Host-Info
Herbert Hrachovec
Institut für Philosophie, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Herbert Hrachovec :  Wissen und Bildung 
 
Bildung im ersten Paragraphen. Eine Kleinigkeit zur Hochschulpolitik  
  Das Universitätsgesetz 2002 wird die österreichische Hochschullandschaft einschneidend verändern. Im ersten Paragraphen der Regierungsvorlage ist der Ausgangspunkt bemerkenswerter Weise in einer Sprache formuliert, die eher an die Zwischenkriegszeit, als an das Firmenmodell erinnert, für das der Entwurf heftig kritisiert worden ist.  
"Im gemeinsamen Wirken von Lehrenden und Studierenden wird in einer aufgeklärten Wissensgesellschaft das Streben nach Bildung und Autonomie des Individuums durch Wissen vollzogen."

Man kann in diesem Passus Reminiszenzen daran finden, was in der 1. Republik "Entlastung des staatlichen Apparates durch autonome Pflichtenträger innerhalb berufsständischer Körperschaften" (Friedrich Funder) geheißen hat.
"Streben nach Bildung"
Das ständische Moment ("gemeinsames Wirken") ist um das "Streben nach Bildung" ergänzt. Die Gegner der politischen Initiative zum Rückbau der seit 1976 praktizierten Form universitärer Mitbestimmung betrachten diese Zielvorgabe als Heuchelei.

Die Österreichische Hochschülerschaft demonstriert zur Verteidigung der Bildung gegen das ökonomische Diktat. Tatsächlich spricht das Gesetz im Weiteren nur von Ausbildung und Profilbildung.
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Kein fester Boden unter den Füßen
Aber das heißt nicht, dass die Demonstrantinnen und alle anderen, welche das vorgesehene Regime einer "Wissensbilanz" als kurzsichtige Strategie betrachten, festen Boden unter den Füßen hätten. Für den Erhalt "der Bildung" einzutreten ist ebenso hohl, wie in der Gesetzespräambel davon zu sprechen, dass auf den Universitäten das Streben nach Bildung vollzogen wird.
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"Bildung" - zwei Entwicklungslinien
Manfred Fuhrmann, emeritierter Professor für klassische Philologie an der Universität Konstanz, hat in einem eben erschienenen Reclam-Bändchen eine Übersicht zur Geschichte des Bildungsbegriffes vorgelegt. Besonders hilfreich ist sein Hinweis, dass sich unter diesem Titel zwei deutlich getrennte Entwicklungslinien finden.
Nachhall des Humanismus
Erstens ist die "humanistische Bildung" der Nachhall jenes - aus der Antike übernommenen - Verwaltungswissens, das die europäischen Stämme nach den Wirren der Völkerwanderung in die Lage versetzte, stabile Gemeinwesen aufzubauen und letztlich in Nationalstaaten weiter zu entwickeln.
...und der Weimarer Klassik
Zweitens ist der Begriff mit der Weimarer Klassik assoziiert. Das Bildungsbürgertum des 19. und 20. Jahrhunderts hat in der literarischen Aneignung antiker Stoffe durch kanonisierte Dichter ein Mittel gefunden, den eigenen sozio-ökonomischen Erfolg in die erhabene Form einer Kunst-Religion zu fassen, deren Gottesdienste sich im Theater, Museum und Konzerthaus abspielten.
Eine unhaltbar gewordene Attitüde
Diese Attitüde ist seit einigen Jahrzehnten unhaltbar geworden. Darum hängt die Berufung auf Bildung eigentümlich in der Luft. Details können daran nichts ändern. Dennoch kommt jetzt eine unscheinbare Nebensache. Die große Debatte über Bildung wiederholt sich fraktal in einem Kultursplitter aus der Goethezeit.

"Iphigenie auf Tauris" galt als ein Musterbeispiel der Inszenierung reiner Menschlichkeit. "Das Land der Griechen mit der Seele suchend" verbringt die Tochter Agamemnons ihre Tage im unfreiwilligen Exil. Einige Schlaglichter aus Goethes Schauspiel reißen Lücken in die Bildungseligkeit und machen deutlich, wie eine Revision des "Strebens nach Bildung und Autonomie" eventuell aussehen könnte.

Löcher zu reissen erfordert eine Textur. Insofern bedienen sich die folgenden Bemerkungen des alten Musters, um seine Absichten im diffusen Klima der Kulturpluralität zu testen.
Außenposten der Hochkultur
Goethes Vorlage ist ein Drama des Euripides, "Iphigenie bei den Taurern". Die Widrigkeiten der griechischen Mythologie haben die Frau zu den barbarischen Skythen auf die Halbinsel Krim verschlagen. Das aus Turkestan stammende Reitervolk siedelt nördlich des Schwarzen Meeres und stößt in der Hallstatt-Zeit bis in den bayrischen Raum vor.

