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Herbert Hrachovec
Institut für Philosophie, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Herbert Hrachovec :  Gesellschaft 
 
Bedingungen für Freiheit (3): Können  
  Es gibt eine Auffassung von Freiheit, die in Versuchsanordnungen auftritt und deren Manifestation sich messen lässt. Hier ein Gedankenexperiment.  
Theodor bäckt Lebkuchen. Sie liegen vor ihm am Kuchenblech, daneben eine Schale mit Mandeln.

Er kann einen Kern zur Dekoration auf die Lebkuchen setzen. Kandierte Kirschen kann er nicht dazu verwenden, sie fehlen in der Küche. So gesehen ist er nicht frei zu dieser Handlung.
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Dieser Artikel ist Teil einer fünfteiligen Serie zum Thema "Willensfreiheit". Bisher erschienen:
Bedingungen für Freiheit (1): Anfangen
Bedingungen für Freiheit (2): Das Experiment
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Spezielles "Können" wird benötigt
Ernst Tugendhat hat (in Anknüpfung an G.E. Moore) darauf aufmerksam gemacht, dass wir für das vorliegende Thema einen speziellen Begriff von "können" benötigen.

Angenommen, neben dem Kuchenblech stehen Schalen mit Mandeln und mit kandierten Kirschen. Dann erhält die Aussage "Er kann Mandeln zur Dekoration verwenden" einen neuen Sinn. Es könnten auch Kirschen sein.

So entsteht die Frage: Was ist der Spielraum, der zwischen zwei Handbewegungen angenommen wird? Theodor dekoriert Lebkuchen, indem er einmal zu Mandeln und dann wieder zu Kirschen greift. Wo liegt seine Freiheit?
Freiheit gemäß Umgebung
Nun: darin, dass er das eine oder andere tun kann. Mandeln und Kirschen sind vorhanden, niemand zwingt ihn zu einer Alternative, es ist seinem Belieben überlassen. Messungen ergeben vielleicht, dass beim flinken Kuchenbacken das "Bewusstsein" erst nach der "Vorbereitung des Griffs zum Mandelkern" auftaucht.

Der entscheidende Punkt ist damit nicht berührt: von Freiheit sprechen wir, wenn die ganze Umgebung dementsprechend eingerichtet ist. (Kirschen müssen verfügbar sein. Weniger wichtig ist das Bewusstsein des Vorhandenseins von Kirschen.)
Alternativen zur Verfügung haben
Wie steht es mit den unterschiedlichen Möglichkeiten, die Mandeln zu platzieren, zwei Kirschen zu nehmen oder die Lebkuchen mit dem Daumen einzudrücken? Es wäre interessant, zu erforschen, wie sich diese Optionen im Bereitschaftspotenzial (nicht) zeigen.

Aber solche Spitzfindigkeiten lenken von einer wichtigen Beobachtung ab. Etwas zu können heißt - im einschlägigen Sinn - Alternativen zur Verfügung zu haben. Damit verschiebt sich das Problem nochmals. Was verstehen wir unter "Umgang mit verfügbaren Alternativen"?
Tugendhat gegen metaphysische Antworten
In seinem Artikel über den "Begriff der Willensfreiheit" (Philosophische Aufsätze, 1992) weist Tugendhat die metaphysische Antwort zurück, nämlich "die eigentümliche Vorstellung ... mit dieser Möglichkeit sei nicht einfach Nichtzwanghaftigkeit gemeint, sondern dass die Handlung nicht notwendig sei in dem Sinn, dass sie nicht kausal verursacht sei."
Freiheit in sozialer Interaktion
Die Ausübung der Freiheit ist keine Tätigkeit, durch die wir von jenseits der sinnlichen Welt in deren Abläufe eingreifen. Sie ist uns zugänglich über ein Beschreibungsmuster für soziale Interaktionen.

"Verfügbare Alternativen" heißt: die beobachtete Handlung steht unter dem Aspekt, dass im Betätigungsfeld einer Person unterschiedliche Aktionen sachlich begründet scheinen. (Dass ein abgerissener Knopf auf den Lebkuchen fällt, ist keine Alternative in der Kuchendekoration.)
Erweiterter Rahmen der Handlungsfähigkeit
Damit wird deutlich, dass die Streitparteien auf weite Strecken aneinander vorbei reden. Wegen der vorgestellten Mandeln oder Kirschen lohnt sich die Aufregung nicht.

Eine vergleichbare Situation könnte allerdings bei der Zollkontrolle eintreten. Gesetzt den Fall, die Auswahl betrifft dort Passagiere mit weißer und schwarzer Hautfarbe. Hier ist der Streit vorprogrammiert.

Aber er richtet sich nicht auf neurologische Befunde, sondern auf die Beurteilung der sozialen Konstellation, also auf einen erheblich erweiterten Rahmen der Handlungsfähigkeit.
Freiheit braucht Möglichkeitsspielraum
"Der Streit geht ... darum, aufgrund wovon es zu der Festlegung des Ergebnisses kommt. Wenn aufgrund eines Könnens der betreffenden Person ... dann offenbar aufgrund von etwas, das nicht in bloßer Tatsächlichkeit besteht." (Thomas Buchheim) Freiheit erfordert die Annahme eines Möglichkeitsspielraums für die beobachtete Person.

In einem solchen Spielraum kann im Prinzip auch gewürfelt werden. Interessanter ist ein Verhalten, das sich auf Gründe beruft. Demnächst mehr darüber.

[26.1.05]
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