Christian Gastgeber
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Josef Schöner: Chronist der letzten Kriegstage  
  Josef Schöner, von den Nationalsozialisten frühpensionierter Diplomat, führte über die Jahre 1944/45 ein ausführliches Tagebuch, ein einzigartiger Stimmungsbericht der letzten Tage vor der Befreiung und der ersten Zeit unter russischer sowie alliierter Oberhoheit. 1992 wurden sein Tagebuch im Böhlau-Verlag erstmals veröffentlich, im Gedenkjahr 2005 lohnt es sich, die Ereignisse um die Befreiung Wiens und die Zeit danach in Erinnerung zu rufen.  
Zur Person Josef Schöner

Am Hof (Foto Schöner)
1904 als Sohn einer begüterten Gastronomenfamilie geboren, studiert Schöner nach der Matura 1923 Staats- sowie Rechtswissenschaft. Es folgen Auslandsaufenthalte in Zürich und Paris, ehe er 1934 vom Auswärtigen Amt der Gesandtschaft in Washington und dem Generalkonsulat in New York zugeteilt wurde.

Er kehrte wieder nach Wien zurück und hatte bis 1938 die Funktion eines Sekretärs des Politischen Direktors Theodor Hornbostel inne. Die Nationalsozialisten pensionierten ihn 1939 (35-jährig!). 1941 wird er zum Wehrdienst einberufen, 1943 wieder entlassen und der Heeresstandortverwaltung Wien zugewiesen.
Die Karriere nach der Befreiung

Führichgasse, Wien I (Foto Schöner)
Am 30. April 1945 trat Schöner wieder in den Dienst des Auswärtigen Amtes ein; 1947-1948 wurde er der politischen Vertretung in London zugewiesen, dann bis 1950 der Gesandtschaft in Washington. 1950 erfolgte seine Bestellung zum Leiter der Österreichischen Verbindungsstelle in Deutschland, wo er bis 1953 auch die Verbindungsstelle der BRD mit Österreich war.

Nach Wien zurückgekehrt, war er in die Vorarbeiten zum Staatsvertrag involviert, als enger Mitarbeiter der Außenminister Karl Gruber und Leopold Figl sowie der Bundeskanzler Figl und Raab. In der Folge wurde er Politischer Direktor, Generalsekretär für Auswärtige Angelegenheiten und ab 1958 Botschafter in Bonn und dann in London.
Das Tagebuch

Am Hof (Foto Schöner)
Sein Hang zur dokumentarischen Festlegung der Zeitgeschehnisse zeigt sich neben seiner Vorliebe für die Fotographie in seinem minutiös geführten Tagebuch der Zeit vom 10.9.1944 bis 3.12.1945.

Privates verbindet sich hier mit den Analysen der Ereignissen: die Nöte und die Verwüstungen durch die täglichen Bombenangriffe werden ebenso anschaulich wie der Alltag der Wiener.

Das Vordringen der Russen und die von den Nationalsozialisten stets angedrohte Wunderwaffe stehen in der Zeit bis zum 10. April 1945, dem Einmarsch der Russen in das Innere Wiens, im Mittelpunkt ebenso wie die deutlichen Verfallserscheinungen der Naziherrschaft.
Erste schwere Bombenangriffe auf die Innenstadt

Getreidemarkt (Foto Schöner)
10.9.1944: "Die Gerüchte sind wahr - das BKA getroffen. Rechts vom Portal die Ecke durch einen Volltreffer bis zum Parterre zerstört, dazu ein gutes Stück der Front zum Ballhausplatz zu. Boden mit Schutt und Glassplitter bedeckt ... durch ... die unbeschädigte Burg zum Michaelerplatz, wo eine Bombe gerade vor der Durchfahrt einschlug. Auf dem weiten Platz keine Scheibe mehr ganz ... durch den Kohlmarkt, dessen sämtliche Läden durch den Luftdruck in der engen Gasse zerstört sind - Glas und wieder Glas auf der Straße. ... hinter dem Burgtheater ein Einschlag schräg ins Parterre ... Leute noch verschüttet ..."
Der Volkssturm

Graben (Foto Schöner)
Eine ausführliche Schilderung gibt Schöner zu den Vorbereitungen zum "Volkssturm", zu dem die Männer verpflichtet wurden, stets mit der bangen Befürchtung, bei den Angriffen der Russen mit den abrückenden Truppen mitziehen zu müssen.

