Peter Höller
Bundesamt und Forschungszentrum für Wald, Institut für Lawinen- und Wildbachforschung, Innsbruck
 
ORF ON Science :  Peter Höller :  Umwelt und Klima 
 
Umstritten: Die Stabilität von Schneedecken  
  Die Wetterentwicklung der letzten Tage hat die Lawinengefahr in den Alpen stark erhöht. Ein entscheidender Faktor, um das Risiko von Lawinen abzuschätzen, ist die Stabilität der Schneedecken. Analysen von Experten haben ergeben, dass diese auf Hängen sehr unterschiedlich ausfallen kann - über das genau Ausmaß dieser Variabilität sind die Meinungen allerdings geteilt, wie ein Überblick über die einschlägige Diskussion zeigt.  
Frühere Studien zeigten starke Unterschiede
Conways Untersuchungen zeigten, dass die basale Scherfestigkeit von Schnee auf geringen Distanzen (0.5 m) stark variieren kann. Dies war das Resultat seiner Messungen, die er an der Anrissstirn losgebrochener Lawinen mit modifizierten Scherrahmentests (der Schneeblock oberhalb der Schwachschicht wurde bis zur Oberfläche stehen gelassen) durchgeführt hat.

Es durfte somit angenommen werden, dass der untere Teil einer Lawine sowohl Zonen enthält, wo die Scherfestigkeit die Scherspannungen infolge Schwerkraft übertrifft, als auch Schwächezonen dazwischen (deficit areas), wo die Scherfestigkeit geringer ist als die Scherspannungen infolge Schwerkraft.

Conways Erkenntnisse ließen den Schluss zu, dass in einem Hang Zonen mit niederer Scherstabilität (unter Eigengewicht) mit stabilen Zonen abwechseln.
Umdenken im Zusammenhang mit der Lawinenbildung
Die Erhebungen waren unter anderem Auslöser dafür, dass man in der Folge ein differenzierteres Bild über den Lawinenanbruch bekam als in der Vergangenheit angenommen wurde.

Salm schreibt in einem 1986 erschienen Artikel, dass in einem Hang offenbar "Taschen" mit einer Ausdehnung von einigen Metern existieren, in welchen das Eigengewicht nicht direkt auf den Boden übertragen werden kann (und somit von benachbarten stabilen Zonen übernommen werden muss).
Unregelmäßige Stabilitätsverteilung in einem Hang
Die Gefahren für den Tourengeher liegen also vor allem in diesen "Taschen", wo die Scherstabilität weniger als 1 beträgt. Diese unregelmäßige Stabilitätsverteilung in einem Hang wurde auch als Grund dafür angesehen, dass Ergebnisse von Schneedeckenuntersuchungen nicht beliebig von einem Punkt auf den anderen übertragen werden können.

Salm folgert, dass man aus Punktmessungen in der Schneedecke zu falschen Schlüssen kommen kann, weil man bei solchen Messungen eine große Chance hat die wirklich kritischen Stellen zu verfehlen.
Ist die Variabilität nun doch geringer ...
Schweizer berichtet nun darüber, dass die Annahme, die Schneedeckenstabilität ändere sich drastisch von einem zum anderen Meter resp. die Stabilität sei zufällig verteilt, noch nicht eindeutig bestätigt werden konnte (trotz verschiedenster Untersuchungen zu diesem Thema) und wirft die Frage auf, ob nicht vielleicht das Ausmaß der Variabilität in der Vergangenheit etwas überschätzt wurde.

Wird ein Hang komplett mit Hilfe von Rutschblocktests untersucht, so zeigt sich, dass die Ergebnisse zwar variabel sind, aber nicht zufällig; die meisten Rutschblocktests unterscheiden sich zumeist nicht mehr als um ±1 Stufe.
... als in der Vergangenheit angenommen?
Wiesinger weist auf Messungen in der Schweiz hin, welche zeigen, dass die kleinräumige Variabilität relativ gering ist (zwei Tests nebeneinander erzielen meist ähnliche Ergebnisse), dass aber bei Tests, die in 10 - 20 m Entfernung aufgenommen wurden, manchmal recht unterschiedliche Ergebnisse resultieren können.

