Christian Gastgeber
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Patrik Ouredník: Woran die Anarchie scheitert ...  
  Der tschechische Schriftsteller Patrik Ouredník illustriert mit seinem neuen Roman "Die Gunst der Stunde, 1855" in amüsanter Weise, woran die Idee einer anarchischen Kommunengründung scheitert - letztlich sind es halt doch Menschen ... Am Mittwoch, 11. 4, 19.00 Uhr, präsentiert er das Werk persönlich in der Österreichischen Nationalbibliothek.  
Der Blick auf die Historie

Mit seinem neuen Buch, das eine Mischung aus Brief an die verflossene Geliebte und Tagebuch darstellt, vom Autor selbst als Roman tituliert, schließt der tschechische Autor Patrik Ouredník an seine früheren Werke an, allen voran an seinen sensationellen Erfolg "Europeana. Eine kurze Geschichte Europas im zwanzigsten Jahrhundert".

Diese originelle Betrachtung auf das Europa des vorigen Jahrhunderts ist bislang in 20 Sprachen übersetzt worden, auf Deutsch liegt es in einer Übersetzung von Michael Stavaric im Wiener Czernin-Verlag vor. Europeana wurde in Tschechien zum Buch des Jahres 2001 gewählt. Gerade die Auseinandersetzung mit dem sich erinnernden Individuum in einem totalitären System thematisiert Ouredník in "Das Jahr Vierundzwanzig" (ebenfalls von M. Stavaric für den Czernin-Verlag übersetzt).

Ouredniks neuer Roman verdankt seine deutsche Version (durch M. Stavaric) der verstärkt osteuropäischen "Literaturschiene", der sich der neue Residenz-Verlag in St. Pölten verschrieben hat, um literarische Zimelien des Ostens bekannt zu machen.
->   Info zu Europeana (Czernin-Verlag)
Patrik Ouredník

Ouredníks Jugendzeit ist vom Umfeld totalitärer Einengung geprägt. 1957 in Prag geboren (Mutter Französin, Vater Tscheche), wächst er zweisprachig auf, seinen Lebensunterhalt verdient er als Buchhändler, Briefträger und Lagerarbeiter. Mit 28 Jahren weicht er dem Druck des kommunistischen Regimes und emigriert 1985 nach Paris, wo er bis heute lebt und Vorlesungen zur tschechischen Literatur hielt.

Literarisch trat er als Übersetzer französischer (u.a. Rabelais, Jarry, Vaché, Queneau, Béalu, Michaux) und tschechischer Literatur (Vladislav Vancura, Bohumil Hrabal, Miroslav Holub und Jiri Grusa) auf. Zudem publizierte er eigene Werke: Prosa, Enzyklopädien und Gedichte. Die subtile Auseinandersetzung - gerade als Übersetzer - mit der tschechischen Sprache ging etwa in sein "Schmierbuch der tschechischen Sprache" (1992) ein.

So lässt sich sein Oeuvre summarisch auch folgendermaßen charakterisieren: sprachlich perfekter Umgang, humorvoll-ironische Sichtweise, philosophischer Tiefgang, prägnant pointierte Darstellung, Verarbeitung der eigenen Erfahrung eines totalitären Staates.
Der neue Roman: Die Gunst der Stunde, 1855
Im Zentrum des neuen Werkes steht ein Genueser Arzt, der u.a. in Wien weilte, dort von der ersehnten Geliebten verschmäht wurde und nach einer weiteren Odyssee die Idee zur Auswanderung aus Europa nach Südamerika reifen ließ.

Der Plan sah vor, in Brasilien mit Gleichgesinnten aus Europa eine anarchische Kommune zu gründen, wie es deren schon einige gab. Den Zwängen des Staates wollte man sich entziehen, Freiheit in jeder Hinsicht wurde propagiert.

Im ersten Teil des Buches erläutert der Erzähler seiner Verflossenen - neben seiner Liebesbeteuerung und einen bemerkenswerten Seitenhieb auf den literarischen Betrieb - seine philosophisch-weltanschauliche Grunddisposition. Geschrieben ist der Brief als Retrospektive eines gescheiterten Projektes nach mehrjährigem Kommunenleben und einer enttäuschten Rückkehr nach Italien. Der zweite Teil notiert im Tagebuchstil die Ereignisse, die mehr und mehr die Freiheitsidee ironisieren.
Besprechung zur freien Liebe
"Die Mehrheit von uns Italienern sind Anarchisten, aber die Franzosen sind mehrheitlich Kommunisten und berufen ständig Sitzungen ein. ... Sitzungen berufen sie immer dann ein, wenn sich irgendwer in die Wolle kriegt, also fast jeden Tag. ... Gorand sagte angeblich, dass eine Abkehr von der Ehe und die Frauen in unserer Kolonie nicht dazu dienen sollen, seine Triebe zu befriedigen, sondern eine neue Generation von Kindern hervorbringen müsse, die in sich die besten Eigenschaften ihrer Eltern vereinen.

Umberto antwortete ihm angeblich, seine beste Eigenschaft sei die, dass er Frauen möge und dass dies bei Männern das Wichtigste sei, sonst hätte es doch gar keinen Sinn, Kolonien zu gründen. Gorand sagte, dass dies die typische Haltung eines Italieners und Anarchisten sei, und Decio mischte sich ein und sagte, dass Anarchie ein bisschen etwas anderes sei als das, was sich Gorand darunter vorstelle, und dass der Kommunismus den Leuten ständig etwas vorschreiben wolle.

