Host-Info
Herbert Hrachovec
Institut für Philosophie, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Herbert Hrachovec :  Gesellschaft 
 
Lippenstift-Gift  
  Der Wahlkampf, den wir im Moment erleben, verläuft in absehbaren Bahnen. Grundsatzerklärungen, Wahlversprechen, Prunkplakate, TV-Konfrontationen. Genießen wir das Schauspiel, solange es noch gegeben wird. Ein Blick in die USA zeigt, dass andere Zeiten bevorstehen könnten.  
"Lipstick on a pig ..."
Ein Detail vom Wochenende 12.-14.9. reißt Abgründe auf und fordert die Medienphilosophie heraus. Im Zentrum steht eine Redewendung, die sich gut für politische Polemik eignet: "You can put a lipstick on a pig. It's still a pig."

John McCain hatte die Wendung gegen den Gesundheitsplan Hillary Clintons gebraucht. Letzten Donnerstag verwendete sie Barack Obama, um McCains vorgebliches Eintreten für politischen Wandel zu kritisieren. Soweit nichts Besonders, aber das war nicht alles.
->   John McCain über den Gesundheitsplan Hillary Clintons
->   Kritik Barack Obamas an John McCain
Hockey mum und Pit Bull
Eine Woche vorher hatte Sarah Palin in ihrer Rede am republikanischen Parteitag einen Scherz gemacht. "Was ist der Unterschied zwischen einer hockey mom und einem pit bull?" Die Antwort: "Lipstick".

Warum sich die Kandidatin für die Vizepräsidentschaft auf einen Vergleich mit Kampfhunden einlässt, bleibt ihr Geheimnis. Ihre Wahlkampfmanager schlugen sofort Alarm. Nach Darstellung der Republikaner hatte Obama mit der Redewendung aber nicht McCain angesprochen, sondern Sarah Palin als "pig" gemeint.
->   Sarah Palin über Lippenstift
Andere Strategie ...
Der Punkt, an dem es ungemütlich wird, ist "ihre Darstellung". Das hieß bisher: kämpferische Behauptungen, die im Fernsehen und in Printmedien vorgebracht werden und zu jenen unerträglichen Duellen führen, in denen die Parteien einander wechselseitig Lügen vorwerfen.

Die McCain Kampagne ist einen Schritt weiter. Es ist nicht einfach, überzeugend nachzuweisen, welche Hintergedanken Obama gehabt haben mag. Der Wortlaut gibt den "Skandal" nicht her. Eine andere Strategie tritt an die Stelle.
... eine Anti-Obama-Einschaltung
Die blitzschnell hergestellte Anti-Obama-Einschaltung der Republikaner besteht aus drei Video-Ausschnitten. Der erste zeigt Sarah Palins Pointe mit dem Lippenstift. Der zweite Obamas Einsatz der Redewendung gegen McCain, allerdings ohne dessen Namen und mit dem Insert: "Obama on Sarah Palin".

Man hört zweimal "lipstick" und einmal die Verbindung zum Schwein. Man sieht eine Frau, die sich zum Lippenstift bekennt und stellt unweigerlich eine Verbindung her. Um diese Assoziation zu festigen, bringt der 3. Ausschnitt eine TV-Kommentatorin, die den Sexismus dieses Wahlkampfs beklagt. Sie hat inzwischen die Verbreitung des Clips auf YouTube untersagen lassen, weil ihre Äußerung sich auf die Aggression gegen Hillary Clinton bezog.
->   Anti-Obama-Einschaltung
->   Original-Kommentar von Kathe Couric über Sexismus
Trügerische Gleichzeitigkeit
Eine solche Schnitt-Technik ist semiotisch und rhetorisch interessant. Textzitate aus dem Zusammenhang zu nehmen, ist eine seit langem bekannte Praxis. Aber dazu ist nötig, dass eine Person sich die (manipulierte) Behauptung zu eigen macht. Damit beginnt der Interpretationskonflikt.

Das digitale Fernsehen und die dazugehörigen Schnittprogramme erlauben es, aktuelle Aussagen beliebig zu segmentieren und in kürzester Zeit mit anderen, ebenfalls speziell zugeschnittenen, Fragmenten zu verbinden. Das erzeugt eine Gleichzeitigkeit, die aussieht, als würde sich der eine Sprecher auf die andere Sprecherin beziehen. Man muss nicht mehr den Vorwurf erheben, er hätte das und das gemeint. Der Vorwurf wird durch die Bildregie hergestellt.
Schwierige Gegenstrategie
Dieser Regie kann widersprochen werden, aber das ist ein abgeleitetes Verhalten. "Die drei Ausschnitte haben miteinander nichts zu tun!" ist ein vergleichsweise defensives Agument.

Hier steht nicht Meinung gegen Meinung, sondern die Schöpfung einer künstlichen Wirklichkeit gegen den "anständigen" Protest. Letzterer ist weniger augenfällig, und genau darum ist der Clip so geschnitten.
"Heimatdichtung" im österreichischen Wahlkampf
Einen kleinen Vorgeschmack gibt es auch im österreichischen Wahlkampf. Die Reimbildung auf Plakaten ("Sicherheit ... unsere Leut") ist eine ähnlich angelegte Finte.

Sie nützt eine Möglichkeit der Sprache, um außerhalb nachprüfbarer Belege einen Extra-Stimmungseffekt zu erzeugen; sozusagen Heimatdichtung. Es wird nicht lange dauern, dann kommt eine high-tech Version dieser Provinzlyrik auf uns zu.
"Standard" neigt zu ...
In der Zwischenzeit bleibt noch ein kleines Rätsel. "Der Standard" druckt am 12.9. einen McCain-freundlichen Kommentar: "Derartige Verhaltensweisen und andere Untergriffe - wie Obamas jüngste 'Lipstick'-Schweinerei - sind typisch für die demokratische Führungsriege ..."

Mich interessierte, wofür der Ausdruck "Lipstick-Schweinerei" eine Übersetzung ist. Angesichts des lipstick-pig-Reimes schien das ein interessantes Wortspiel.

Der Originaltext in der "San Francisco Chronicle" lautet folgendermaßen: "These attitudes, and more, define the tenor of the party leadership ...".
->   Der "Standard"-Kommentar
->   Das Original im "San Francisco Chronicle"
..." interessanten" Übersetzungen
Sehr interessant. Der Übersetzer hat ein Schwein hineingeschrieben, wo nach der Quelle, die er angibt, keines war. Ich werde mich hüten, dem Verantwortlichen für den "Kommentar der Anderen" eine Absicht zu unterstellen.

[22.9.08]
->   Alle Texte von Herbert Hrachovec in science.ORF.at
 
 
 
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