Für die Griechen ist es ein unzivilisierter Fremdstamm; der Dichter des 19. Jahrhunderts übernimmt den Kulturbruch. Die "schöne Seele" Iphigenie ist im unterentwickelten Osten ein bedrängter Außenposten attischer Hochkultur.
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Ein salbungsvoller Kommentar....
Ein Kommentar aus dem Jahr 1907 (Achtung, salbungsvoll!) demonstriert, wie der Deutschunterricht damals das Sprungbrett Goethe nutzte, um sich zu hohen Menschheitsidealen aufzuschwingen:

"Um sie aus der engbegrenzten Sphäre des einseitigen und vor allem Fremden und Andersgearteten sich stolz verschließenden Griechentums zur Höhe der allgemein menschlichen Anschauung, die alle Vöker als gleichberechtigt ansieht, zu erheben, wie es die moderne Zeit im Gegensatz zum klassischen Altertum verlangt, dazu bedurfte es eines großen Scharfsinnes, eines feinen Gefühles und einer hervorragenden Dichterkraft."
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Konflikte zwischen Strategien
Die Handlung entwickelt einen Konflikt zwischen reinem Herzen und Überlebensstrategie. Iphigenies Bruder, Orest, hat es auch auf die Krim verschlagen. Nach Barbarenbrauch müsste er geopfert werden.

Die Priesterin Iphigenie schützt ihn davor und gerät in einen sittlichen Zwiespalt. Als Griechin will sie fliehen und zurück zu ihren Verwandten. Doch dazu muss sie König Thoas belügen; mit ihrer priesterlichen Ausnahmestellung wäre es vorbei.

Im Kampf zwischen Eigennutzen und Ideal wagt sie den demonstrativen Schritt, der Goethe zu einem Kronzeugen des bürgerlichen Humanismus gemacht hat. Sie verrät den Fluchtplan und liefert sich der Macht des Heerführers aus. Damit bezwingt sie, wie es so schön heißt, sein Herz. Er honoriert ihre riskante Menschlichkeit und lässt sie ziehen.
Doppelte Entsagung
Die Konstruktion sieht eine doppelte Entsagung vor, als deren Krönung ein "happy end" humaner Lebensweisheit winkt. Radikale, an Selbstvernichtung grenzende Offenheit transformiert Machtverhältnisse und zivilisiert ungebildete Autoritäten.
Weihestück oder "unverdaubarer Brocken"?
Dass eine Geschichte gut ausgeht, muss nicht bedeuten, sie sei aus Schokolade. "Iphigenie" eignet sich zur Weihestunde, aber mit einer leichten Drehung wird aus dem Theaterstück ein unverdaubarer Brocken.

Das Opfer im alten Stil ist vermieden, aber die Sublimierung erzeugt neue Opfer. Und nach der atemberaubenden Logik Goethes trifft es den Barbarenkönig, während die Täterin Iphigenie davonsegelt.
Vom Kommentar schöngeredet
Er verliert die Priesterin, die ersehnte Partnerin, den alten Brauch und seine kriegerische Überzeugung. Das Einzige, was er dafür erhält, ist ein ungedeckter Wechsel auf Zivilisation. Es ist amüsant zu sehen, wie Goethes Text, in dem diese Erschütterung mitschwingt, vom Kommentar schöngeredet wird.
Orest verzichtet auf Rache
Orest, der Krieger, versteckt sich hinter Iphigenies "reinem, kindlichen Vertrauen" und manövriert Thoas in die moralische Selbstüberwindung. Er verzichtet auf Rache. Aber damit nicht genug. Er soll, so will es die Schwester in einem rührenden Appell, den Deal auch mit innerer Zustimmung vollziehen.

Sie will ihn, gegen sein Interesse, zu einem guten Menschen machen und fordert dazu auf, ihr zum Abschied die Hand zu reichen. Die Bühnenanweisung sieht das nicht vor. Die letzten Worte sind das schmucklose "Lebt wohl!" des Skythen.
Sieg der Menschlichkeit
Die Menschlichkeit hat gesiegt, die Bitterkeit bleibt. Ein solcher Schluss war den Bildungsbeauftragten zu gewagt. Sie schreiben in einer Anmerkung den folgenden Kitsch in Goethes Stück: "Thoas reicht Iphigenie die Rechte und spricht das kurze, durch eine Gebärde des Schauspielers zu erläuternde Abschiedswort."

Unter dem Mikroskop ist sichtbar, dass Bildung eine Hypothek einschließt, die ihre Verwendung in ersten Paragraphen und auf Plakaten ins Lächerliche rückt.
Absurd und wieder interessant
Die Schulkinder lehrt man Völkerfreundschaft, die Volkswirtschaft setzt auf Expansion in den ehemaligen Ostblockländern, die Fremdenpolitik dichtet das Land gegen Zuwanderung ab.

Im Jahr 1800, als die Versfassung der "Iphigenie" in Wien uraufgeführt wurde, war diese Entwicklung noch nicht abzusehen. Aus Sicht der reichen Länder Europas den Ukrainer zu feiern, der seine Geisel für einen warmen Händedruck freilässt, ist so absurd, dass es schon wieder interessant sein könnte.
Der Weg zur Bildung führt über den Balkan
Zur feierlichen Einleitung eines Universitätsgesetzes taugt Goethes Bildungsbegriff jedenfalls nicht. Soviel hatte der Staatsrat in Weimar jedenfalls gesehen: der Weg zur Bildung führt über den Balkan.

Und die Schulkinder? In einem zeitlos schönen Spruch bittet Goethes Iphigenie die Götter: "Rettet mich, und rettet euer Bild in meiner Seele!" Ohne Überstunden wird daraus keine Hilfe im Kulturkampf zu gewinnen sein.
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