10.11.1944: "Die Stimmung bei den Volkssturmmännern ... ist sehr schlecht. Vor allem macht es böses Blut, dass Organisation und Kommando von der Partei übernommen werden ... der Anblick des Mannes in der braunen Parteiuniform vor der Front wirkt auf die angetretenen Männer wie ein rotes Tuch. Alles spricht nur davon, wie man sich im Ernstfall drücken könne, um nur ja nicht an die Front zu müssen oder bei einer Räumung Wiens nicht mitgenommen zu werden ..."
Vereidung des Volkssturms vor dem Burgtheater

Heldenplatz (Foto Schöner)
12.11.1944: "Die Stimmung war alles andere als fanatisch - die Leute machten teils einen resignierten, fatalistischen Eindruck, den ihre verzweifelten Witze nicht mildern konnten, teils zeigten sie offen ihre Ablehnung und Opposition. Bezeichnend war der 'Volkssturmmarsch', der mehrfach ... von Mund zu Mund ging: 'Volkssturmmänner halt's Euch z'samm', - bis wir erst die Waffen hab'n. - Dann wird der Hitler schau'n, - wie wir d'Nazi aussihau'n' ... Bei der Eidesleistung zogen die meisten nicht den Handschuh aus ... Viele sprachen die Eidesformel nicht mit. Schon vorher waren viele aus den hinteren Reihen in den Rathauspark verschwunden ..."
Auflösungserscheinungen

Hoher Markt (Foto Schöner)
Als die Russen bereits im südlichen Niederösterreich waren, gibt Schöner folgenden Stimmungsbericht.

2.4.1945: "... alles sagt: 'Wenn die Russen nur geschwind da wären'. Man fürchtet nur Verteidigung und Häuserkampf ... Eine schnelle Eroberung und Besetzung unter geringen Kämpfen ist unter den jetzigen Umständen das einzige, was wir uns wünschen dürfen. Ich sehe, wie resigniert und fatalistisch die Leute sind, wie wenig tief die Propaganda der letzten sieben Jahre unter die Oberfläche in die Seelen der Wiener gedrungen ist, wie niemand an die 'Bewegung' und an das Reich denkt, nur an das Schicksal der Stadt. Hitler hat wohl die Mäuler der Wiener erobert, aber nicht ihre Herzen ..."
Erste Eindrücke von den Russen

Donaukai (Foto Schöner)
5.4.1945: "Im (Straßenbahn)Wagen ein staubbedeckter Soldat, der erzählt, dass er sich aus dem gestern besetzten Baden durchgeschlagen habe. Die Russen seien nicht so arg gewesen, sie hätten niemanden etwas getan ...

Eine junge Frau ergreift ungläubig den Arm des Erzählers und fragt flehend, ob sie bleiben oder flüchten solle. Der Gefreite erwidert vor allen Leuten: 'Natürlich bleiben S' da - ich bleibe auch, mich bringt niemand mehr weg. I geh ham, zieh' die Fetzen aus und verschwind sofort.' Alle lachen, niemand regt sich auf! ..."
Die Russen in Wien

KHM (Foto Schöner)
10.4.1945: "Allerorts sammeln sich Gruppen von Zivilisten um einzelne Russen, wer kann, prunkt mit seinen tschechischen oder sonstigen slawischen Sprachkenntnissen. Die Soldaten sind durchwegs ruhig und freundlich ... Die Bewohner unserer Straße haben auf einmal ganz helle, erleichterte Gesichter, sie schütteln sich die Hände ...

Immer mehr Leute bevölkern die Straßen, seit sich die anfänglich vorhandene Angst vieler Wiener gelegt hat. ... überall frohe, heitere Mienen, keine Spuren von Angst und Trauer. Sogar die als Parteigenossen bekannten Einwohner stehen herum - natürlich ohne Zeichen ihrer früheren Würde - und stimmen in den allgemeinen Chor der erleichterten Herzen ein ..."
Plünderungen

Schottenhof (Foto Schöner)
10.4.1945: "Der Haupteingang des Warenhauses Herzmansky wurde soeben aufgebrochen ... der Strom von Plünderern ergießt sich durch die enge Pforte des weggebogenen Rolladens. Nicht die Russen beginnen in Wien zu plündern, sondern die Wiener selbst, wenn auch eine Anzahl ausländischer Arbeiter dabei mittun."

11.4.1945: "Alle gescheiten Leute lassen jetzt ihre Uhren daheim, seitdem man weiß, dass die Russen den Passanten die Uhren gern abnehmen. Radios, Uhren und Gold, darauf gehen sie, daneben natürlich Alkohol."
Verwüstungen und Vergewaltigungen

Albertina, Rampe (Foto Schöner)
12.4.1945: "Leider ist es so, dass in fast allen Fällen die Soldaten von den Fremdarbeitern oder Wienern zu den 'lohnenden Objekten' geführt werden. In der ganzen armen Stadt Wien ist heute praktisch kein Geschäft mit brauchbaren Artikeln, das nicht geplündert worden wäre. Es ist traurig festzustellen, dass sich die Wiener ... an den Plünderungen lebhaft beteiligen. ...

Es ist zum Kotzen - obgleich ich Wien prinzipiell gegen andere verteidige, hat sich meine innere Meinung über die charakterlichen Qualitäten meiner Mitbürger seit 1938 leider laufend und mit Grund verschlechtert ..."
Die Gefahr vor den "Halberten"

Volkstheater (Foto Schöner)
Erste Treffen zur Verwaltungsorganisation, 14.4.1945: "Außer ehrlichen Aktivisten sieht man viele Gesichter, die aus der 'Gesellschaft' bekannt sind, die gleichen, die die Wiener Bars bevölkerten und nach dem Umbruch zwar nicht als Parteigenossen aufgenommen wurden, aber mit ihren Beziehungen zur SS und Partei prunkten und jetzt mit dem neuen Strom schon wieder mitschwimmen.

Man wird die Frischbegeisterten mit der rot-weiß-roten Armbinde nach Eintritt geordneter Zustände durch ein engmaschiges Sieb passieren müssen, sonst haben wir die Bude wieder voll von 'Halberten' ..."
Der Stephansdom zerstört

Palais Harrach (Foto Schöner)
14.4.1945: "Vom Graben der erschütternde Anblick: Das wundervolle Steildach des Domes mit dem eingelegten Adler ist verschwunden, der linke, unvollendete Turm ausgebrannt, die Giebel und Fialen starren schwarz und traurig gegen den Himmel. Einzig der Turm steht noch aufrecht ...

Menschen stehen mit Tränen in den Augen davor, etwas zwingt mich, den Hut abzunehmen. Die Nazis haben direkt hineingeschossen ... Nach 500 Jahren, nach den Stürmen der Türkenzeit ist es endlich den Nazischweinen gelungen, dieses Kleinod zu zerstören ... aber Gott straft sie bereits."
Das Steirergewand als Antinazitracht

Albertina (Foto Schöner)
15.4.1945: "Die letzten acht Tage bin ich in Skihose, Bergschuhen, altem Sportrock (made 1928), altem Militärhemd ohne Krawatte und Steirerhut herumgegangen - wie ungezählte andere Wiener. Wir hofften, dadurch möglichst nicht 'burschuj'[bourgeois]-mäßig auszuschauen, ich zweifle, ob uns dies in den Augen der Russen gelungen ist.

Diese bezeichnen nämlich unsere Anklänge an die Landestrachten meist als 'faschistisch' - wo doch der Steirerhut und -gewand schon seit langem fast eine Uniform der Antinazi geworden ist ... Die Tarnung hilft mir eh nix, da die Russen ... jeden Brillenträger von vornherein als Faschisten bezeichnen."

[17.6.05]
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Josef Schöner, Wiener Tagebuch 1944/45
Eva-Marie Csaky, Franz Matscher, Gerald Stourzh, Gerald (Hrsg.)
Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, Band 83
Wien: Böhlau, 491 Seiten
->   Böhlau-Verlag
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