Host-Info
Herbert Hrachovec
Institut für Philosophie, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Herbert Hrachovec :  Technologie .  Wissen und Bildung 
 
Neues vom Büchermarkt
Anmerkungen zum "Heidelberger Appell"
 
  Früher war es der Zettelkasten, heute ist es die Datenbank. Sie tippen "Platon" in das Formular und erhalten alle entsprechenden Buchtitel aus dem Bestand (zum Beispiel) der Universitätsbibliothek Wien.  
Dabei ist unerheblich, wann die Werke publiziert wurden; entlehnt sollten sie nicht sein. Das hat sich durch das Eingreifen Googles in das Bibliothekswesen dramatisch verändert.
Keine Entlehnfrist bei Google
Für die von Google digitalisierten Bücher gibt es keine Entlehnfrist und keine Wartezeiten. Sie sind von diesen materiellen Beschränkungen befreit. Die in ihnen niedergelegten Ideen zirkulieren ohne ökonomisch-administrative Mangelverwaltung. Es ist zu schön, um wahr zu sein.

Im Lesesaal der Bibliothek ist es unerheblich, ob das Buch 1905 oder 2005 veröffentlicht wurde. Auf Google Books macht es dagegen einen großen Unterschied. Die Bücher müssen alt genug sein, sonst gibt es Schwierigkeiten mit dem Copyright.
Was geschieht mit den Eigentumsrechten?
Die Digitalisierung hat das traditionelle Verhältnis zwischen der freien geistigen Produktivität und ihren materiellen Substraten gründlich durcheinandergebracht. Bedeutende Teile der kulturellen Überlieferung stehen mit vergleichsweise geringem Aufwand zur Verfügung - umso dringlicher ist die Frage, was mit den Eigentumsrechten jener Personen geschieht, die noch nicht lange tot sind.

Im Zeitalter des Buchdrucks und der analogen audio-visuellen Medien waren ihre Werke vergleichsweise geschützt. Heute verfügen wir über perfekte Kopien, weltweit verteilt. Die Ordnung kann nicht bleiben, wie sie war. (Solche Umbrüche geschehen immer wieder. Wir sind gerade dabei, das "Persönlichkeitsrecht" des Rauchens im öffentlichen Raum abzuschaffen.)
Kreativität, Zwischenhandel und Markt: Aus der Balance
Vorsicht ist angebracht, wenn in dieser Situation einmal mehr der Untergang des Abendlandes angekündigt wird. "Unsere Kultur ist in Gefahr" übertitelt die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" am 25.4. einen Beitrag von Roland Reuß. Die Reizworte sind versammelt: "Respekt vor der unverwechselbaren Arbeit des Einzelnen", "Zusammenbruch der Produktion", "schutzlos Dieben und Erpressern ausgeliefert".

Es dreht sich darum, dass die bisherige Balance von Kreativität (Autorin), Zwischenhandel (Verlage) und Markt verlorengeht. Für einen Scanner macht es keinen Unterschied, ob auf der Titelseite "1800", "1900" oder "2000" verzeichnet ist.
Drei Szenarien der Veröffentlichung
Der Kulturbruch sieht dramatisch aus. Die schrille Reaktion des " Heidelberger Appells" verstärkt die Verwirrung vorsätzlich und zusätzlich.

Außer Streit steht, dass Autorinnen (m/w) ein primäres Verfügungsrecht über ihre Arbeit haben. Sie können nicht gezwungen werden, sie "herauszugeben". Die Bedingungen, unter denen veröffentlicht wird, sind eine zweite Sache. Der Kürze halber nenne ich drei typische Szenarien.

(1) Freie Schriftsteller- und Forscherinnen verdienen von ihren Produktionen; oder (2) Veröffentlichungen sind Teil eines komplexen Beschäftigungsverhältnisses, das von "Dienstnehmerinnen" solche Leistungen verlangt. Schließlich ist (3) eine Bewegung entstanden, innerhalb derer wissenschaftliche Ergebnisse, aber auch Produkte der Kunst und Unterhaltungsindustrie, aus eigenem Antrieb von den Produzentinnen (m/w) frei zur Verfügung gestellt werden.
Sonderfall Wissenschaft
Bücher besitzen einen Marktwert. Manche verkaufen sich gut, andere interessieren kaum jemanden. Autorinnen, die ihre Werke gewinnbringend verkaufen wollen, müssen ähnlich geschützt werden, wie Weinbauern oder Chiphersteller. Ihre verschriftlichten Ideen werden innerhalb eines gesetzlichen Rahmens verbreitet; gegen Raubdrucke stehen Abwehrmechanismen zur Verfügung.

