Host-Info
Herbert Hrachovec
Institut für Philosophie, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Herbert Hrachovec :  Gesellschaft 
 
Wittgenstein privat: Philosophie und Leben  
  Für das Verhältnis zwischen Beruf und Privatleben gelten unterschiedliche Regeln. Eine Versicherungsagentin kann dreimal geschieden sein, ein Religionslehrer eher nicht. Bei Politikerinnen ändern sich die Sitten je nach Zeit und Kontinent. Ein interessanter Fall sind Philosophen.  
Philosophen: Abstrakt und doch konkret
In einer Hinsicht ist die Arbeit mit Gedanken abstrakt und unabhängig von konkreten Lebensumständen. Dennoch verhält es sich nicht wie in der Biochemie oder Sprachwissenschaft. Charakteristisch für diese Tätigkeit ist unter anderem der Bezug auf ein breiteres Publikum. Da geht es nicht nur um Gedanken, sondern auch darum, wie sie sich im Leben auswirken.
Musterbeispiel Wittgenstein
An Ludwig Wittgenstein lassen sich die beiden Blickwinkel gut zeigen. Seine Beiträge zur Logik, Sprachphilosophie und Metaphysikkritik werden in der Fachwelt ohne Ansehen der Person diskutiert. Sein Leben fällt allerdings aus dem Rahmen der gewöhnlichen Berufsphilosophie.

Zahlreiche Anekdoten belegen Wittgensteins Exzentrik, auch in der Verwirklichung seiner Überzeugungen. Im Vorwort zum Tractatus Logico-Philosophicus behauptet er, die philosophischen Probleme definitiv gelöst zu haben; dann wechselt er den Beruf. Das ist ein frühes, spektakuläres Beispiel.
Leben-Werk-Interferenzen erst jüngst erforscht
Lange Zeit liefen die beiden Sichtweisen nebeneinander her. Der Fachdiskurs und die Aufzeichnung von Lebensspuren interferierten wenig. Jüngere Publikationen verändern das Bild. Ein Anlass ist die Veröffentlichung von Tagebüchern der Jahre 1930-32 bzw. 1936-37, die 1993 aus dem Nachlass eines Freundes (Rudolf Koder) wieder auftauchten.

In ihnen mischen sich Notizen über die eigene Befindlichkeit unvermittelt mit philosophischen Aphorismen. Mehr noch, sie kombinieren sich zu autobiographischen Pointen.
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"Als ich vor 16 Jahren den Gedanken hatte, dass das Gesetz der Kausalität an sich bedeutungslos sei und es eine Betrachtung der Welt gibt, die es nicht im Auge hat, da hatte ich das Gefühl vom Anbrechen einer Neuen Epoche." (aus: Denkbewegungen. Tagebücher 1930-32, 1936-37)
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Bedeutungslosigkeit im Tractatus und im Leben
Diese Bedeutungslosigkeit ist ein wichtiges Thema im Tractatus und koinzidiert in Wittgensteins Rückblick mit einem Gefühl.

Die Herausgeberin der Tagebücher greift kräftig in die Tasten:
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"Durch Eintragungen sehr persönlichen Charakters wird auch Einblick in den 'Menschen' Wittgenstein vermittelt und der - erst in jüngster Zeit in der Forschung systematisch berücksichtigte - enge Zusammenhang seiner Lebensprobleme mit seiner philosophischen Denkweise sichtbar gemacht." (aus: ebd.)
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Greift diese In-Beziehung-Setzung von Werk und Leben?
Die Bemerkung lenkt die Beschäftigung mit Wittgenstein in eine unerwartete Richtung. Sie orientiert sich am Gefühlsleben des Philosophen und setzt sich zum Ziel, es systematisch mit seiner Arbeit in Beziehung zu setzen. Solche Querverbindungen spielen bei Versicherungsagentinnen keine nennenswerte Rolle.

Man kann sich fragen, ob sie bei Philosophen greifen. Schließlich interessiert die Öffentlichkeit der Inhalt theoretischer Stellungnahmen und nicht die Stimmung, in der sich die Autorin befindet. Die ist eher etwas für den Freundeskreis. (Manchmal für die Skandalpresse.)

So glatt, wie dieser Einwand meint, lassen sich die beiden Seiten aber tatsächlich nicht trennen. In Wittgenstein. Biography and Philosophy versuchen Experten mit verschiedenen Methoden in den Bereich der Überschneidung zwischen Philosophie und Leben vorzudringen. Der Beitrag Alfred Nordmanns geht von folgender Vermutung in den Tagebüchern aus:
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"Die Denkbewegung in meinem Philosophieren müsste sich in der Geschichte meines Geistes, seiner Moralbegriffe und dem Verständnis meiner Lage wiederfinden lassen." (ebd.)
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Wittgenstein selbst schlägt die Brücke
Handfester ist der Zusammenhang kaum formulierbar. Wittgenstein selbst schlägt die Brücke zwischen Arbeit und Lebenszusammenhang. J. Conant weist auf die zahlreichen Stellen hin, in denen der Philosoph die Sache an seine Person hängt.

1930 schreibt er im Entwurf zum Vorwort eines geplanten Buches, es sei mit gutem Willen geschrieben. Soweit Eitelkeit hereinspielt, möchte er es verurteilt wissen. "Er kann es nicht weiter von diesen Ingredienzien reinigen, als er selbst davon rein ist."
Was trägt Charakter zur Philosophie bei?
Hier wird die Querverbindung zwischen Werk und Charakter zu einer Demutsgeste des Autors angesichts einer dominanten Kontrollinstanz. Wofür er sich entschuldigt, hat niemand von ihm verlangt. Er selbst ist der Scharfmacher, das ist allerdings ein mögliches Verhältnis zwischen Philosophie und Leben. Die Frage lautet: Was trägt das zur Philosophie der von Selbstzweifeln geplagten Person bei?

