Christian Gastgeber
Österreichische Nationalbibliothek
BIBLOS-Redaktion und Österreichische Akademie der Wissenschaften, Institut für Byzanzforschung
 
ORF ON Science :  Christian Gastgeber :  Gesellschaft 
 
Die Österreichische Nationalbibliothek in der NS-Zeit  
  Die Buch(handels)historiker Murray G. Hall und Christina Köstner haben in einem zweijährigen Forschungsprojekt des Wissenschaftsfonds FWF die Geschichte der Nationalbibliothek von 1938 bis 1945 aufgearbeitet.  
Die Aufarbeitung der NS-Zeit

Parallel mit dem Provenienzbericht der ÖNB, der eine - sich über viele Jahre hinziehende - Überprüfung der einsignierten Bestände nach NS-Raubgut 2003 zu einem definitiven Abschluss brachte, begann die wissenschaftliche Auswertung und Aufarbeitung der NS-Zeit unter Direktor Paul Heigl sowie der Praxis des Büchererwerbs aus geplünderten jüdischen Bibliotheken und aus Kriegsbeute.

Analysiert wurden erstmals die Quellen der Bücherzuwächse, der Bibliotheksalltag; detaillierter Einblick wird auch in die jeweilige Sammlungsgeschichte in der NS-Zeit gegeben. Mit reichem, erstmals ausgewertetem Material wurde das Profil einer staatlichen Institution mit einem NS-Bibliomanen an der Spitze nachgezeichnet.
->   Zum Restitutionsgesetz (BGBl. Nr. I, 181/1998)
Absetzung des Generalddirektors Josef Bicks

Josef Bick in der Camera praefecti (nach 1945)
Josef Bick (seit 1926 Generaldirektor der Nationalbibliothek) wurde unmittelbar nach dem Anschluss Österreichs auf Veranlassung des Reichstatthalters Arthur Seyß-Inquart abgesetzt. An seine Stelle wurde der an der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin tätige Paul Heigl berufen.

Am 16. März 1938 erschien Heigl im Direktorenzimmer und forderte Bick zur Räumung des Büros auf. Als NS-Gegner und CV-Mitglied wurde Bick sogleich nach der ausgesprochenen Kündigung verhaftet und ins KZ Dachau sowie dann ins KZ Sachsenhausen gebracht. Erst am 28. August 1938 wurde er entlassen, stand aber weiter unter Aufsicht und durfte nicht nach Wien (er blieb in seiner Heimatgemeinde Piesting). Nach dem Ende der NS-Zeit wurde ihm - von der NS-Zeit schwer gezeichnet - am 30. Juni 1945 noch für einige Jahre die Generaldirektion der Österreichischen Nationalbibliothek übertragen, bis er 1952 an den Folgen eines Schlaganfalls verstarb.
->   Josef Bick (Wikipedia)
Generaldirektor Paul Heigl: NSDAP- und SS-Mitglied
1887 in Maribor (Slowenien) geboren, verbrachte Heigl seine Jugendzeit in Innsbruck, Trient und Triest, studierte in Graz und München (1906-1910) und belegte eine Archivarausbildung am Institut für Österreichische Geschichtsforschung (IFÖG). 1912 wurde er nach abgelegter Staatsprüfung Praktikant der UB Wien am IFÖG.

Im 1. Weltkrieg nahm Heigl an der serbischen und italienischen Front und in Tirol teil. 1918-1934 war er wieder als Bibliothekar des IFÖG tätig. 1933 trat er der NSDAP und SS bei, weswegen er 1934 wegen hochverräterischer Betätigung für die NSDAP inhaftiert wurde. Durch Kontakte nach Deutschland wurde er nach rund einem Jahr Haft als politischer Flüchtling ins Deutsche Reich abgeschoben.
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Literaturhinweis
Manfred STOY: "Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung 1929-1945", Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 50