Publikationen, die im Zusammenhang mit einer Berufstätigkeit entstehen, bieten ein komplizierteres Bild. Werbebroschüren gehören der Auftraggeberin, das Programmheft dem Theater.

Ein Sonderfall ist die wissenschaftliche Tätigkeit. Sie wird auf weite Strecken vom Staat bezahlt und zwar unter der Voraussetzung, dass ihre Ergebnisse in freier Forschung entstehen. Das hieß bisher in der Regel auch, dass die Wissenschaftlerinnen (m/w) in der Wahl ihrer Publikationsorgane frei sind.
Open Access
Um diesen Punkt ist, im Zusammenhang mit dem dritten Szenario, eine Kontroverse entstanden. Angesichts der wissenschaftlichen Tradition des unbehinderten Austauschs von Forschungsergebnissen und bestärkt von den eindrucksvollen Erfolgen der open source Entwicklung hat die "Open Access"-Bewegung Einfluss gewonnen. Sie tritt (analog zur GNU-Lizenz bei Software) für das Recht der Autorinnen (m/w) ein, ihre Arbeiten der Öffentlichkeit frei zugänglich zu machen.

Die Initiative umfasst verschiedene Vertragsformen des "Creative Commons" und wird durch eigens zu diesem Zweck entworfene Metadaten-Standards im Internet unterstützt. Es liegt bei jeder Wissenschaftlerin, sich dieser Möglichkeiten zu bedienen. Der Anstoß entsteht dadurch, dass sich in letzter Zeit auch Institutionen der Forschung und Forschungsförderung zunehmend in diese Richtung engagieren.
Schnellste, umfassendste und billigste Verbreitung
"Open Access" tritt in zwei verschiedenen Versionen auf. Erstens organisieren Wissenschaftlerinnen (m/w) kostenfreie Archiv-Verbände, in denen ihre Werke - sachentsprechend durch Meta-Informationen aufgeschlüsselt - im Volltext zugänglich sind. Und zweitens drängen Förderungseinrichtungen, Stiftungen und Wissenschaftsfonds zunehmend darauf, dass die Veröffentlichung von ihnen unterstützter Tätigkeiten in diesem Format erfolgt.

Auf diese Weise wird die schnellste, umfassendste und kostengünstigste Verbreitung garantiert. Auch Universitäten beginnen damit, in institutionellen "Repositorien" ihre wissenschaftlichen Leistungen zu dokumentieren. In beiden Fällen greifen die neuen Veröffentlichungsformen in die Gepflogenheiten des Verlagswesens ein.
Zukunft des Verlagswesens?
Dieser Zwischenhandel ist ein eigenes Thema. Als Einstimmung dient der hier vorgebrachte doppelte Hinweis. Erstens ist zu bemerken, dass die Digitalisierung der Bibliotheken das bisher vergleichsweise zweitrangige Publikationsdatum zur Chefsache gemacht hat. Und zweitens haben einflussreiche Geldgeber sich an der Privatinitiative einiger weitblickender Wissenschaftler (m/w) ein Beispiel genommen.

Die beiden Punkte haben nur entfernt miteinander zu tun. Aber dazwischen liegt ein Terrain, das sie kräftig durcheinanderbringen. Tatsächlich geht es um die Zukunft des Verlagswesens, wie wir es derzeit kennen.

[20.5.09]
->   FAZ: Zypries unterstützt "Heidelberger Appell"
->   FR: Im Namen der Freiheit
->   Open Access News
->   Open Excess: Der Heidelberger Appell (Perlentaucher)
->   Materialsammlung zum Heidelberger Appell
 
 
 
ORF ON Science :  Herbert Hrachovec :  Technologie .  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick