Host-Info
Herbert Hrachovec
Institut für Philosophie, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Herbert Hrachovec :  Gesellschaft .  Wissen und Bildung 
 
Notizen zu 2002  
  Im Jänner 1970 hatte Saul Kripke an der Princeton University über "Naming and Necessity" gesprochen und die Sprachanalyse auf Jahrzehnte hin bereichert. Vom vergangenen Jahr ist so etwas noch nicht zu berichten. Vielleicht ist auch 2002 ein Vortrag gehalten worden, der die philosophische Diskussion der nächsten Jahre bestimmen wird - doch Silvester-Rückblicke in den Human- und Sozialwissenschaften beziehen sich auf bereits bekannte Personen oder Trends. Selbst Sensationen - wenn es so etwas geben sollte - brauchen in diesem Bereich länger.  
Gadamer: Vorbild einer akademischen Lebensform
Eine andere Eigenart dieses Metiers ist seine Bindung an Persönlichkeiten. Nach und nach werden das Stars des Fachgebietes, doch es ist nicht allzu lange her, da waren es schulbildende Gelehrte. Ein Vorbild dieser akademischen Lebensform ist letztes Jahr gestorben: Hans-Georg Gadamer.

Er hat die Lehre vom sachgerechten Textverstehen (Hermeneutik), die mit der Bibelauslegung (F. Schleiermacher) begann und dann zur Grundlage der Geisteswissenschaften aufstieg (W. Dilthey, M. Heidegger), so aktualisiert, dass sie in der Methodenlehre interpretativer Disziplinen brauchbar wurde. Und seine aufgeschlossene Neugierde reichte bis zu den neuen Medien.
->   Gadamer ist gestorben (science.ORF.at)
->   Gadamer Homepage
Rawls' Grundlagen der Gerechtigkeit
Eine zweite Schlüsselfigur der zeitgenössischen Philosophie starb Ende November. John Rawls, emeritierter Professor an der Harvard University, hat ein ungemein einflussreiches Genre politischer Philosophie begründet. Seine Frage nach den Grundlagen von Gerechtigkeit im nationalen und internationalen Maßstab beruht auf einem Gedankenexperiment.

Wie muss ein Staat beschaffen sein, den jemand akzeptiert, der die eigene Position im erst im Planungsstadium befindlichen Gemeinwesen nicht kennt? Ein Sozialverband, der unter dieser Voraussetzung aufgebaut wird, würde Gerechtigkeit ohne Ansehen der Person gewährleisten.
->   Moralphilosoph John Rawls ist gestorben
->   John Rawls (Philosophy Research Base)
Tugendhats Glosse zum Krieg
Als dritte Respektsperson ist Ernst Tugendhat zu nennen, der freilich nicht zum Typ des ausgewogenen Forschers gehört. In der "ZEIT" veröffentlichte er am 16.5. eine Glosse zum kommenden Krieg. "Hauptsache, dass sich immer wieder die Bösen identifizieren lassen, gegen die man sich zusammenschließen kann, im Kampf gegen, nicht für, und dass das Öl gesichert wird."

Er endet mit dem Hinweis auf ein Bild von Breughel "auf dem ein Blinder andere Blinde in einer Reihe wie Kamele hinter sich her in einen sumpfigen Teich führt." Seine neuesten Forschungen zu Anthropologie und Nietzsche sowie den Wurzeln von Religion und Mystik präsentierte Tugendhat auf einer Vortragsreise durch Deutschland.
->   Mitschnitt der Vorträge als Audiodatei
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Buch-Tipps
Als nächstes zu den Büchern. Das ist Geschmackssache, ich erwähne ein kleines, ein mittelgrosses und ein dickes. Die Klasse Leichtgewicht kann philosophisch durchaus ergiebig sein. Leszek Kolakowski ist eingeweiht, er sieht gern Übertragungen von Boxkämpfen. Die deutsche Fassung seiner "Minitraktate über Maxi-Themen" verzeichnet dieses Detail im Kapitel über Rekorde, die nach der Vermutung des Autors einer Hoffnung auf Unendlichkeit entspringen.

