Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Leben .  Medizin und Gesundheit .  Gesellschaft 
 
Spiritualität am Lebensende
Palliative Care als interkulturelle und interreligiöse Herausforderung
 
  Die WHO definiert Pallativmedizin als Behandlung von Patienten mit einer begrenzten Lebenserwartung aufgrund einer nicht heilbaren und weit fortgeschrittenen Erkrankung. Hauptziel der Begleitung ist die (subjektiv empfundene) Lebensqualität. Palliatives Handeln reicht freilich über den engen Bereich der medizinischen Versorgung hinaus. Sie schließt ausdrücklich die spirituelle Begleitung ein. Die multireligiöse Gesellschaft stellt uns dabei vor neue Anforderungen.  
Sinn des Lebens - Sinn des Sterbens
Die Frage nach dem Sinn des Lebens, nach seinem Ursprung und seinem Ziel, und schließlich die Frage nach dem Sinn des Leidens und des Todes stellt sich jedem Menschen ganz existentiell. Welche Antworten er darauf findet bzw. welche religiösen oder weltanschaulichen Antworten ihm glaubwürdig, hilfreich und tröstlich sind, muss jeder Mensch für sich selbst herausfinden. Gerade in existentiellen Krisen brauchen Menschen Hilfe bei ihrer Suche nach Sinn und Beistand in Situationen vermeintlicher Sinnlosigkeit.
->   Ulrich Körtner: Ethik am Lebensende, Teil 1
->   Ulrich Körtner: Ethik am Lebensende, Teil 2
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Religiöse Begleitung - ein grundlegendes Patientenrecht
Seelsorgerliche oder religiöse Begleitung gehört zu den in Österreich gesetzlich garantierten Patientenrechten. Entsprechende Bestimmungen finden sich im Kranken- und Kuranstaltengesetz (§ 5a KAG) sowie in der Paientencharta, die 2002 zwischen dem Bund und dem Land Steiermark vereinbart worden ist (Artikel 12).
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Palliative Care und Hospizbewegung
Aufgabe eines umfassenden Konzepts von Palliative Care ist es, nicht nur die physischen, psychischen und sozialen Leiden von Sterbenden zu lindern, sondern ihnen auch spirituellen Beistand zu leisten. Modellhaft ist Palliative Care in der Hospizbewegung verwirklicht. Heutige Konzepte von Palliative Care sind jedoch umfassender als der ursprüngliche Hospizgedanke. Es ist nämlich notwendig, die palliativmedizinische Versorgung der Bevölkerung flächendeckend zu verbessern. Nicht nur sollte in Krankenhäusern und Pflegeheimen personell, räumlich und einrichtungsmäßig für eine würdevolle Sterbebegleitung, sondern auch im Bereich der häuslichen Krankenpflege für entsprechende Möglichkeiten gesorgt werden.
->   Hospizarbeit und Hospizeinrichtungen in Österreich
Seelsorge und Sterbebegleitung in der multireligiösen Gesellschaft
Der ganzheitliche Ansatz von Palliative Care und Hospizarbeit schließt die spirituelle bzw. religiöse und seelsorgerliche Dimension ein. Gerade in dieser Hinsicht stellt der soziale Wandel in der Großstadt eine besondere Herausforderung dar. Über die Vielfalt der christlichen Konfessionen hinaus sind unsere Großstädte heutzutage von einer multireligiösen Situation gekennzeichnet.

Die größte nichtchristliche Religionsgemeinschaft in Deutschland, Österreich und anderen europäischen Staaten ist inzwischen der Islam, wobei auch hier nochmals zwischen Sunniten und Schiiten und verschiedenen islamischen Organisationen zu unterscheiden ist. Aber auch Juden, Buddhisten und Hindus sind in einer Großstadt wie Wien vertreten. Und schließlich darf die große Zahl der Konfessions- bzw. Religionslosen nicht vergessen werden.
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Das Angebot der christlichen Kirchen
Die Hospizbewegung ist christlichen Ursprungs und ein Beispiel vorbildlich gelebter Ökumene. Auch sonst wird die christliche Krankenhausseelsorge heute als ökumenische Aufgabe begriffen. Daher werden z.B. in Wien auch Fortbildungsangebote für Krankenhausseelsorger und -seelsorgerinnen ökumenisch verantwortet.

Die christlichen Kirchen sehen mit Recht ihre Aufgabe darin, für eine Kultur der Solidarität mit den Sterbenden einzutreten und die hinter der gegenwärtigen Euthanasiediskussion erkennbare Tendenz zur Individualisierung des Leidens und der Entsolidarisierung zu kritisieren. Ihre Unterstützung für die Hospizbewegung und weitergehende Konzepte von Palliative Care ist daher nur konsequent.

