Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft 
 
Megatrend Religion - oder Gottesvergessenheit?
Gegensätzliche Ansichten in der Religionsforschung, Teil 2
 
  Wer die Säkularisierung in Frage stellt, muss mit einem denkbar weiten Religionsbegriff arbeiten, der selbst noch Fußballleidenschaft, Popkultur und Kunstgenuss als quasireligiös oder "religioid" interpretiert und das Phänomen Religion in der Freizeitgesellschaft, in der Werbung und im Wirtschaftsleben ausfindig macht.  
Säkularisierung - ein moderner Mythos?
Energisch bestritten wird das Dementi der Säkularisierung von dem Religionssoziologen Detlef Pollack, der an der Europa-Universität in Frankfurt/Oder lehrt. Behauptungen über die Wiederkehr der Religion und einen spirituellen Megatrend hält er für "Zeitgeiststimmungen, in denen sich das Modernitätsbewusstsein kritisch auf sich selbst wendet".

Teil 1 von "Megatrend Religion?" (samt User-Forum):
->   Ulrich Körtner: Megatrend Religion?, Teil 1
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Zahlen und Fakten
Der von Kritikern der Säkularisierungsthese ins Feld geführte Prozess der Respiritualisierung, so Detlef Pollak, wird weithin überschätzt. Pollack belegt seinen Einwand mit Zahlen aus Deutschland: In den siebziger Jahren, als die neuen religiösen Bewegungen ihren ersten Aufschwung verzeichneten, traten etwa 1,5 Millionen Menschen aus der evangelischen und etwa eine halbe Million Mitglieder aus der römisch-katholischen Kirche aus. Die Mitgliederzahl der neuen religiösen Bewegungen belief sich Ende des Jahrzehnts selbst bei großzügiger Schätzung auf höchsten 30.000. Das entspricht nicht einmal zwei Prozent der Verluste, den die Kirchen in diesem Zeitraum hinnehmen mussten.

Zwischen Mitgliedschaft in einer religiösen Gemeinschaft und einem allgemeinen Interesse an religiösen Fragen und Sinnangeboten muss natürlich unterschieden werden. Empirische Untersuchungen zeigen aber, dass selbst der Anteil derer, die selbst schon Erfahrungen mit alternativen Religionspraktiken wie New Age, Zen-Buddhismus oder Esoterik gemacht haben, in Deutschland nur bei 15 Prozent liegt.

Unter Jugendlichen ist der Anteil anscheinend größer. Rechnet man auch diejenigen hinzu, die praktische Erfahrungen mit Astrologie haben, kommt man immerhin auf 25 Prozent der Gesamtbevölkerung, die auf neue religiöse Angebote ansprechbar sind.
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Leere Kirchen - boomende Religion?
Bemerkenswert ist jedoch, dass Pollack einen Zusammenhang zwischen den institutionalisierten Religionsformen und individualisierten, auch synkretistischen Formen von Religiosität nachweisen kann. Je stärker sich Menschen einer traditionellen Religionsgemeinschaft, in unseren Breitengraden also vor allem einer der christlichen Kirchen, verbunden fühlen, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie an Gott glauben oder sich als religiös verstehen.

"Religiosität", so Pollack, "ist noch immer vor allem kirchlich bestimmt." Selbst wenn man Religion weit fasst und auch noch das Staunen über die Wunder der Natur, das Ergriffensein von einer bestimmten Musik oder das besondere Gefühl von Gemeinschaft im Gespräch hinzunimmt, sind es immer noch eher die Kirchennahen, die solche Erfahrungen als religiös empfinden. Dagegen geben viele Menschen, die aus der Kirche austreten, als Motiv an, sie brauchten in ihrem Leben keine Religion oder könnten mit dem Glauben nichts mehr anfangen.

