Host-Info
Herbert Hrachovec
Institut für Philosophie, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Herbert Hrachovec :  Gesellschaft .  Leben 
 
Wahrheit in Nervenbündeln ?  
  Was ist Wahrheit? Und welche wissenschaftlichen Disziplinen sind überhaupt dazu geeignet, diese Grundsatzfrage zu beantworten? Nicht unwidersprochen bleibt in diesem Zusammenhang etwa der Anspruch der Neurowissenschaften, von Erregungsmustern im Gehirn verlässlich auf Denkinhalte schließen zu wollen.  
Wissenschaft ist kritische Überprüfung
Wissenschaft beruht auf der kritischen Überprüfung von Behauptungen. Darin liegt eine entscheidende Voraussetzung für Erkenntnis. Die Diskussion der dabei gültigen Kriterien und Verfahren wird traditionell der Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsforschung und Philosophie zugeordnet.

Eine kürzlich erschienene Nummer der "Deutschen Zeitschrift für Philosophie" (2/2004) diskutiert die Ansprüche einer weiteren Disziplin:

"Zu fragen ist also, wie es mit der Verlässlichkeit und den Begrenzungen dieses kognitiven Apparates bestellt ist. Und diese Frage fällt in den Zuständigkeitsbereich der Neurobiologie." (Wolf Singer)
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Dem Thema Wahrheit widmet sich eine Vorlesung von Herbert Hrachovec, die im Wintersemseter 2004/05 gehalten und ab Freitag, 15.10.2004, von 10:00 bis 12:00 Uhr live im Internet gestreamt wird.
->   Zum Live-Streaming (während der Vorlesung)
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Schluss vom Muster auf den Inhalt
Das Argument beruht darauf, dass die Hirnforschung heute in der Lage ist, neuronale Erregungsmuster zu erfassen, die im Verhalten von Menschen in ihrer Umwelt entstehen. Einem Langhaardackel entsprechen gewisse Gehirnreizungen, die auf einen solchen Dackel reagieren.

Oder ist es umgekehrt? Sehen wir einen Dackel, weil unsere Nervenbahnen so verschaltet sind, dass bestimmte Reize vordringlich wirken? In beiden Fällen reklamieren die Neurobiologen (m/w) Expertenstatus.

Sie untersuchen - so das Angebot - inwiefern wir uns auf den Zusammenhang zwischen dem Kognitionsapparat (vulgo Gehirn) und der erkannten Welt verlassen können.
Problematischer Anspruch
Das ist ein problematischer Anspruch. Hier ein Beispiel zur Verdeutlichung. Jüngst ist bekannt geworden, dass das FBI hunderttausende Stunden abgehörter Information nicht übersetzen kann. Angenommen das Amt stellt genügend Dolmetscherinnen ein, um eine lückenlose englische Transkription all dieser Signale zu erreichen.

Das FBI verfügt dann über eine Masse von Information. Ist sie verlässlich? Kann man die Worte beim Wort nehmen? Vermutlich nur zum Teil und wo es darauf ankommt überhaupt nicht. Daten zu sammeln ist von begrenzter Wirkung.

Entscheidend ist die Auswertung und die kann sich nur beschränkt an Worten oder Reizmustern orientieren. Jemand verwendet "Langhaardackel" als Codewort für Tony Blair. Das geht aus dem Informationsfluss alleine nicht hervor.
Verlässlichkeit ist nicht nur Übersetzung
Verlässlichkeit umfasst bedeutend mehr, als Sicherheit der Übertragung und eine 1:1-Abbildung von der Quelle auf den Zielbereich. Die Hirnforschung klärt uns darüber auf, dass die evolutionäre Geschichte unseres Erkenntnisvermögens für zahlreiche "Verzerrungen" im Daten-Transfer zwischen Mensch und Umwelt verantwortlich ist.

Wir sind gewarnt. Aber diese Hinweise leisten keinen Beitrag zur Frage, wann wir Behauptungen mit guten Gründen vortragen können. Die Kenntnis von tausenden Stunden akustischer Produktion enthebt der Mühe nicht, die Bedeutung der daraus extrahierten Worte einzuschätzen.

So wenig die Übersetzerinnen sagen können, was die erfassten Sprachausdrücke in der Einzelsituation meinen und ob sie ernst zu nehmen sind, kann die Erfassung neuronaler Aktivitätsmuster die Aufgabe ersetzen, sich klar zu machen, mit welchem Recht etwas behauptet wird.
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Übermittlungstechnik und Wahrheitsbedingungen
Das eine Thema betrifft Fragen der Übermittlungstechnik, das andere Bedingungen für wahre Aussagen. Die Betrachtungsweisen schließen einander keineswegs aus. Mühsam wird es allerdings, wenn eine der beiden Seiten mit Übergriffen operiert. Das gibt Argumente der folgenden Art: "Wenn wir zusätzlich 500 Übersetzerinnen einstellen, verstärken wir die Sicherheit der USA", oder umgekehrt: "Die 'homeland security' erfordert einen Präsidenten, der sich seiner Sache sicher ist."
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Neurophysiologie vs. Begriffsgebrauch
Angewandt auf die Ansprüche der Neurobiologie: Nach Gerhard Roth kann man sagen, neurophysiologische Prozesse zeigten verlässlich an, dass eine Versuchsperson grün sieht.

Damit beruft er sich auf die Abbildung zwischen Umweltreizen und Nervenbündel. Philosophische Überlegungen zur Bedeutung von Sprachausdrücken halten dagegen, dass die Verständigung mit Hilfe des Wortes "grün" andere Probleme aufwirft: Begriffsgebrauch, Urteilsvermögen, kommunikative Kompetenz.

Zuerst ist anzugeben, warum und unter welchen Umständen wir etwas als grün auszeichnen, dann macht die Frage Sinn, ob es dafür hirnphysiologische Konstanten gibt. (Die Übersetzerinnen suchen nach Hinweisen für den Gebrauch von Bomben, nicht nach dem Wortmuster "Bombe".)
Wer soll die Frage nach Wahrheit verhandeln?
Auf einen Punkt gebracht dreht sich der Streit darum, ob die Wahrheit wissenschaftlicher Aussagen in Disziplinen verhandelt werden soll, die einen Schritt Distanz vom Wissenschaftsbetrieb einnehmen, oder ob im Gegenteil nur die Summe der einzelnen Wissenschaften geeignet ist, über ihre eigene Legitimation Auskunft zu geben.

Das erste Projekt läuft unter dem Titel "theoretische Semantik", das zweite unter "naturalisierte Erkenntnistheorie". Das sind zwei Fachausdrücke zur Verhandlung der Zuständigkeit für Wahrheitsfragen.

Bei ihnen setzt eine Vorlesung über Wahrheit an, die in diesem Wintersemester an der Universität Wien von mir gehalten und live ins Internet übertragen wird.
->   Philosophische Audiothek
->   Deutsche Zeitschrift für Philosophie
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Wo der Traum wohnt (10.9.04)
->   Das subjektive Reich der Sinne (24.2.04)
->   Wie entsteht die Welt im Kopf? (17.7.02)
 
 
 
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