Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft 
 
Megatrend Religion?
Gegensätzliche Ansichten in der Religionsforschung, Teil 1
 
  Während sich die christlichen Kirchen leeren, sprechen Religions- und Trendforscher von einer Rückkehr der Religion und erklären die Säkularisierung zu einem modernen Mythos. Realität oder Wunschdenken? Das ist hier die Frage.  
"Megatrend Spritualität"
In Kooperation mit der Evangelischen Kirche hat die Erzdiözese Wien im vergangene Herbst eine Werbeinitative für den Religionsunterricht gestartet. Eine Plakatserie spricht vom "Megatrend Spiritualität". Religionsunterricht, so die Botschaft, liegt im Trend der Zeit.
->   'Plakativer' Megatrend Spiritualität (www.dialog.at)
Parallel dazu hat die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Wien im Wintersemester 2003/04 eine Ringvorlesung zum Thema "Spiritualität: Mehr als ein Megatrend?" veranstaltet.
->   Ringvorlesung zum Megatrend Spiritualität (Universität Wien)
Religiöser Wandel
Schon seit längerem machen neureligiöse Bewegungen, New Age und Esoterik von sich reden. "Spiritualität" dient als Sammelbezeichnung für die unterschiedlichsten Formen der Sinnsuche, vom Interesse an fernöstlichen Religionen über Tai Chi und Homöopathie bis zu allen möglichen Spielarten der Lebensberatung. Gleichzeitig verlieren, jedenfalls in Europa, das Christentum und die Kirchen an Bedeutung. Hinzu kommt die Präsenz von anderen Weltreligionen wie dem Islam, die vor allem auf Migration zurückzuführen ist.

Matthias Horx, in Wien ansässiger Trendforscher, meinte schon vor zehn Jahren eine "Respiritualisierung" beobachten zu können. Der aus Österreich stammende Religionssoziologe Peter L. Berger diagnostiziert eine "De-Säkularisierung" und selbst der angesehene deutsche Sozialphilosoph Jürgen Habermas spricht inzwischen von der "postsäkularen Gesellschaft".
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Das Unbehagen in der säkularen Kultur
Die Suche nach neuen und nachchristlichen Formen der Spiritualität deutet der renommierte Pastoraltheologen Paul-Michael Zulehner als Protest gegen die negativen Seiten der Moderne, als Einspruch gegen die Erniedrigung und Verwertung des Menschen als Humankapital oder Biomasse. Spiritualität sei die Suche nach dem Ich, das in der modernen Gesellschaft verloren zu gehen drohe, gleichzeitig aber auch die Suche nach Verwebung und Vernetzung, ein Ausbruch aus der Vereinsamung, eine Suche nach umfassender Heilung und nach einer Ethik der Liebe.
->   Paul-Michael Zulehner, Megatrend Religion, in: Die Stimmen der Zeit, 2003, Heft 3, S.87-96 (pdf-Dokument)
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"Die unsichtbare Religion"
Umstritten ist allerdings unter Religionssoziologen, wie weit man tatsächlich von einem Megatrend Religion in Europa sprechen kann. Ist die Säkularisierung tatsächlich nur ein moderner Mythos, wie schon vor Jahrzehnten der Soziologe Thomas Luckmann behauptet hat? Luckmann hat die These von der "unsichtbaren Religion" aufgestellt. Demnach sei Religion im Sinne eines menschlichen Grundbedürfnisses selbst noch unter der Oberfläche einer scheinbar völlig säkularisierten Gesellschaft vorhanden.

Literatur: Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, Suhrkamp, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1993
Auch andere Religionssoziologen wie Ulrich Oevermann und Theologen wie Trutz Rendtorff ziehen die These von der Säkularisierung Europas in Zweifel. Manche halten den Säkularisierungsbegriff inzwischen überhaupt für ungeeignet, um moderne Gesellschaften zu charakterisieren. Das Säkularisierungsparadigma wird zunehmend durch Pluralismus- und Pluralisierungstheorien verdrängt.
->   Ulrich Körtner: Megatrend Religion?, Teil 2
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