Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Leben .  Medizin und Gesundheit 
 
Leben und sterben lassen
Ethik am Lebensende, Teil 2
 
  Befürworter der aktiven Euthanasie argumentieren, in der modernen Medizin gebe es zahlreiche Grauzonen, in denen zwischen Tun und Lassen - konkret zwischen Sterbenlassen und aktiver Lebensbeendigung - nicht mehr klar unterschieden werden könne. Gegen die Tötung auf Verlangen gibt es aber gewichtige ethische Einwände.  
Tun und Lassen
Für das medizinische Handeln ist neu zu Bewusstsein zu bringen, dass nicht jedes ethisch verantwortete Lassen gleichbedeutend mit einem Unterlassen ist. Die Grenzen unseres Handelns, auch der Medizin, müssen darum in jeder Situation neu bestimmt werden. Das gilt auch an den Grenzen des Lebens.

Wie das Leben selbst, kann auch jedes Bemühen um Heilung nur fragmentarisch sein. Daher gibt es eine ethisch verantwortbare Begrenzung der Verantwortung, die es ermöglicht, das Scheitern therapeutischer Bemühungen und auch das Sterben in den Lebenszusammenhang zu integrieren.

Der erste Teil des Beitrags "Leben und sterben lassen - Ethik am Lebensende" ist am 13. April 2004 erschienen.
->   Ulrich Körtner: Leben und sterben lassen, Teil 1
Situative Ethik
Der Unterschied zwischen Tun und Unterlassen ist relativ, da auch ein Unterlassen im Effekt einem Tun gleichkommen kann.

Oberbegriff für Tun und Unterlassen ist derjenige des Handelns bzw. des Verhaltens. Der Unterschied zwischen Sterbenlassen und absichtlichem Töten bleibt auch in der Hochleistungsmedizin relevant - er kann aber nicht abstrakt, sondern nur im Kontext einer konkreten Situation bestimmt werden.

Hierbei spielt auch eine Rolle, ob man eine Handlung primär konsequentialistisch, d.h. nach ihrem Resultat, oder vor allem intentional, d.h. nach der leitenden Absicht, beurteilt. Der Unterschied lässt sich auch nicht allein an der jeweiligen Handlungsabsicht festmachen. Vielmehr sind über den isolierten Ursache-Wirkungs-Zusammenhang hinaus "die sozial eingeübten [!] Interpretationen der Gesamtsituation zu berücksichtigen, in der erst die moralische Qualifikation einer Handlung als gut oder böse möglich wird" (Chr. Frey/P. Dabrock).
Die Grenzen des Machbaren
Gegenüber der Neigung zum Aktivismus in Medizin und Pflege gilt es zu beachten, dass die aktive Intervention nicht in jedem Fall moralisch höher zu bewerten ist als der Verzicht auf sie. Die Entscheidung hat vielmehr immer vom Subjekt der Medizin auszugehen. Das aber ist der Patient oder die Patientin. Unter Umständen ist auch der Verzicht auf Diagnose und Therapie Bestandteil einer guten und humanen Medizin (E. Gillen).

"Der Entscheidung für eine bestimmte Diagnostik und Therapie muss die Indikation vorausgehen. Immer wieder muss die Frage gestellt werden, ob diese oder jene Maßnahme in jenem individuellen Fall wirklich angezeigt ist. Dient sie dem Patienten? Erleichtert sie sein Schicksal jetzt oder später?" (F. Anschütz)

Wo die ethisch an sich gebotene Lebensverlängerung in Sterbeverlängerung umschlägt, ist die Grenze des ethisch Vertretbaren an kurativer Therapie erreicht. Es geht in solchen Fällen aber nicht, wie immer wieder missverständlich formuliert wird, um einen völligen Therapieverzicht, sondern lediglich um die Reduktion bzw. Beendigung der kurativen Therapie, d.h. um die Umstellung der Therapie von der kurativen auf die palliative Versorgung des Patienten oder der Patientin.
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Definitionsprobleme des Sterbens
Die Frage, wo die Grenze zwischen Lebensverlängerung und Sterbeverlängerung verläuft, stellt uns freilich vor definitorische Probleme. Das gilt vor allem für die Intensivmedizin. Ob ein durch Kausaltherapie nicht mehr verbesserbarer Krankheitsverlauf zum Tode führt oder noch nicht, hängt schließlich in hohem Maße von den medizinischen Maßnahmen ab, die gesetzt werden. Daher ist es ähnlich wie beim Hirntodkriterium erforderlich, aus handlungstheoretischer Sicht eine Definition des Sterbens zu geben.

