Christian Gastgeber
Österreichische Nationalbibliothek
BIBLOS-Redaktion und Österreichische Akademie der Wissenschaften, Institut für Byzanzforschung
 
ORF ON Science :  Christian Gastgeber :  Wissen und Bildung 
 
Mittelalterliches Liebeslehrbuch wird wieder entdeckt
"Es gibt niemanden, der die Ängste eines einzelnen Liebenden aufzählen könnte ..."
 
  Der Liebesratgeber "De amore" des Andreas Capellanus aus dem 12.(/13.) Jahrhundert erlebt mit einer lateinisch-deutschen Ausgabe und zwei deutschen Übersetzungen eine ungewohnte Resonanz - ein Werk, das die Forschung in seiner Interpretation noch immer vor Rätsel stellt.  
Die Wiederentdeckung

c/o ÖNB Wien
Zwei renommierte deutsche Wissenschaftsverlage setzen auf einen Autor, der die Wissenschaft schon seit weit über 100 Jahre in ambivalenten Beurteilungen spaltet. Dessen Bekanntheit war bislang jedoch auf den wissenschaftlichen Kreis der Mediävisten und Mittellateiner beschränkt war.

Der Berliner de Gruyter-Verlag setzt mit einer synoptischen Edition (Latein-Deutsch) und einer Paperback-Studienausgabe der Übersetzung seinen mittellateinischen Schwerpunkt fort, der Stuttgarter Anton Hiersemann-Verlag eröffnet damit seine neue Reihe, die "Bibliothek der Mittellateinischen Literatur".
Andreas Capellanus

c/o ÖNB Wien
Als Verfasser des Werkes nennt sich ein Andreas, mit der Titelbezeichnung capellanus. Und bereits hier stellt sich die Frage, ob man den Capellanus als Hofkapellan des französischen Königs interpretieren darf (der Bezug zum Königreich Frankreich ist durch den Text gegeben).

Einwand wird hier erhoben, dass die genannte aula regia ("Königshof") eventuell allegorisch als "Königshof der Liebe" zu verstehen sei, da mehrmals von der "aula amoris" bzw. von der "amoris curia", als vom (Königs)Hof der Liebe, die Rede ist.

Da sich keine konkrete Person der Zeit (bislang) mit diesem Andreas Capellanus sicher identifizieren ließ, schwanken die Wissenschaftler zwischen realem und fiktivem Namen.

Aufgrund der Erwähnung adeliger Damen lässt sich das Werk etwa in das späte 12. Jahrhundert datieren. 1238 wird das Werk erstmals gesichert zitiert. Dazwischen ist die Bandbreite der Datierungsinterpretation in der Forschung sehr groß, und auch eine Lokalisierung an den Herrschaftshof nach Paris wird immer wieder - je nach Interpretation des Capellanus - hin- und hergeschoben, nur der Bezug zu Frankreich scheint außer Zweifel.
Andreas Capellanus
Biographie mit ausführlicher Sekundärliteratur aus dem Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon, Verlag Bautz, von Maurice Sprague:
->   Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon
Ovid als Vorbild
Als der Klassiker der lateinischen Liebesliteratur galt Ovids "Ars amatoria", gemeinsam mit seinen weiteren Liebesgedichten; gerade im 12./13. Jahrhundert war das Zeitalter der Ovid-Renaissance, das in eine regelrechte Aetas Ovidiana ausartete.

Ovid wurde wieder gelesen, er wurde umgedeutet und er wurde für die beginnende Liebeslyrik das Vorbild par excellence, so dass man Ovid in satirischen Werken gar als Papst auftreten ließ bzw. im so genannten Liebeskonzil von Remiremont Ovids Dichtung als Evangelium ausgab.
Zum Werk
Nach dem Vorbild von Ovids Ars amatoria ist "De amore" des Andreas Capellanus gestaltet, als Werk in drei Büchern: Gewinnung der Liebe, Erhaltung der Liebe und Heilmittel gegen die Liebe. Der Autor richtet sich mit seinen Instruktionen an einen Walther, der in der Liebe beraten wird.

Die reine Traktatform lockert Andreas Capellanus durch Einlagen, wie den Werbungsdialogen (Männer werben um die Gunst der Frau gleichen, niederen oder höheren Standes) und Liebesurteilen, auf.

Das an den Dialogen und Urteilen beteiligte Publikum gehört dem adeligen oder städtischen Stand an, doch werden in der Kategorisierung der verschiedensten Liebesbeziehungen auch solche zu Nonnen, Prostitutierten oder Bäuerinnen thematisiert. Und auch der Klerus wird als Objekt der (fleischlichen) Liebe nicht ausgeschlossen.
Die Wende in Buch III
Buch III wurde als völliger inhaltlicher Bruch gewertet, da hier nun die irdische Liebe verurteilt wird und einer Suada an Misogynie unter Einzelnachweisen aller Laster der Frauen aus der literarischen Überlieferung breiten Raum verschafft. Frauen wird schlichtweg die Fähigkeit zur wahren Liebe abgesprochen (III 65 Knapp):

"Du wirst nämlich die Liebeserwiderung, die du bei einer Frau suchst, nicht finden können. Niemals nämlich liebte irgendeine Frau einen Mann, noch weiß sie sich mit beidseitiger Fessel der Liebe an einen Liebhaber zu binden. Die Frau sucht nämlich bei der Liebe reich zu werden, nicht aber dem Liebespartner willkommene Wonnen zu gewähren; es darf sich aber auch niemand darüber wundern, da es aus ihrer Natur hervorgeht."