Wien, München: Oldenbourg 2007
423 Seiten, 16 Tafeln
ISBN 978-3-486-58173-7
->   Info zum Buch
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Heigls Bibliotheksführung

Josefsplatz mit Löschwasserbassin, 1944
Mit Heigls Übernahme der Nationalbibliothek am 16. März 1938 begann eine Personalrochade, um gegen das "spießbürgerlich", NS-kritische Personal (durch Josef Bick gefördert) mit neuen Kräften ("Blutzufuhr") aus dem Altreich aufzurüsten. Politische Gleichschaltung wurde durch Kündigungen und Zwangspensionierungen erzwungen.

Ab 1938/1939 wurden die Nürnberger Rassengesetze mit entsprechenden Verboten auch in der Nationalbibliothek angewandt, am Haupteingang musste ein Schild "Juden ist der Eintritt verboten" angebracht werden.

In den folgenden Jahren sollte der Bibliothekar aus Leidenschaft mit immer größerer Deutlichkeit selbst in seinem kleinen bibliothekarischen Umfeld infolge der Verluste seines (wissenschaftlichen) Personals bis hin zu den Kriegsschäden an seiner geliebten Bibliothek den Zusammenbruch des NS-Regimes miterleben - dennoch blieb er dem Regime und der Ideologie bis zum Schluss ergeben. Den Konsequenzen der Alliierten entzog er sich am 8. April 1945 mit seiner Frau durch Selbstmord.
Die Bücherverwertungsstelle in der Dorotheergasse 12

Dorotheergasse
Mit dem Einmarsch Hitlers wurde in kürzester Zeit die Nazifierung wie in allen Bereichen so auch im kulturpolitischen Bereich umgesetzt - systematisch vorbereitet in der Verbotszeit. So waren bereits zuvor Karteien der gegnerisch eingestellten Verlage, Redaktionen und Buchhandlungen angelegt, gegen die sofort mit der Machtübernahme eingeschritten wurde. Die Lager wurden leer geplündert, vom April bis Mai 1938 wurden rund 130 Tonnen Buch- und Aktenmaterial nach Berlin transportiert.

In Wien wurde im geräumten Sitz der Freimaurer-Loge Humanistas in der Dorotheergasse 12 (1010 Wien) eine Bücherverwertungsstelle eingerichtet, in der alle geraubten Bücher aufgenommen wurden, ehe sie weiterverteilt wurden. Bis Ende September 1938 waren es 130.000 Bände, womit ein Platzlimit erreicht war. Ende 1938 richtete die Nationalbibliothek unter freier Auswahl des Materials eine Lagerdependance ein. In erster Linie sollten mit dem Raubgut die Deutsche Bücherei Leipzig, die Nationalbibliothek, die Preussische Staatsbibliothek in Berlin und die Bayerische Staatsbibliothek in München bestückt werden.
Die Opfer

Synagoge von Triest, 1945
Zu den Raubopfern zählen u.a. die Freimaurer-Logen in Wien (für das Freimaurer-Schrifttum wie für Judaica zeigte Heigl ganz besonders großes Interesse im Sinne einer Sammlung des "Feindmaterials"), der Phaidon-Verlag, der Herbert-Reichner-Verlag (Stefan Zweigs Verleger), Paul Zsolnay, Gottfried Bermann Fischer (Goebbels bediente sich an seiner Goethesammlung).

Insgesamt wurden von September 1938 bis Mai 1939 von der Bücherverwertungsstelle ca. 550.000 Bände abtransportiert, ca. 400.000 Bände wurden makuliert. 54.000 befanden sich im Mai 1939 in der Nationalbibliothek. Mit Hitlers Expansionskrieg trachtete Heigl auch in den Verlagshäusern und Bibliotheken der überfallenen Gebiete für die NB Bücher zu requirieren, so aus dem Bestand des serbischen Verlegers Geca Kon und aus Triest (auch an andere Stellen verteilt).
NS-Literatur im Bibliotheksbestand nach 1945

Räumung des Prunksaals 1943
Als Josef Bick nach dem Ende der NS-Herrschaft wieder zum Generaldirektor berufen wurde, erhielt er den Auftrag, den Buchbestand zu entnazifizieren und das nicht makulierte Material für die Benützung zu sperren. Zugleich wurde die Bibliothek Sammelstelle aller NS- und anti-alliierter Schriften aus sämtlichen öffentlichen Bibliotheken, Leihbüchereien und Buchhandlungen in Wien und Niederösterreich.