Eine Möglichkeit, das Sterben z.B. im Kontext der Intensivmedizin zu definieren, besteht darin, von der fehlenden Indikation für weitere kausaltherapeutische Maßnahmen auszugehen (Kriterium der Nutzlosigkeit/"futility"). Dann lässt sich folgende Definition geben:

Ein Sterbender ist ein Patient, bei dem lebensverlängernde Maßnahmen keinen Sinn mehr haben und unterbleiben sollen, weil sie bei nach Stand des Wissens aussichtsloser Grunderkrankung für den Patienten keine Hilfe mehr bedeuten, sondern nur noch das Leiden verlängern und den unvermeidlichen Eintritt des Todes verhindern wollen. "Sterben" ist also die Phase zwischen Abbruch der Behandlung aufgrund infauster (negativer) Prognose und dem Eintritt des Todes. In dieser Phase sollten nur mehr palliative Komfort-Maßnahmen gesetzt werden.
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Selbstbestimmtes Sterben
Grundsätzlich ist das Selbstbestimmungsrecht von Schwerkranken und Sterbenden zu stärken, sofern es nicht gegen das aus dem Recht auf Leben abgeleitete Tötungsverbot ausgespielt wird. Persönliche Überzeugungen und Werthaltungen von Patienten sind zu achten und der ausdrückliche Wille eines Menschen, was seine medizinische Behandlung betrifft, zu respektieren. Gegen seinen ausdrücklichen Willen darf niemandem, der entscheidungsfähig ist, eine medizinische Behandlung aufgezwungen werden.

Auch sind so genannte Patientenverfügungen, d.h. Willenserklärungen, in denen jemand bereits zu einem früheren Zeitpunkt für den Fall seiner Entscheidungsunfähigkeit als Sterbender bestimmte medizinische, lebensverlängernde Maßnahmen ablehnt, innerhalb ethischer Grenzen voll zu respektieren. Das gleiche gilt für Vorsorgemaßnahmen, in denen jemand für eine solche Situation eine Vertrauensperson zur Entscheidung benennt.

Vordrucke für Patientenverfügungen sind bei der Internationalen Gesellschaft für Sterbebegleitung und Lebensbestand e.V.(Wien) erhältlich.
->   Internationale Gesellschaft für Sterbebegleitung und Lebensbeistand
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Die Problematik von Patientenverfügungen
Bei aller berechtigten Kritik am herkömmlichen Paternalismus der Medizin ist es jedoch nicht unproblematisch, wenn ein selbstbestimmtes Sterben einseitig mit der Propagierung von Patientenverfügungen in Verbindung gebracht wird. Auf diese Weise wird nämlich der ohnehin fortgeschrittenen Verrechtlichung des Arzt-Patienten-Verhältnisses Vorschub geleistet, in der man ein Symptom einer tiefgreifenden Vertrauenskrise der modernen Medizin und ihrer Institutionen sehen kann.

Das Instrument der Patientenverfügung kann im Einzelfall durchaus sinnvoll sein. Wenn es aber einseitig propagiert wird, führt dies auch bei vielen Menschen zu neuer Verunsicherung - als ob diejenigen, die noch keine Patientenverfügung aufgesetzt haben, sich in einem Zustand größerer Rechtsunsicherheit und Schutzlosigkeit befinden. Das ohnehin nicht unproblematische Bild vom Patienten als mündigem Kunden wird so auf die Sterbenden ausgeweitet.
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Kultur der Vertrauens
Die Fürsorge- oder Garantenpflicht des Arztes und seine Verantwortung für den Einsatz medizinisch sinnvoller Mittel bleiben in jedem Fall bestehen. Die Frage lautet also was Mediziner und Institutionen tun können, um eine neue Kultur des Vertrauens aufzubauen, die nicht mit Bevormundung und Paternalismus zu verwechseln ist.

In diesem Zusammenhang sollte gesehen werden, wie sehr gerade Ärzte und Pflegende, wie überhaupt alle, die Sterbende begleiten, auf Unterstützung und öffentliche Solidarität, aber auch auf qualifizierte medizinethische Aus- und Fortbildung angewiesen sind. Dazu gehören auch praktische Maßnahmen zur Beseitigung von personellen, räumlichen und strukturellen Engpässen in der Pflege sowie eine gesellschaftliche, aber auch finanzielle Aufwertung des Pflegeberufs.

Gefordert ist eine Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, aber auch der Medizin und der Pflege in Krankenanstalten und Pflegeheimen, welche die Würde des Menschen im Leben wie im Sterben achtet.
->   Sämtliche Beiträge von Ulrich Körtner in science.ORF.at
->   Alles zum Stichwort Euthanasie im science.ORF.at-Archiv
 
 
 
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