Host-Info
Herbert Hrachovec
Institut für Philosophie, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Herbert Hrachovec :  Gesellschaft 
 
Bedingungen für Freiheit (1): Anfangen  
  Es gibt Hobbywinzer und Salonpreisträger. Eine Könnerin schöpft die Möglichkeiten ihres Metiers optimal aus und verbindet sie zu einem ausgereiften Produkt. In der Philosophie verhält es sich ebenso.  
Jürgen Habermas' Stellungnahme zum Thema "Hirnforschung und Willensfreiheit" ist eine souveräne Intervention. Sie spielt auf den nötigen Registern und bietet ein plausibles Bild davon, wie sich naturwissenschaftliche Forschung mit der Arbeitsweise der Kultur- und Gesellschaftswissenschaft verträgt.

In einer Hinsicht ist die Stellungnahme vielleicht zu perfekt. Sie fasst zahlreiche Fragestellungen zusammen und bietet Antworten, deren Gewicht erst aus den angeschnittenen Fragen einsichtig wird.
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Die überarbeitete Fassung des im November in der FAZ erschienenen Beitrags von Jürgen Habermas ist in der Nummer 6 des Jahrgangs 2004 der "Deutschen Zeitschrift für Philosophie" soeben erschienen. science.ORF.at fasste den Beitrag zusammen.
->   Habermas: Und den freien Willen gibt es doch (17.11.04)
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Willensfreiheit: Mehr als eine Prestigefrage
Im Thema Willensfreiheit überschneiden einander einige zentrale Bruchlinien des menschlichen Selbstverständnisses im naturwissenschaftlich-technischen Zeitalter. Ich werde sie in einer Folge von Beiträgen ansprechen und verdeutlichen, dass auf verschiedene Unterscheidungen kaum verzichtet werden kann, sofern verständlich werden soll, was Menschen tun.

Der Fokus "Willensfreiheit" wirft ein Schlaglicht auf einen begrifflich verwinkelten Bereich, dessen Erörterung mehr Spielraum benötigt, als die zugespitzte Prestigefrage "Neuronentrigger oder bewusstes Handeln?" zulässt.
Der "Anfang" als Umweg
Manchmal brauchen Gedanken Umwege. Ein begriffliches Requisit zur Diskussion der Willensfreiheit ist der Themenkreis "Anfang". Eine Handlung zeichnet sich ja unter anderem dadurch aus, dass sie beginnt (und endet). Die Debatte, wer oder was diesen Beginn bestimmt, baut auf der ersten Charakteristik auf.

Und dabei zeigt sich ein interessanter Zusammenhang. "Das neue Jahr beginnt" - wie macht es das? Ein astronomischer Ablauf wird durch die Brille eines Systems zur Zeiteinteilung gesehen und als eine Art "Akteur" angesprochen.

Ähnlich verhält es sich mit Ausdrücken wie "der Ausbruch der Grippewelle" oder "die Wiederholung der Melodie". Gegeben ist ein mikrobiologisches bzw. akustisches Ereignis und eine Perspektive, aus der es einem Einschnitt unterliegt. (Bazillen kennen den Verlauf von Epidemien nicht.)
Kontinuum und äußere Intervention
Viele Anfänge sind von dieser Art: gemischte Hinsichten, die einerseits ein Kontinuum voraussetzen und es, zweitens, durch eine Intervention von außen strukturieren. Im Theatersaal verlöschen die Luster, der Vorhang hebt sich, das Drama beginnt. Das ist der eingespielte Verlauf, es kann auch vorkommen, dass es keinen Vorhang (oder keine Bühne) gibt und die Beleuchtung unverändert bleibt.

Das ändert nichts daran, dass wir - sollte es sich um eine Theaterstück handeln - den Beginn der Vorstellung an einen Zeitpunkt binden. Auch wenn er nicht exakt zu fassen ist, das Stück (das Jahr, die Grippewelle) hat einen Anfang, anders ist es nicht als Theaterstück auszumachen.

Und es hilft nur ein Stück weit, diese Eigenschaft mit einem Faktum (oder Zeitmoment) zu identifizieren, das nicht von der Einschätzung der Beteiligten abhängt.
Laute ändern sich im Sprachkontext
In meiner Dissertation untersuchte ich sprachliche Abläufe mit Hilfe des "Sonagraphen", eines Gerätes zur Visualisierung der Frequenzverteilung akustischer Eingaben. Es stellte sich heraus, dass unsere Vokale und Konsonanten nicht wie die Kugeln einer Kette nebeneinander aufgefädelt sind.

Sie nehmen im Artikulationsverlauf je nach Sprachkontext unterschiedliche Formen an. Das Aussehen eines Dentallautes wird vom Vokal beeinflusst, der ihm nachfolgt. "T-isch" sieht anders aus, als "T-ür". Das Frequenzbild zeigt, dass ein Vokal schon "begonnen" hat, bevor er syntaktisch erforderlich und hörbar wird.
Vorschlag zwischen zwei Welten
Die eine Seite ist ein Klangereignis, die andere ein klassifikatorisches System. Dazwischen liegt eine Marke eigentümlicher Beschaffenheit, die Folge einer Projektion von Ordnung auf ein Geschehen, das ohne eine derartige Ordnung gedacht wird. Die Marke nennt sich beispielsweise "hier beginnt der Vokal" und ist ein Vorschlag zwischen zwei Welten.

Das Experiment, welches die aktuelle Debatte über Willensfreiheit provoziert hat, operiert mit Zuschreibungen von "Anfang" an einen Reizverlauf. Demnächst mehr darüber.

[11.1.05]
->   "Deutsche Zeitschrift für Philosophie"
->   Alle Beiträge von Herbert Hrachovec in science.ORF.at
Aktuelles zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Warum Hirnforscher am freien Willen zweifeln (19.11.04)
->   Manifest: Was die Hirnforschung (nicht) wissen kann (17.10.04)
 
 
 
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