Nach seinen Ausführungen kann man versuchen die Stabilität eines Hanges auf ähnlich Hänge zu extrapolieren, vorausgesetzt man hat die Erfahrung in der Standortwahl bei Schneedeckenuntersuchungen.
Diskussion entbrannt - neue Präzisierungen
Diese Berichte haben naturgemäß eine intensive Diskussion unter Lawinenexperten ausgelöst, insbesondere die Frage, wie kleinräumig die Variabilität wirklich ist, resp. ob eine Übertragung der Stabilität von einem Hang auf einen ähnlichen Hang möglich ist.

Conway hat in einem zuletzt veröffentlichten Artikel seine Untersuchungen präzisiert sowie auf andere in der Vergangenheit durchgeführte Erhebungen verwiesen, aus denen hervorgeht, dass Lawinen von Schwächezonen (deficit areas) mit nur einigen Metern Länge ausgelöst werden können.

Er bestätigt zwar, dass seine Versuchsdurchführung gewisse Begrenzungen aufweist (z.B. wäre es besser - aber auch gefährlicher - gewesen, die Tests in der Mitte des instabilen Hanges durchzuführen und nicht an der Anrissstirn der Lawine), weist aber darauf hin, dass die Messungen eindeutig beträchtliche Variabilitäten über kurze Distanz zeigen.
Schlussfolgerungen
Diese Überlegungen und Diskussionen scheinen für den Praktiker und Tourengeher zunächst etwas verwirrend; es steht aber außer Zweifel, dass die Variabilität der Schneedeckenstabilität nicht wegdiskutiert werden kann, Unklarheit herrscht derzeit bezüglich der Kleinräumigkeit der Variabilität und hier wird es sicher noch weiterer Untersuchungen bedürfen, um das vorhandene Wissen auf diesem Gebiet zu verbessern.

Schneedeckenuntersuchungen werden auch zukünftig einen wichtigen Stellenwert bei der Bewertung der Lawinengefahr einnehmen, insbesondere der Rutschblock stellt nach wie vor das Werkzeug bei der Beurteilung der Schneedeckenstabilität dar.

Er erfordert jedoch entsprechende Erfahrung sowie sehr gute schnee- und lawinenkundliche Kenntnisse (schon alleine deshalb um die Resultate richtig zu interpretieren). Wenig erfahrene Personen sollten nach Ansicht des Autors aber keinesfalls den Versuch unternehmen die Stabilität eines Hanges auf ähnliche Hänge zu extrapolieren.
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Literatur
Conway, H.; J.Abrahamson, 1984: Snow Stability Index. Journal of Glaciology, Vol.30, No. 106. 312-327.
Conway, H., 2003: Spatial Variability Revisited. The Avalanche Review, Vol.22, No.1, 12-13.
Salm, B., 1986: Möglichkeiten und Grenzen bei der Einschätzung des Lawinenrisikos. Sicherheit im Bergland, Jahrbuch 1986 des österreichischen Kuratoriums für alpine Sicherheit, 161-180.
Schweizer, J. 2002: The Rutschblock Test. The Avalanche Review, Vol. 20, No. 5, 14-15.
Schweizer, J. 2002: Zufall und Muster ¿ Die Variabilität der Schneedecke in neuem Licht. Berg&Steigen 4/02, 53-56.
Wiesinger, T. 2003: Der Stellenwert von Schneedeckenuntersuchungen und Risikoreduktionsmethoden in der Lawinenausbildung der Österreichischen Berg- und Schiführer. Sicherheit im Bergland, Jahrbuch 2003 des österreichischen Kuratoriums für alpine Sicherheit, 183-192.
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