1946 erschien vom Unterrichtsministerium eine "Liste der gesperrten Autoren und Bücher". Aus den Beständen der NB wurden rund 18.000 Bände entfernt. 1955 wurde auf mehrmalige ministerielle Anfrage die Sperre wieder aufgehoben. Als Sammelstelle für NS-Literatur kamen von April 1945 bis Dezember 1948 244.337 Bände und 3.606 Broschüren und Hefte an die Bibliothek.
Vice versa: Raubgut der Roten Armee

Pehlevi (über griechischer Schrift geschrieben)
Die Papyrussammlung der Nationalbibliothek besaß knapp 600 Objekte mit Pehlewi-Schrift (Persisch). 576 gingen 1936 zur Restaurierung nach Berlin. Es kam weder zur Restaurierung noch zu einer geplanten Zusammenführung möglicher Parallelobjekte in Berlin.

1945 wurden die Objekte geplündert. 1957 zeigte der Direktor der Berliner Papyrussammlung dem Leiter der Wiener Papyrussammlung Herbert Hunger in Ostberlin 20 Pehlewi-Papyri in den Papierumschlägen aus Wien. Es begannen Rückgabegespräche. 1982 konnten sie von dem Direktor der Wiener Papyrussammlung Hermann Harrauer in Berlin abgeholt werden.

1990 meldete der deutsche Iranist Dieter Weber, von einem englischen Kollegen informiert worden zu sein, dass die gesuchten Pehlewi-Papyri in Leningrad / St.Petersburg liegen. 1992 besprach Harrauer mit dem Direktor der Eremitage die Angelegenheit vor Ort und durfte alle Objekte sehen. Die nachfolgenden Bemühungen mit Moskau zur Rückgabe scheiterten bislang an erfolglosen Gesprächen der obersten Politik, wiewohl die Eremitage der Rückgabe zugestimmt hat und die entsprechenden Modalitäten bereits abgeklärt waren.

[12.9.07]
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Der Projektbericht
Murray G. HALL, Christina KÖSTNER:
"... allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern ..."
Eine österreichische Institution in der NS-Zeit

Wien: Böhlau 2006.
617 Seiten, 142 s/w-Abb.

ISBN 3-205-77504-X
ISBN-13: 978-3-205-77504-1
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->   Österreichische Nationalbibliothek
->   Provenienzbericht der ÖNB
->   Zur Person: Murray Hall
->   Geraubte Bücher in der NS-Zeit (Ausstellung)
->   Gesellschaft für Buchforschung in Österreich
->   Literaturblatt: Erforschung der NS-Zeit in der ÖNB
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Buchtipp zur Verlags- und Buchhandelsgeschichte
Gerhard RENNER, Wendelin SCHMIDT-DENGLER (Hg.)
Buchforschung und Literaturgeschichte.
Festschrift für Murray G. Hall zum 60. Geburtstag

Wien: Praesens Verlag 2007
brosch., ca. 400 S.
ISBN 978-3-7069-0476-6

Das Themenspektrum des Bandes reicht von der Druckerei der Wiener Mechitharisten über Buchgestaltung und Buchillustration zu Untersuchungen zu einzelnen Verlagen (Wiener Verlag, Globus Verlag), die Verbindung von Buch- und Kunsthandel bis zu Lese- und Publikationserfahrungen von Karl Kraus und Elias Canetti.
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