Anja Weiberg formuliert in einem weiteren Buch zum Thema die Ausgangsvoraussetzung:
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"Für Ludwig Wittgenstein sind Philosophie und Leben untrennbar miteinander verbunden, und an beide werden ethische Anforderungen gestellt: die Forderung nach Wahrhaftigkeit im Denken wie im Handeln." (aus: Der Denker als Seiltänzer. Ludwig Wittgenstein über Religion, Mystik und Ethik)
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Authentisch sein ...
Anders gesagt: Er verbietet sich das Schwindeln; keine doppelte Buchführung. Dahinter steckt der Verdacht, dasss jemand Theorie produziert, ohne für sie persönlich einzustehen. Ein bekanntes Beispiel dieses appellativen Standpunktes ist die Maxime "Ornament ist Verbrechen"; ein Wahlspruch des dissidenten Bürgertums zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Die kulturelle Produktion der Habsburgermonarchie wurde als verlogen attackiert; die neue Sachlichkeit versprach eine Entschlackung von Denk- und Verhaltensweisen.
... ist noch kein Qualitätsmerkmal
Was ist von diesem Authentizitätspostulat zu halten? Wer sich vornimmt, in seiner Arbeit und im Leben ehrlich zu sein, ist sicherlich, wie man so sagt, ein guter Mensch. Das ist freilich keine berufliche Qualität. Mein Friseur kann mich verunstalten, auch wenn er eine grund-ehrlicher Kerl ist.

Moralische Integrität und professionelle Fähigkeiten liegen auf unterschiedlichem Niveau. Es gibt genügend Mitbürger mit übermächtigem Ich-Ideal und unbedeutendem Arbeitserfolg.

Interessant wird die Frage erst, wenn die Person abgesehen von ihrer psychischen Verfassung, also z.B. durch ihr Wirken, Aufmerksamkeit verdient. Dann ist es möglich - so legen die zitierten Bücher nahe - dass der individuellen Integrität besondere Bedeutung zukommt. Der "Mensch Wittgenstein", so wird unterstellt, bestimmt auch seine Philosophie. Wir dürfen sie nicht aus der Einbettung in seine Lebensweise lösen.
Die Grenzen der Text-Kontextualisierung
Irgendwie ist das selbstverständlich. Wittgenstein stammt aus der Hochburgeoisie des fin de siecle und nicht aus einer deutschen Kleinstadt zur Zeit der napoleonischen Kriege. In diesem Sinn ist die Kontextualisierung seiner Bücher vertretbar und ein Gegengewicht zur glorifizierenden Tendenz der "reinen" Lehre.

Als Verbindung heterogener Perspektiven verlangt diese Betrachtung eine spezielle Fertigkeit. Aber sie stößt auch auf Grenzen.
Ergebnis der Arbeit macht Umgebung interessant
Doppelte Buchführung zwischen Arbeit und Leben ist schwerlich zu verhindern. Wenn "das ganze Leben Arbeit wird", droht der Nervenzusammenbruch. Und es ist das Ergebnis der Arbeit, welches die Umgebung, in welcher sie entstanden ist, interessant macht.

Was hat der Schreibtisch, an dem ein epochales Buch entstanden ist, mit seinem Inhalt zu schaffen? Er war am Produkt beteiligt, aber eher als Reliquie. Die Stoßseufzer Wittgensteins sind Zeugnis eines unglücklichen Naturells, das auch in seine Schriften eingegangen ist. Darum ist er kein Philosoph von Weltgeltung. Das interessiert die Journalisten.

Es hätte auch genügt, etwas mehr im Tagebuch zu lesen. Ein treffender Vergleich, der den philosophischen Kern des Themas trifft, ist unschwer zu finden.
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"Solange man auf der Bühne ist, ist man eben Schauspieler, was immer man auch macht." (aus: Denkbewegungen. Tagebücher 1930-32, 1936-37)
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Die eindeutige Trennline der Theatersituation
Die Theatersituation ist zweigeteilt; Rollen auf der einen Seite, auf der anderen Publikum. Wer Freude an Raffinessen hat, kann auch von einer Rolle des Publikums sprechen, Schauspielerinnen in den Zuseherraum setzen oder Besucherinnen auf das Podium rufen.

Es nützt alles nichts. Sobald die Trennlinie gezogen ist, verwickelt sich der Schauspieler in Widersprüche, wenn er - in seiner Rolle - die Trennung aufzuheben sucht.
Relative Autonomie vs. "Leben"
Familie, Politik, Kunst, Philosophie - und Leben. In allen Fällen steht ein Bereich relativer Autonomie der Universalkategorie "Leben" gegenüber. Der erste Schritt kennzeichnet Besonderes, das eigenen Regeln gehorcht; der zweite Schritt widerruft die Besonderheit und will sie in ein Allgemeines einbeziehen. Das ist schon möglich, auch Politikerinnen sind Menschen, aber die Pointe geht verloren.
Wittgenstein kann sich gegen Veröffentlichungen nicht wehren
Warum will man die Differenz entfernen, mit der die Erörterung begonnen worden ist? Wittgensteins Einsichten sind seinem Leben abgewonnen; er war streng gegen sich und seine Umwelt. In Aufzeichnungen, deren Veröffentlichung er niemals gutgeheißen hätte, bietet er das Schauspiel eines gequälten Charakters.

Hat das philosophisches Gewicht? Er kann sich nicht gegen die Nachwelt wehren. Seine Arbeit spricht für sich.
->   Tracing Wittgenstein. Digital Explorations
->   Wittgenstein Links
->   Die weiteren Host-Beiträge von Herbert Hrachovec
 
 
 
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