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Herbert Hrachovec
Institut für Philosophie, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Herbert Hrachovec :  Gesellschaft 
 
Deutsche Kanzlerschaft - ein Wächteramt  
  Am 6. September kommentiert Patrick Bahners in der "Frankfurt Allgemeinen Zeitung" die TV-Diskussion zwischen Angela Merkel und Gerhard Schröder. Er bemerkt, dass sich in dieser Konfrontation tief verwurzelte Körperhaltungen gezeigt haben.  
"Der Kanzler hatte die Hände vor dem Bauch übereinander gelegt, als stützte er sich auf den Knauf eines Schwertes, das er neunzig Minuten lang nicht zücken musste. Es genügte die Haltung der Wachsamkeit, um den Eindruck unerschütterlicher Autorität zu erzeugen. Während die Kandidatin sprach, sah er zu ihr hinüber, hatte nur den Kopf leicht gedreht, während der Körper in der Pose des Wächters verharrte," schrieb Bahners.
->   Patrick Bahners: Pädagogische Sendung (FAZ)
Körpersprache prägte die Debatte
Bild: dpa
Während der Debatte
Angela Merkel hatte ihre Aufgabe überraschend gut erfüllt. Sie war dem Kanzler argumentativ und psycho-dramatisch gewachsen. Einige Journalisten schätzten die Auseinandersetzung als ausgeglichen ein. Die Blitzumfragen ergaben ein anderes Bild. In beinahe allen Punkten lag Schröder mit deutlichem Abstand vorne.

Die Körpersprache, auf welche P. Bahners hinweist, hat wesentlich zu diesem Ergebnis beigetragen. Verbale Auseinandersetzungen sind nur der eine Teil solcher Inszenierungen. Sie sind von wirksamen körperlichen Mustern geprägt. Das Mann-Frau-Schema gehört zu den eindringlichsten Beispielen solcher indirekter Mitteilungen.
Soziale Einschätzungen unterliegen ...
Pierre Bourdieu, der 2002 verstorbene französische Soziologe, hat den Zusammenhang in einem kürzlich auf Deutsch erschienenen Buch analysiert ("Die männliche Herrschaft", Frankfurt 2005). Die körperlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern alleine machen es nicht aus.

Unsere Gesellschaft verbindet mit Penis, Po und Busen ein weit verzweigtes Netz von Sinnzusammenhängen. Körpergröße, physische Kraft und Lautstärke dienen als Grundlage für soziale Einschätzungen. In einer Hinsicht scheint das unproblematisch. Wer eine angenehme Stimme hat, wird mit größerem Erfolg singen. Aber Bourdieu verweist auf einen problematischeren Effekt.
... "natürlichen" Geschlechterunterschieden
Gesellschaftliche Wertvorstellungen bestimmen, welche physischen Unterschiede einen Unterschied machen - aber sie verstecken sich hinter der "Natur". Gefragt ist Führungspersonal, "da ist es doch nur natürlich, dass die Muskelkraft eine entscheidende Rolle spielt". Eine patriarchalische Ordnung tarnt sich als gottgegeben.

"Da sie in den Dingen eingezeichnet ist, prägt sich die männliche Ordnung durch die Routinen der Arbeitsteilung und der kollektiven oder privaten Rituale impliziten Forderungen auch in die Körper ein." (Pierre Bourdieu)
Schröder mit Körpervorteil
Die Reaktionen auf das Treffen zwischen Merkel und Schröder werden unter diesem Aspekt verständlicher. Es ist nicht unvernünftig, Angela Merkels Auftritt als tadellose Leistung zu schätzen und dennoch die Auffassung zu vertreten, dass Gerhard Schröder kompetenter und als Kanzler besser befähigt ist.

Seine Körpersprache ist vorweg an das Ereignis eines politischen Streitgespräches angepasst. Kein Wunder, denn die Regeln, nach denen wir solche Ereignisse eingerichtet haben, verstärken genau sein physisches Gehaben.

Die Wahrscheinlichkeit eines Wahlsieges der CDU/CSU ist trotzdem hoch. Politische Prozesse werden nicht allein im Schaukampf entschieden. Der hier skizzierte Zusammenhang wirft allerdings die Frage auf, wie man einem derartigen Teufelskreis überhaupt entgehen kann. Dazu folgt in Kürze ein weiterer Kommentar.

[9.9.05]
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