Host-Info
Herbert Hrachovec
Institut für Philosophie, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Herbert Hrachovec :  Gesellschaft 
 
Bedingungen für Freiheit (4): Gründe  
  Menschen können atmen und am Abend ins Kino gehen. Das sind zwei Spielarten von "können". Sie können, pointiert gesagt, nicht nicht atmen, wohl aber zu Hause bleiben.  
Die Arbeitshypothese des Determinismus besagt, dass dieser Unterschied nur an der Oberfläche gilt. Wenn man der Sache auf den Grund geht, sei der Kinobesuch so unvermeidlich, wie der Stoffwechsel.
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Dieser Artikel ist Teil einer fünfteiligen Serie zum Thema "Willensfreiheit". Bisher erschienen:
Bedingungen für Freiheit (1): Anfangen
Bedingungen für Freiheit (2): Das Experiment
Bedingungen für Freiheit (3): Können
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Wo liegt die Überlegung?
Am Beispiel des Kuchenbackens lässt sich die Kontroverse im Kleinen durchspielen. Automatismen mischen sich mit überlegten Aktionen; die Frage stellt sich, wo in messbaren Abläufen Überlegungen dingfest zu machen sind.

Die Antwort der Experimentalpsychologen: an einem Zeitpunkt nach dem Auftreten eines Bereitschaftspotenzials. Darauf reagieren Philosophinnen (m/w) mit einer defensiven und einer offensiven Replik.
Eine Frage der Versuchsanordnung
Erstens: Unter den angeführten Bedingungen ist "Willensfreiheit" nicht zu finden. Die Versuchsanordnung erfasst instinktgeleitete Willkürakte, die auf das Bewusstsein abfärben. Das große Thema wird in diesem experimentellen Rahmen so gut wie möglich an das "können" von Atmung und Stoffwechsel angepasst. Ergebnis: wir können (im anspruchsvolleren Sinn!) Aktionen bewusst blockieren.

In der Regel ist die antizipative Ausrichtung auf den nächsten Schritt (eines vorweg gewollten Experiments!) aber der Selbstwahrnehmung dieses Zustands einen Sekundenbruchteil voraus. Klingt doch ganz plausibel.
Mehr als bloße Dopaminausschüttung
Ein Problem ergibt sich bloß dadurch, dass manche Forscher die Fähigkeit zur momentanen, bewussten Willkür Willensfreiheit nennen. Hier setzt die zweite, positive Replik der Philosophinnen (m/w) ein.

"Eine Entscheidung ist kein bloßer Ruck ... Wenn man sich für eine Handlung entscheidet, dann weist man deren Unterlassung zurück. Unterlassung ist aber mehr als blockierte Dopaminausschüttung." (Lutz Wingert) Bei diesem "mehr" handelt es sich nicht um eine geheimnisvolle überirdische Kraft.

So scheint es nur, sofern die Aufmerksamkeit ausschließlich dem Zeigerausschlag gilt. Aber unter diesen Bedingungen ist aus dem Gesamtgewicht eines PKW der Unterschied zwischen Passagieren, Gepäckstücken und Benzin auch nicht herauszurechnen.
Freiheitsbegriff braucht Handlungsspielraum ...
Hier beginnt die Gegendarstellung. Von Freiheit zu sprechen lohnt sich nur unter zusätzlichen Annahmen. Siehe Kuchenbacken. Der mangelhafte Begriff von Freiheit versteht darunter z.B., willkürlich Mandeln oder kandierte Kirschen als Lebkuchendekoration herauszupicken.

Ein sinnvoller Begriff ist daran orientiert, dass Bäckerinnen dabei einen gewissen Handlungsspielraum haben. Zurecht hat ein Leser meinem vorigen Beitrag ein Rezept für Lebkuchen beigefügt. Ihre Herstellung ist alles andere als automatisch oder willkürlich.
... und Zurechnungsfähigkeit
Freiheit ist, von dieser Seite betrachtet, nicht die Umsetzung von etwas, "was ich mir gerade vorstelle", sondern die Fähigkeit, zwischen verschiedenen Rezepten zu wählen. "Auf jeden dritten Lebkuchen kommt eine Mandel" ist eine Regel, die zu einer Menge anderer Regeln in Kontrast steht.

In ehrfurchtsvollem Ton wird unter Fachleuten gern Kant zitiert: Freiheit ist die selbstgewählte Bindung an ein Gesetz. Der Sachverhalt lässt sich nüchterner beschreiben. Der Unterschied zwischen Eingebungen des Augenblicks und Zurechnungsfähigkeit liegt darin, dass die Person im zweiten Fall auf eine Regel festgelegt ist.
Gründe - Antworten auf Zweifel
Das wäre unwichtig, wenn diese Festlegung selbst durch Fingerschnippen entschieden würde. Aber so geschieht das normalerweise nicht. Der Bäcker sucht nach Rezepten und überlegt Gründe für seine Wahl. Der Vorgang umfasst Regelsysteme, einen Spielraum und (mögliche) Argumentationen, diesem oder jenem System zu folgen.

"Gründe sind Antworten in Reaktion auf zweifelnde Fragen, was man für wahr halten oder was man tun soll. Zur Erfüllung dieser Funktion müssen sie Wünsche, Absichten und Überzeugungen in Verbindung setzen mit deren Wahrheits- und Erfüllungsbedingungen in der Welt ... Neuronale Zustände haben diesen Gültigkeitsbezug aber nicht." (Lutz Wingert)
Verschiedene Ebenen
Nochmals: Das ist kein Vorwurf, sondern einfach eine Feststellung. Im Labor ist es gelungen, Gehirnzustände von Makake-Affen direkt zur Bewegung eines künstlichen Armes einzusetzen.

Ein Grund dafür ist die erhoffte künftige Mobilität für Gelähmte. Er liegt auf einer anderen Ebene, als die Verdrahtung. Die nächste, und letzte, Folge entwirft ein Bild des gesamten Themenkomplexes.

[2.2.05]
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