Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Medizin und Gesundheit .  Gesellschaft .  Leben 
 
Pflegeethik - ein neues Fachgebiet der Gesundheitsethik  
  Während es inzwischen eine Reihe von Lehrbüchern der Medizinethik gibt, ist die Zahl der Lehrbücher der Pflegeethik im deutschsprachigen Raum noch gering. Hier besteht jedenfalls - auch innerhalb der noch jungen Disziplin der Pflegewissenschaften - auf dem Gebiet der Pflegeethik ein gewisser Nachholbedarf.  
Neuerscheinung
 


Ulrich H.J. Körtner, Grundkurs Pflegeethik (UTB 2514), Facultas, Wien 2004, 268 S., Euro 23,50
->   Facultas Universitätsverlag
Angewandte Ethik
Begriff und Gegenstand einer Pflegeethik gehören in das Gebiet der Angewandten Ethik, die in den letzten Jahren einen starken Aufschwung genommen hat. Fragen der Lebensführung und des ethisch verantwortlichen Handelns sind in der modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft derart komplex geworden, dass in den zurückliegenden Jahrzehnten eine ganze Reihe verschiedener Bereichsethiken entstanden ist.

Beispielhaft seien Wirtschaftsethik, Umweltethik, Wissenschaftsethik, Technikethik, Rechtsethik, politische Ethik, Medienethik oder Medizinethik aufgeführt. Es entspricht dieser allgemeinen Entwicklung, wenn auch für die Pflege eine eigene Form der Bereichsethik entwickelt wird.
Ethik des Gesundheitswesens
Pflegeethik ist ein Teil der allgemeinen Ethik des Gesundheitswesens oder abgekürzt der Gesundheitsethik. Die Ethik des Gesundheitswesens umfasst die ethischen Fragestellungen nicht nur des ärztlichen Handelns, sondern aller Gesundheitsberufe, geschieht doch das medizinische Handeln heute in enger Kooperation unterschiedlicher Berufe.

Gesundheitsethische Probleme reichen aber über die berufsethischen und berufsrechtlichen Fragen der Gesundheitsberufe hinaus. Sie beschränken sich auch nicht auf Probleme der Individualethik oder der Personalethik. Gesundheitsethik ist vielmehr ein Teilgebiet der Sozialethik.
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Ethik in Organisationen
Medizinisches und pflegerisches Handeln findet innerhalb von Institutionen und Organisationen statt, z.B. in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Wie zur Medizinethik gehört darum auch zur Pflegeethik die Frage nach Strukturen und Verfahren der ethischen Urteilsbildung in Organisationen und Institutionen. Neben Therapie, Pflege und Fürsorge umfasst sie auch den Bereich der Vorsorge und der Gesundheitspflege. Fragen der medizinischen Ethik und der Gesundheitsethik können heute nur interdisziplinär und interprofessionell diskutiert werden.

Buchtipp:
Andreas Heller/Thomas Krobath (Hg.), OrganisationsEthik. Organisationsentwicklung in Kirchen, Caritas und Diakonie, Lambertus, Freiburg i.Br. 2003
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Pflegeethik und Medizinethik
Gelegentlich wird gefragt, ob neben der Medizinethik oder innerhalb der Pflegewissenschaften eine eigene Bereichsethik für die Pflege notwendig und begründbar ist. Zwar muss man sagen, dass sich pflegeethische und medizinethische Fragen überschneiden, z.T. sogar weitgehend. Jedoch haben Pflegende und Ärzte oder Ärztinnen unterschiedliche Kompetenzen, die auch rechtlich voneinander abgegrenzt sind. Zu den grundlegenden Voraussetzungen jeder Berufsethik gehört es, die gesetzlichen Kompetenzen nicht zu überschreiten.

Sodann haben die Pflegenden täglich mehr Kontakt zu den Patienten und Patientinnen als die behandelnden Ärztinnen und Ärzte. In der Pflege und in der Kommunikation mit den Patienten und Patientinnen ergeben sich spezifische Konflikte, die man nicht als medizinisch im engeren Sinne, sondern als ethische Probleme der Pflege bezeichnen kann.

Außerdem sind die Ziele der Medizin von denen der Pflege zum Teil durchaus verschieden. Eben darum ist eine spezifische Pflegeethik vonnöten, die als Teil einer allgemeinen Ethik des Gesundheitswesens zu konzipieren ist.
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Beispiele für ethische Probleme in der Pflege
* Umgang mit "schwierigen" Patienten und Patientinnen
* Kommunikation mit den Angehörigen (insbesondere mit "schwierigen" Angehörigen)
* Umgang mit geistig verwirrten Personen
* Fixierung von Patienten oder Patientinnen (z.B. in der Geriatrie, in der Psychiatrie oder in der Intensivmedizin)
* Unterbringung, Wohn- und Lebensbedingungen von Patienten und Patientinnen in der Langzeitpflege
* Zuwendung zu komatösen Patienten und Patientinnen
* Pflege bei Inkontinenz
* Sexualität und sexuelle Bedürfnisse in der Langzeitpflege (Psychiatrie, Geriatrie)
* Verhütung, Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch (auch in der Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie)
* Aggression und Gewalt in der Pflege (besonders in der Psychiatrie und Geriatrie)
* Probleme der transkulturellen Pflege (Umgang mit Menschen aus anderen Kulturkreisen und unterschiedlicher religiöser Herkunft)
* Umgang mit dem Leichnam nach Eintritt des Todes
* Betreuung der Angehörigen während des Sterbeprozesses und nach Eintritt des Todes
* Ethik in der Pflegeforschung
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Ein integrativer Ansatz
Wenn für eine eingeständige Pflegeethik argumentiert wird, soll damit kein Säulenmodell etabliert werden, welches Medizinethik und Pflegeethik sowie die Ethik anderer Gesundheits- und helfender Berufe additiv (unter dem Dach einer Gesundheitsethik) nebeneinander stellt, sondern ein integratives Konzept, das von der wechselseitigen Beeinflussung und Kooperation der verschiedenen Berufe ausgeht, wie es der Arbeit im interprofessionellen Team entspricht (oder doch entsprechen sollte).