Gorand sagte, dass er schon seit acht Jahren Kommunist sei und dass ihm nicht irgendein Anarchist erklären werde, was Kommunismus bedeute. Und er sagte, dass der Kommunismus für Liebe stünde, aber nicht so eine, wie sich das die Italiener und Anarchisten vorstellten. Und dass der erste Kommunist eigentlich Jesus Christus gewesen sei, ein Junggeselle. Decio sagte, dass er Jesus Christus nicht persönlich kenne ..." (64-66)
Wer trifft die Entscheidung?
"... und dass es am allerbesten wäre, wenn alle Anarchisten und diejenigen, die mit ihnen sympathisieren, auf der ganzen Welt Kolonien gründen, in denen es keinerlei Autoritäten gibt, wo die Menschen sich dennoch harmonisch und frei entwickeln können, weil die Meinung jedes Einzelnen respektiert wird, und das würde dann dazu führen, dass die Menschen, die in Ländern unter der Regentschaft von Herrschern leben, schlicht und einfach damit aufhören, diesen zu gehorchen.

Aber wenn alle Meinungen gleich viel wert sind, wie wird man dann Entscheidungen treffen? Auch zu der Einsicht, dass die Mehrheit entscheiden soll, muss doch irgendjemand gekommen sein, irgendein Intellektueller oder Philosoph, und der, der als Erster zu dieser Einsicht gelangt ist, ist zu jenem Zeitpunkt der einzige gewesen, der so dachte. Mir fiel auch eine andere Sache auf: Menschen, die von sich glauben, dass sie frei sind, sind sich niemals in irgendetwas einig, während Menschen, die das nicht glauben, sich fast immer auf alles einigen." (118)
Erziehung und Unterricht
"Die Kinder gehen sehr unregelmäßig zur Schule, weil sie über dieselben Rechte verfügen wie Erwachsene, und niemand kann sie zwingen. Zeffirino schlug vor, dass der Schulbesuch für Kinder bis zwölf verpflichtend sein sollte, da die Bildung eine der Stützen der Aufklärung sei, und dass alle über die gleiche Bildung verfügen sollten, weil es das Kollektiv stärke.

Decio war dagegen und sagte, dass das Leben selbst die beste Erziehung sei, nicht die Schule und dass gleiche Bildung für alle eine Erfindung der Kommunisten sei, die sich in Wahrheit nur danach sehnen, alle einander gleich zu machen, und das nennen sie dann Kollektiv. Zeffirino antwortete, dass ein Kollektiv ein Verein von Leuten sei, die sich gegenseitig respektieren, weil sie gemeinsame Interessen haben, und damit sie gemeinsame Interessen haben, müssen sie zunächst eine kollektive Erziehung erfahren.

Zeffirino sagte, dass Leute wie Decio keine wirklichen Anarchisten seien, dass er das Individuum über die Gesellschaft stelle, und das sei eine falsche Auslegung von Anarchie, dass es eigentlich ein Ausdruck aristokratischer Überheblichkeit wider das Leben und vielleicht sogar Dekadenz sei. Und dass wir umsichtig sein müssten, denn so verstanden könne Anarchie in Tyrannei und in den Verfall der Zivilisation münden. Herr Crisson sagte daraufhin, dass nicht belegt sei, dass Tyrannei zu einem Verfall der Zivilisation führe und dass sie im Gegenteil den Keim einer entwickelteren Zivilisation in sich tragen könne ..." (147-148)
An die Literaturkritiker
"Ich habe, Madame, keinesfalls im Sinn, mich den Ansprüchen der gegenwärtigen Literatur zu beugen, die ihren Autoren nur unterhaltsame Ungeheuerlichkeiten aus ihrem Privaten abverlangt; und ich habe auch nicht im Sinn, mich denjenigen zu beugen, die sich Literaturkritiker nennen, diesen Benediktinern der Eitelkeit, diesen schwankenden Gemütern, die in Büchern nach Sätzen suchen, die sie dann dazu verwenden, die Wahrheit zu beschneiden, ihr Licht unter modischen Überwürfen der Psychologie und der Literaturwissenschaft zu dämpfen."
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Lesung in der Österreichischen Nationalbibliothek
Literatursalon Österreichische Nationalbibliothek

Michael Stavaric liest aus Patrik Ouredník neuem Roman "Die Gunst der Stunde, 1855" in Anwesenheit des Autors
Einleitung: Jirí Grusa (Präsident des internationalen PEN-Clubs)
In Kooperation mit Residenz-Verlag
Moderation: Barbara Tóth

Mittwoch, 11. April 2007
Oratorium (Josefsplatz), 19 Uhr
Eintritt frei
->   Literatursalon ÖNB
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Die Gunst der Stunde, 1855
Roman

Aus dem Tschechischen von Michael Stavaric
Residenz-Verlag
St. Pölten 2007
190 Seiten

EUR 17,90 / sFr 30,70
ISBN: 3701714711
ISBN: 9783701714711
->   Infos zum Buch
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Patrik Ouredník auf Radio Prag
Interview mit Michael Stavaric zu "Europeana"
->   Radio Prag
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->   Residenz-Verlag, St. Pölten
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->   Czernin-Verlag, Wien
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->   Jirí Grusa: Portrait des Pen-Clubs
->   Michael Stavaric: Portrait und Publikationen
->   Botschaft der Tschechischen Republik in Wien
 
 
 
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