Der inhaltliche Bruch und die wirkliche Intention des Werkes ist bis heute nicht wirklich befriedigend gelöst.
De amore I 1: Liebe ist Leiden?

c/o ÖNB Wien
"Die Liebe ist ein im Innern des Menschen entstehendes Leiden, das ausbricht aufgrund der visuellen Wahrnehmung und der übersteigerten gedanklichen Betrachtung der Schönheit des anderen Geschlechts, um derentwillen man mehr als alles Andere sich wünscht, sich der betreffenden Person erotisch bemächtigen zu dürfen, und dass eben dabei mit beiderseitigen Einwilligung alle Vorschriften der Liebe ausgeführt werden.

Dass die Liebe ein Leiden ist, wird man leicht einsehen. Denn bevor die Liebe nicht von beiden Seiten in ein Gleichgewicht gebracht ist, gibt es keine schlimmere Beklemmung als diese: Der Liebende ist ja stets in Angst, dass seine Liebe nicht das erwünschte Ziel erreichen könnte und dass seine Anstrengungen vergeblich sind." (5-6 Rädle)
De amore II 3: Rücksicht auf den Partner
"Die Liebe nimmt auch ab, wenn sich die Frau bewusst wird, dass ihr Partner dumm und von tölpelhaftem Wesen ist, oder wenn er beim Liebesakt kein Maß kennt, keine Rücksicht auf das Schamgefühl der Partnerin nimmt oder kein Verständnis zeigt für ihre Zurückhaltung.

Ein aufrichtiger Liebhaber sollte eher die schwersten Liebesqualen erdulden als sich rücksichtslos über die Schamhaftigkeit der Partnerin hinwegzusetzen oder nur seine Lust zu suchen, ohne ihre Scham ernst zu nehmen. Denn ein solcher müsste eher Verräter als Liebhaber genannt werden, weil er nur seine eigene Lust im Sinn hat und sich nicht darum kümmert, was für seine Partnerin gut ist." (170 Rädle)
De amore II 3: Blöde Sprüche
"Oft auch wird die Liebe beeinträchtigt, wenn man törichte und unbesonnene Reden führt. Denn viele Männer fühlen sich gedrängt, in Gegenwart einer Frau geistloses Zeug vorzutragen, und sie glauben, ihr zu imponieren, wenn sie dumm und unfein daherreden. Aber da irren sie sich gewaltig. Denn der ist ja von allen guten Geistern verlassen, der meint, er werde einer klugen Person sympathisch, wenn er Dummheiten von sich gibt." (171 Rädle)
De amore II 6: Seitensprung von Männern

c/o ÖNB Wien
"Was nämlich, wenn ihm [d.h. dem Mann in Beziehung mit einer festen Geliebten] eine günstige Gelegenheit eine unbekannte Frau an einem Ort präsentiert, oder was, wenn ein Dirnlein oder jemandes Dienerin diesem Liebenden - im Augenblick drängender Wollust begegnet? Soll er etwa deshalb der Liebe seiner Liebespartnerin verlustig gehen, wenn er mit jener im Grase gescherzt hat?

Wir können gewiss eine eindeutige Antwort geben und lehren, dass deswegen der Liebhaber nicht für unwürdig der Liebe seiner Liebespartnerin gilt, außer wenn er vielleicht öfter solche Übertretungen mit mehreren begeht, nämlich dergestalt, dass sexuelle Unersättlichkeit bei ihm vorausgesetzt wird." (207 Knapp)
...

Zweisprachige Ausgabe
Andreas Capellanus
De amore / Von der Liebe
Libri tres / Drei Bücher (lat./dt.). Text nach der Ausgabe von E. Trojel.
Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Fritz-Peter KNAPP
X, 669 Seiten. 6 Abb. Leinen.
ISBN 978-3-11-017915-6
Berlin: De Gruyter 2006
->   De Gruyter: De amore (lat./dt.)
...
...

Deutsche Übersetzung: Studienausgabe
Andreas Capellanus
Von der Liebe. Drei Bücher

Übersetzung mit Anmerkungen und Nachwort von Fritz-Peter KNAPP

IX, 365 Seiten. Broschur.
ISBN 978-3-11-017927-9
Berlin: De Gruyter 2006
->   De Gruyter: Studienausgabe (dt.)
...
...

Deutsche Übersetzung
Andreas Capellanus
Über die Liebe (De amore). Ein Lehrbuch des Mittelalters über Sexualität, Erotik und die Beziehungen der Geschlechter
Eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Fidel RÄDLE
(Bibliothek der Mittellateinischen Literatur, hrsg. von Walter Berschin, Bd. 1)

LIV, 277 Seiten, 4 Farbabb., Gebunden.
ISBN 978-3-7772-0600-4
Stuttgart: Anton Hiersemann 2006
->   Hiersemann-Verlag
...
->   Alle Beiträge von Christian Gastgeber in science.ORF.at
 
 
 
ORF ON Science :  Christian Gastgeber :  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick