Host-Info
Herbert Hrachovec
Institut für Philosophie, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Herbert Hrachovec :  Gesellschaft 
 
Mobiltelefon: Sinnbild für gemeinsames Denken?  
  Medienphilosophie ist aktuell, aber ihr Interesse gilt nicht allen aktuellen Medien in gleicher Weise. Das Mobiltelefon wird in den mittlerweile zahlreichen Einführungen und Readern selten erwähnt. Eine Ausnahme ist die Arbeitsgruppe rund um Christoph Nyiri an der ungarischen Akademie der Wissenschaften, die sich seit mehreren Jahren mit der Soziologie und Philosophie mobiler Kommunikation beschäftigt.  
Vier Sammelbände liegen bereits vor, Ende April fand in Budapest ein weiterer Kongress zum Thema "Seeing, Understanding, Learning in the Mobile Age" statt.
->   Zu den Sammelbänden
Bemerkenswerte Details
Die drahtlose Telephonie hat ohne Widerstand in kurzer Zeit einige Bereiche des öffentlichen Lebens nachhaltig verändert. Ihre Folgewirkungen gleichen Plastiktaschen oder Chipkarten. Auf den ersten Blick bieten solche praktischen Entwicklungen nur wenige Denkanstöße. Wenn man ein wenig genauer zusieht, zeigen sich jedoch bemerkenswerte Details.
Herkunftsort unklar
Das lästige "Ich bin gerade ..." der telefonierenden Mitreisenden verweist darauf, dass Anrufe keinem festen Herkunftsort mehr zuzuordnen sind. Umgekehrt geht das "Ich würde gerne mit ... sprechen" verloren (M. Ferraris). Ein Gerät versorgt nicht mehr die Familie.
Familienzusammenhalt wird unterstützt
Eine soziologische Studie aus Israel (D. Lemish, A. Cohen) hat herausgefunden, dass Eltern und Kinder sich über den Mobil-Gebrauch kaum streiten. Es scheint den Zusammenhalt der Familienmitglieder in bewegten Zeiten gut zu unterstützen.
Konflikte in der Schule
Obwohl die Generationen über Kostenteilung einig sind, bezahlen die Eltern den überwiegenden Teil der Gebühren. Konflikte gibt es allenfalls in der Schule. Den Lehrerinnen (m/w) einer traditionellen Klasse leuchten die Vorteile der "anytime, anywhere" Wissensvermittlung nicht richtig ein.

Wenn Lernen sozial gestützte Aneignung von Information ist, wird es durch die Außenbeziehung eines Teils der Bezugsgruppe erheblich gestört.
Wo ist die Philosophie?
Nicht viel Philosophie bis hierher. Aber der Eindruck täuscht. Die Ortlosigkeit des Anrufs ist ein mächtiges metaphysisches Motiv. Apparate des Festnetzes wird niemand als Grabbeigabe in Erwägung ziehen. Mobiltelefone schon: Sie dienen der ent-lokalisierten Stimme.
Stimme mit Eigenleben
Sie übertragen Gebete US-amerikanischer Juden direkt an die Klagemauer in Jerusalem (J. Katz). Die Stimme führt ein bisher unbekanntes Eigenleben im Vergleich zu ihrem Körper. Dieser Effekt verstärkt sich angesichts der Tatsache, dass Telefone auch Text und Bilder übertragen können.

Die Audio-Postkarte aus dem Urlaub ist meist von bescheidenem Informationsgehalt, doch auf denselben Kanälen stehen Edutainment und Programme zur interaktiven Steuerung von Datenbanken zur Verfügung.
PDA als "Außen-Hirn"
Eine philosophische Betrachtung dieser Zusammenhänge kann beim Schlagwort "extended brain" anknüpfen (A. Brook, J. Preston, Z. Kondor). Die Einteilung in Personengruppen, die einerseits über Körper (mit Gehirn) verfügen und andererseits zur Weltgestaltung Werkzeuge (vom Hammer bis zur Marssonde) benutzen, ist im Computerzeitalter eventuell zu revidieren.

Wie beurteilt man "personal digital assistants", wenn sie den Wissensraum des WWW durchforsten? Es könnte sein, dass Mobiltelefone neuartige Erweiterungen unserer kognitiven Fähigkeiten, sozusagen ein Außen-Gehirn, sind.
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Widerspruch: Erinnerungen sinnlich wahrnehmen
Solche Extrapolationen wirken unternehmungslustig und provokant. Ob sie vertretbar sind, ist eine andere Frage. Die Vortragenden in Budapest widersprachen solchen Spekulationen.

"Ottos Notebooks spielen eine unverzichtbare Rolle im kognitiven System, dessen Teil er ist und darum für ihn, aber sie sind nicht Teil von ihm." (A. Brook) Die Ausgabe des Rechners muss er - anders als Erinnerungen - sinnlich wahrnehmen.
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Benutzerinnen und Geräte sind unterscheidbar
Und die Wiedergabe von Ereignissen am Bildschirm garantiert nicht, dass sie ein Gedächtnisinhalt sind. "In echten kognitiven Systemen können wir die Erkennenden und die echten kognitiven Beziehungen zu ihnen und ihren kognitiven Produkten unterscheiden. Wir können sie auch von den Geräten unterscheiden, welche sie benutzen." (J. Preston)
Denken ist im Kern gemeinschaftlich
Diese Auskünfte verderben den Spaß an Sensationen. Sie verweisen auf den bekannten Begriffsrahmen und sperren sich gegen Aufsehen erregende Schlagzeilen. Martin Heidegger hat abweichend zur Wendung "wir sprechen eine Sprache" eine typische philosophische Provokation formuliert, als er den Slogan prägte: "Die Sprache spricht".

Christoph Nyiri parallelisiert diesen Ausspruch mit Ludwig Wittgensteins "Sprachspielen" und "Lebensformen". Die kultur-pessimistische Kritik wünscht sich die Stille für individuelles Denken zurück. Sie hat, so Nyiri, unrecht, denn Denken ist im Kern gemeinschaftlich ("collective").
Interessant und/oder wahr?
Mobiltelefone basieren auf einem Funknetz, das den globalen Informationsaustausch auf ein unerahntes Niveau gehoben hat. Worüber jemand sich informiert liegt aber - hoffen wir - an der Besitzerin des Telefons.

[17.5.05]
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