Host-Info
Herbert Hrachovec
Institut für Philosophie, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Herbert Hrachovec :  Gesellschaft .  Technologie 
 
Und überhaupt der Fortschritt  
  Diese Woche findet in Kirchberg, N.Ö. das 30. Internationale Wittgenstein Symposium statt. Es bietet eine eigenartige Kombination. Der Philosoph hätte in seine entlegene norwegische Hütte sicherlich keinen Laptop mit Internetanschluss mitgenommen, aber die Veranstaltung steht unter dem Thema "Philosophie der Informationsgesellschaft".  
Für den philosophischen Denkmalschutz ist das eine Zumutung. Wittgenstein hat sich in deutlichen Worten von den zukunftsfrohen Ankündigungen distanziert, die mit solchen Titeln oft verbunden sind.
Nestroy und Bolz uneins
Bekannt ist das Motto, das er an den Anfang der "Philosophischen Untersuchungen" gestellt hat, ein Zitat aus Nestroys "Der Schützling": "Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, dass er viel größer ausschaut als er wirklich ist."

Vergleichen Sie damit die ungeheure Größe des Fortschritts in der Darstellung des deutschen Medien-Gurus: "Nicht nur spezifische Traditionen, sondern Tradition schlechtweg lässt sich unter neuen Medienbedingungen wie Emergenz und Instantaneität nicht mehr fortschreiben - allenfalls in einem abendländischen Abschlusssaldo anschreiben." (Norbert Bolz)
Kein einfaches Symposium
Ein Wittgenstein-Symposium zur Informationsgesellschaft sollte, streng genommen, also eine sehr kritische Veranstaltung sein. Einfache Bauarbeiten können, wie einige Teilnehmerinnen erfahren mussten, den Datenverkehr tagelang unterbrechen. Ganz zu schweigen vom Überangebot von trash und spam, sowie des weltweit verbreiteten Einbruchsdiebstahls.

Deutlich ist mir der Protest eines Studierenden in Erinnerung, als ich ihn zu philosophischem Computergebrauch motivieren wollte: "Ich habe doch Philosophie gewählt, um mich von meinem Bruder abzusetzen, der Informatik studiert."

Nestroy und Wittgenstein widersprechen dem Hype. In Kirchberg wird es zahlreiche wohlwollende Analysen der Informationsgesellschaft geben. Wie passt das zusammen?
Fortschritt: Zwei Arten von Sinnestäuschung
Nach unseren skeptischen Auskunftspersonen ist der Fortschritt quasi eine Sinnestäuschung. Er schaut viel größer aus, als er wirklich ist. Es ist jedoch nützlich, zwei Arten der Sinnestäuschung zu unterscheiden.

Einmal der Typ "Fata Morgana": es gibt nichts zu sehen, das Ganze ist eine Illusion. Und zweitens der Typ "Stab im Wasser": es gibt etwas zu sehen, nur unterscheidet sich der Anschein von der Realität.

Gemäß der ersten Deutung ist Fortschritt eine Illusion, gemäß der zweiten enthält er eine systematische Verzerrung, die sich allenfalls korrigieren lässt.
In jedem Fall eine Sicht auf die Welt
Wie Nestroy und Wittgenstein den Satz über den Fortschritt verstanden haben, kann auf sich beruhen. Der Punkt ist, dass er zwei verschiedene philosophische Einstellungen betrifft, die sich mit "Philosophie der Informationsgesellschaft" verbinden.

Nicht wenige Kolleginnen (m/w) betrachten die Demontage des Fortschrittsglaubens als Berufsaufgabe. Diese Gruppe genießt den Komfort der Technik und weist ihre Eingriffe ins Denken entschieden zurück. Sie tragen Trachtenanzug mit Goretex.

Dagegen widmet sich das Symposium einer heikleren Aufgabe, nämlich der Untersuchung, was die jahrhundertealten Studien der Philosophie zur Informationsgesellschaft zu sagen haben, und was sie von ihr lernen können. Unter dem Einfluss des Fortschrittsglaubens erscheint die Welt in einer täuschenden Perspektive, doch es ist immerhin eine Sicht der Welt.
Schwester Philosophie und Bruder Informatik
Philosophie macht sich gerne als Intervention auf Seiten einer retrospektiven Selbstvergewisserung wichtig, die ihre Antworten dem Fundus altgedienter Weisheiten entnimmt.

Wittgenstein hat damit nichts zu tun. Er bewegte sich ständig an der Grenze konsolidierter Praktiken, seien es die Idole der philosophia perennis oder der jüngsten Mode.

Der Fortschritt mag zu groß aussehen, das heißt nicht, dass es ihn nicht gibt. Es kommt darauf an, ihn richtig einzuschätzen. Schwester Philosophie und Bruder Informatik haben eine Menge miteinander zu besprechen.

[6.8.07]
->   Wiki zum Wittgenstein Symposium Kirchberg 2007
->   Programm zum Wittgenstein Symposium
->   Alle Beiträge von Herbert Hrachovec in science.ORF.at
 
 
 
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