Im Herbst des Jahres erschien Bernhard Waldenfels' "Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik". Es zieht einen Bogen von der überlieferten Theorie der Seelenkräfte bis zum Problemfeld, das sich gegenwärtig als Biopolitik konstituiert. "Erfahrungen machen" ist, so Waldenfels, doppelt deutbar, im Sinn von Ereignissen, die einer Person widerfahren, aber auch als Produktion solcher Ereignisse. Beides zusammen gibt die Mischung, in der über die sinnlich-technische Welt zu verhandeln ist.
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"Who is Who" der Universitätsphilosophie
In der Wirtschaft heißt es "Leistungsschau", in der Philosophie sind es die großen Tagungen. Der "XIX. Deutsche Kongress für Philosophie" hat im September in Bonn stattgefunden. Er stand unter dem Motto "Grenzen und Grenzüberschreitungen". Wer einen schnellen Blick ins "Who is Who" der deutschen Universitätsphilosophie machen will, sieht sich als Schnappschuss die Webseite der Veranstaltung an.
->   Philosophie-Kongress: Grenzen der Gentechnik (science.ORF.at)
->   Website des "XIX. Deutschen Kongress' für Philosophie"
Die Sektionsbeiträge sind in einem 1.246 Seiten starken Band erschienen, einer repräsentativen Dokumentation der "scientific community" in ihrer traditionellen Erscheinungsform.

Für Interessenten, die schnelle Informationen brauchen, empfehlen sich die Portale von Dieter Köhler (philo.de) oder Claus Oszsuszky (Philosophische Bücherei).
->   Die Sektionsbeiträge
->   philo.de
->   Philosophische Bücherei
Politik und Philosophie
Politik reicht tief in die Philosophie und nicht nur so, dass Theoretikerinnen (m/w) zu Fragen der Gerechtigkeit, der Demokratie oder des Krieges Stellung nehmen. Ihre eigene Position ist in einem politischen Spektrum angesiedelt, genauer: in mehreren solchen Bezugssystemen.

Eine materialreiche, inhaltlich umstrittene Dissertation von Christian Tilitzki recherchiert "Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich". Die Spätfolgen der damaligen Ereignisse reichen bis in die Gegenwart. Noch immer gibt es Streit um die Einschätzung der Parteimitgliedschaft prominenter deutscher Nachkriegsphilosophen, z.B. Wolfgang Cramers.
->   Mehr zum Buch von Tilitzki in perlentaucher.de
Wie bedeutend ist die deutschsprachige Philosophie?
Ein weiterer Bezugspunkt ist Standes- und Standortpolitik. Ihr galt eine aufschlussreiche Kontroverse im populären Almanach "Information Philosophie". Ansgar Beckermann (Bielefeld) und Wolfgang Spohn (Konstanz) warnen vor zunehmender Bedeutungslosigkeit der deutschsprachigen Philosophie. Hermeneutik und Gesinnungspflege können sich international, wo nach anglo-amerikanischen Maßstäben gerechnet wird, kaum durchsetzen.

Die Gegenposition vertreten der Präsident des erwähnten deutschen Philosophiekongresses Wolfram Hogrebe (Bonn) und Herbert Schnädelbach (Berlin). Ein einziger Standard, der noch dazu vom ökonomischen Durchsetzungsvermögen der großen englisch-sprachigen Verlage getragen wird, ist provinziell, selbst wenn er sich global verbreitet.
->   Information Philosophie
UG 2002: Abkehr von der akademischen Selbstbestimmung
So ist, mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des 2. Weltkrieges, die Vertreibung der deutschen Intelligenz, die dem anglo-amerikanischen Raum entscheidende Impulse zuführte, noch immer wirksam. Klimawechsel sind langfristige Prozesse.

Aus österreichischer Sicht besteht kein Zweifel, welches Ereignis des Jahres 2002 die Bildungspolitik - und damit die philosophische Lehre und Forschung - in den nächsten Jahren dominieren wird: das im Sommer von den Koalitionsparteien beschlossene Universitätsgesetz (UG). Es bedeutet die Abkehr vom Hochschulmodell (mindestens) des vergangenen Jahrhunderts, der akademischen Selbstbestimmung im Rahmen staatlicher Bildungshoheit.
Uni-Struktur ist Wirtschaft nachempfunden
Die neue Universitätsstruktur ist der Wirtschaft nachempfunden und hat mehr mit Aufsichtsrat und Firmenleitung, als mit akademischen Ämtern zu tun. Die demokratische Verfassung dieser öffentlichen Körperschaft, welche aus der Reformbewegung der 70er Jahre stammt, wird im Übergang zu einer Institution mit kurzen Befehlswegen weitgehend gestrichen.

Wie in Betrieben, die am Markt reüssieren sollen, liegt die Entscheidungsvollmacht bei einer schmalen Spitze von Managern, die ökonomischen Erfolgsprinzipien verpflichtet sind. Die Forschungspolitik wird unter diesen Voraussetzungen in den Händen außergewöhnlich mächtiger Intendanten liegen, um die sich ein Hofstaat von Klienten sammelt.

Das Jahr 2002 bedeutet hierzulande das Ende jener Ära, in der Einrichtungen höherer Bildung im Alltag demokratisch arbeiteten. Das ist, auch aus kurzer Distanz gesehen, eine atemberaubende Perspektive.
->   Mehr zur Uni-Reform in science.ORF.at
 
 
 
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