Die Überschneidung der Handlungs- und Ethikfelder von Medizin und Pflege resultiert daraus, dass das Handeln beider auf den Patienten oder die Patientin ausgerichtet ist. Die Patientin bzw. der zu Pflegende steht im Zentrum der Schnittmenge von Pflegeethik und Medizinethik.

Pflegeethik als eigenständiger Bereich der Gesundheitsethik neben der Medizinethik hat die Aufgabe, die besondere Rolle und Verantwortung der Pflegenden in den genannten Situationen zu reflektieren. Das schließt auch die Frage ein, wie sich die moralische Verantwortung der Pflegenden zu ihren beruflichen und rechtlichen Befugnissen und ihrer eigenverantwortlichen Entscheidungskompetenz verhält.
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Weitere Literatur zur Pflegeethik
A. van der Arend/Chr. Gastmans, Ethik für Pflegende, Verlag Hans Huber, Bern 1996

M. Arndt, Ethik denken. Maßstäbe zum Handeln in der Pflege. Georg Thieme Verlag, Stuttgart 1996

E. Kemetmüller (Hg.), Berufsethik und Berufskunde für Pflegeberufe. Verlag Wilhelm Maudrich, Wien 2001

D. Sperl, Ethik der Pflege. Verantwortetes Denken und Handeln in der Pflegepraxis, Kohlhammer, Stuttgart 2002
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Stufen zur Ethikkonpetenz
"From Novice to Expert" heißt eines der wichtigsten Werke zum philosophischen und pflegewissenschaftlichen Verständnis der zeitgenössischen Gesundheits- und Krankenpflege. Seine Verfasserin ist Patricia Benner. Im Anschluss an das Modell der Brüder H.L. und S.E. Dreyfus entwickelt Benner ein Stufenmodell des Kompetenzerwerbs in der Krankenpflege.

Angesichts der zunehmenden Professionalisierung und Institutionalisierung von Bereichsethiken wie der Medizin- und der Pflegeethik liegt es nahe, sich auch über Stufen zur Ethikkompetenz Gedanken zu machen. Ein gewisses Maß an ethischer Kompetenz ist in der Pflege nicht nur für die eigene Entscheidungsfindung vonnöten, sondern auch für die Funktion der Beratung von Pflegebedürftigen. Pflegeberatung sollte eine gewisse Kompetenz zur ethischen Beratung einschließen.

Literaturhinweis:
Patricia Benner, Stufen zur Pflegekompetenz. From Novice to Expert, 3. Nachdruck. Verlag Hans Huber, Bern 2000
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Ethik in der Aus-, Fort- und Weiterbildung
Entsprechend Benners Stufenmodell vom Anfänger zum Pflegeexperten sollte auch die ethische Kompetenz gefördert und entwickelt werden. Neben entsprechenden Unterrichts- und Weiterbildungsangeboten gehört dazu die praktische Einübung ethischer Urteilsbildung, z.B. in Form regelmäßiger Rounds, in denen Fallbeispiele diskutiert werden. Da sich ethische Kompetenz nicht einfach naturwüchsig entwickelt, ist auch die Möglichkeit von Ethiklehrgängen zu fördern, die mit einem Zertifikat abschließen.
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Notwendig: Ein interprofessionelles Gesamtkonzept
Wenn Ethik in der Pflege und in der Medizin aber nicht ein Fremdkörper bleiben soll, müssen Initiativen zur Verbesserung der pflege- und medizinethischen Ausbildung gesetzt werden. Wünschenswert ist ein Gesamtkonzept, das zwischen Grundstufe und Aufbaustufen unterscheidet und neben regelmäßigen Fortbildungen in Form von Rounds Ausbildungsmodule enthält.

Eine akademische bzw. universitäre pflege- oder medizinethische Ausbildung lässt sich dann nochmals in Grund- und Aufbaustufen, vom Grundstudium bis zur Promotion, untergliedern. Zum akademischen Pflegeethik-Experten wird man freilich nicht nur durch ein reines Theoriestudium. Ein vertieftes Studium der Pflegeethik (für das Curricula erst noch zu entwickeln sind) muss auch Praxiselemente (Rounds, Praktika, Projekte, berufsbegeleitendes Studium) enthalten.

Für die Aus-, Fort- und Weiterbildung heißt dies, dass interprofessionelle Bildungsangebote zu entwickeln sind, an denen Ärzte, Ärztinnen und Pflegende gemeinsam teilnehmen. Auch im Rahmen pflegewissenschaftlicher Studiengänge darf die Ethikausbildung nicht auf eine separierte Pflegeethik beschränkt werden, sondern muss Fragen der Medizinethik mitberücksichtigen. Umgekehrt sind im Rahmen medizinethischer Studienangebote auch die besonderen Fragestellungen, die sich aus Sicht der Pflege ergeben, eigens zu thematisieren.

Im pflegewissenschaftlichen Curriculum sollte das Studienfach "Pflegeethik" oder "Pflege- und Medizinethik" heißen, nicht aber nur "Medizinethik". Die Pflegeethik darf nicht länger als Teilausschnitt der Medizinethik oder gar nur als deren Anhang behandelt werden.
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->   Die Beiträge von Ulrich Körtner in science.ORF.at
 
 
 
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