Pollack resümiert: "Die Formen der Religion wandeln sich in den modernen Gesellschaften. Zweifellos. Aber mit dem Formenwandel geht ein Bedeutungsverlust der Religion einher, der alle ihre Dimensionen betrifft, ihre institutionelle und rituelle ebenso wie ihre individuelle und erfahrungs- und überzeugungsmäßige. Es ist einfach nicht wahr, dass die Kirchen sich leeren, aber Religion boomt."
"Potentielle Religion"?
Auch die Arbeitsgruppe Pastoralsoziologie unter der Leitung von Paul-Michael Zulehner muss einräumen, dass im substanziellen, klassischen Sinn von Religion von einem Megatrend nichts zu bemerken sei. Im Gegenteil lasse sich beobachten, wie sich Religiosität im Sinne einer bewussten und existenziellen Entscheidung für eine bestimmte Religion oder Weltanschauung verflüchtige, "verdunste" oder überhaupt ganz verschwinde. Die Studiengruppe spricht aber auch von "religio potentialis", d.h. von einer potentiellen Religiosität, die sich überall auffinden lasse. In diesem Sinne könne man sehr wohl von einem Megatrend Religion sprechen.

Literatur: Regine Polak (Hg.), Megatrend Religion? Neue Religiositäten in Europa, Schwaben Verlag, Ostfildern 2002
->   Arbeitsgruppe Pastoralsoziologie: Megatrend Religion
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Auf der Suche nach Sinn
Auch Pollak arbeitet mit einem weit gefassten Religionsbegriff, der sich auf Religionsgemeinschaften, ihre Glaubensüberzeugungen und ihre religiöse Praxis beschränkt. Was Pollack aber in Abrede stellt, ist die Unausweichlichkeit oder Notwendigkeit von Religion.

Religion, so die These Pollacks, ist eine spezifische Antwort auf die Sinnfrage bzw. auf das Kontingenzproblem unter anderen, nichtreligiöse Lösungen. Von Religion spricht Pollack, wenn versucht wird, die Kontingenzproblematik mit Hilfe der Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz bzw. "durch Bezug auf das Unerfassbare" zu bewältigen. Pollack kombiniert also einen funktionalen mit einem substanziellen Religionsbegriff, um diesen einerseits weit genug halten, andererseits aber auch eingrenzen zu können.
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Moderner Gewohnheitsatheismus
Die neue Religiosität wird durch einen massenhaften Gewohnheitsatheismus relativiert, der mit dem kirchlich repräsentierten Christentum jede Religion überhaupt verabschiedet. Dieser Gewohnheitsatheismus arbeitet sich nicht mehr wie noch vor Jahrzehnten der Protestatheismus an der Theodizeefrage ab. Er lebt ganz selbstverständlich ohne Gott und hat dabei nicht das Gefühl, irgend etwas zu vermissen. Nicht, dass der Gewohnheitsatheismus keine Sinnfragen kennen würde. Aber mit dem Tod und anderen Sinnwidrigkeiten kann man offenbar auch ohne Gott fertigwerden, wie schon der evangelische Dietrich Bonhoeffer in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hellsichtig vorausgesagt hat.

Über den damit verbundenen Traditionsabbruch kann auch die Renaissance des Religiösen nicht hinwegtäuschen. Sofern nicht alles und jedes für "religioid" erklärt wird, kann man statt von einem Megatrend Religion mit gleichem Recht von einem Megatrend Gottvergessenheit sprechen.
Ein plakativer Megatrend
Initiativen zur Stärkung des Religionsunterrichts sind zu begrüßen. Das Thema "Religion" ist zu wichtig, um es im Fächerkanon öffentlicher Schulen zu vernachlässigen. Auch in der säkularen Gesellschaft ist Religion keine reine Privatsache, sondern ein öffentlichkeitswirksamer und kultureller Faktor. Die Krise des Religionsunterrichts hängt freilich auch mit der "Gotteskrise" (Johann Baptist Metz) in der Moderne zusammen.

Theologie und christliche Religionspädagogik können nicht mehr selbstverständlich davon ausgehen, dass der biblisch bezeugte Gott zumindest im Modus einer offenen und offengehaltenen Frage präsent ist. Nicht nur die christliche Antwort auf die Gottesfrage, sondern sogar diese selbst droht in Vergessenheit zu geraten. Verglichen mit dieser fundamentalen "Gotteskrise" bleibt die Debatte um den Megatrend Religion ein Oberflächenphänomen. Insofern handelt es sich leider tatsächlich nur um einen "plakativen" Trend.
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Literatur: Detlef Pollack, Säkularisierung - ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland, Mohr Siebeck, Tübingen 2003
->   Homepage Prof. Dr. Detlef Pollack
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->   Alle Beiträge von Ulrich Körtner in science.ORF.at
 
 
 
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