistungsqualität untergraben.

Jedenfalls bewahrten Innovationen in der Arbeitsorganisation die Beschäftigten nur selten vor der wachsenden Arbeitsbelastung. Sie haben vielfach den Arbeitsdruck noch weiter erhöht.
Produktivität und Qualität
Die meisten Fallstudien zeigen eine Zunahme der Produktivität. Wesentlich weniger Beschäftigte erbringen dieselben Leistungen wie früher. In Krankenhäusern und im öffentlichen Nahverkehr bewältigt teilweise die gleiche Zahl an Beschäftigten eine ständig wachsende Nachfrage.

Allerdings stellen Produktivitätssteigerungen in der Regel kein Ziel für sich dar. Produktivitätsgewinne sind quasi ein Nebenprodukt des allgemeinen Drängens auf Kostensenkungen. Das hat zwei Konsequenzen: Erstens kombinieren Unternehmen häufig Produktivitätssteigerung mit der Bezahlung von niedrigeren Löhnen oder mit dem Einsatz von atypischen Beschäftigten (oft in Kombination mit Auslagerungen).

Zweitens kam es durch den Einsatz neuer Technologien in einigen Fällen zu Qualitätsverbesserungen. Maßnahmen zur Steigerung der Qualität konnten aber nur dort beobachtet werden, wo sie nicht mit dem Ziel der Kostensenkung und des Beschäftigungsabbaus in Konflikt gerieten. Bei Qualitätsaspekten, die vom Arbeitseinsatz und damit von der Anzahl der Beschäftigten abhängig sind, wurde dagegen in mehren Fällen eine Verschlechterung der Dienstleistungsqualität in Kauf genommen.

[28.4.09]
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