Angesichts der Verlegenheit und Hilflosigkeit, mit denen die säkulare Gesellschaft und ihre Mitglieder Sterben und Tod weithin begegnen, haben die Kirchen den Menschen durchaus etwas zu bieten. Christliche Formen der Sterbebegleitung einschließlich kirchlicher Rituale können Menschen in der letzten Lebensphase vor der Sprachlosigkeit bewahren und Orientierungshilfen geben.
->   Katholische Krankenhausseelsorge in Österreich
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->   Evangelische Krankenhausseelsorge in Österreich
Interkulturelle und transkulturelle Pflege
Wie aber lässt sich die religiöse Begleitung von Nichtchristen in die Hospizarbeit und in Palliative Care integrieren? Welche neuen Formen der Zusammenarbeit lassen sich zwischen christlicher Seelsorge und Repräsentanten anderer Religionsgemeinschaften entwickeln? Am Beispiel dieser so wichtigen Frage wird anschaulich, was heutzutage unter transkultureller und interkultureller Pflege verstanden wird.

Pflege in einer multikulturellen Gesellschaft setzt nicht nur den Respekt vor anderen Kulturen und Religionen voraus, sondern erfordert auch ein hohes Maß an hermeneutischer Kompetenz. Hermeneutik ist die Lehre vom Verstehen, welches schon beim Problem der Sprache bzw. der Fremdsprachen beginnt. Doch schon in der eigenen Sprache machen wir die Erfahrung, dass zwei Menschen, wenn sie das Gleiche sagen, darum noch lange nicht dasselbe meinen. Erst recht gilt dies bei Übersetzungsproblemen.
Den Anderen verstehen
Verschiedene Sprachen repräsentieren verschiedene Lebensformen und Lebenswelten. Nicht nur zwischen den verschiedenen Kulturen, sondern auch innerhalb derselben besteht eine Vielfalt von Lebensformen, Lebensstilen und moralischen Einstellungen. Vor dem moralischen Urteil hat das Bemühen um das Verstehen des Anderen, konkret der Patientin oder des Patienten und seiner soziokulturellen Prägung zu stehen (kultursensible Pflege).

Es ist die Frage, wie für ihn im Rahmen seiner Vorstellungswelt eine optimale Therapie und Pflege möglich ist, ohne dabei die Prämissen der eigenen Medizin und des eigenen Pflegekonzepts verleugnen zu wollen. Die Wahrnehmung inter- und intrakultureller Vielfalt ist die Zielsetzung eine interkulturellen Pflege.
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Religionssensible Pflege
Wie die Pflege überhaupt schließt auch die interkulturelle Pflege die Berücksichtigung der religiösen oder spirituellen Bedürfnisse der zu Pflegenden ein. Kultursensible Pflege ist immer auch religionssensible Pflege. Patienten, Patientinnen und ihre Angehörigen brauchen unter Umständen nicht nur psychologischen, sondern auch seelsorgerlichen Beistand. Die Kooperation mit der Krankenhausseelsorge - nicht nur mit Vertretern und Vertreterinnen der christlichen Kirchen, sondern auch anderer Religionsgemeinschaften - gehört zu einem guten Pflegeprozess.

Heilung und Gesundung haben auch mit der religiösen Frage nach dem Heil zu tun, ohne dass sich hierfür die Pflegenden selbst zuständig fühlen müssen. Eine gute Pflege stellt sich aber auch die Frage, wie den religiösen Bedürfnissen der Patienten und Patientinnen im Pflegeprozess, d.h. aber auch im Sterbe- und im Trauerprozess Raum gegeben wird. Interreligiösen Fragen kommt daher in der Aus-, Fort- und Weiterbildung große Bedeutung zu.
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Nicht nur eine Sache für Experten
Religiöse oder spirituelle Begleitung ist nicht nur als Sache der professionellen Expertinnen und Experten, sondern als Aufgabe aller zu begreifen, die sich in der Palliativbewegung engagieren. Sofern diese sich als Bürgerbewegung versteht, will sie ja gerade einer einseitigen Professionalisierung entgegenwirken. Daher sollte auch die seelsorgerliche Begeleitung nicht nur ausgebildeten Krankenhausseelsorgerinnen und -seelsorgern zugewiesen werden, so wenig man auf ihre Mitarbeit verzichten kann.
Pluralisierungsschübe und Traditionsabbruch
Generell ist zu bedenken, dass ein souveräner Umgang mit Andersgläubigen die Vertrautheit mit der eigen Religion voraussetzt. Diese lässt sich aber bei vielen Kirchenmitgliedern und auch bei kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bzw. bei Mitarbeitenden in diakonischen Einrichtungen längst nicht mehr selbstverständlich voraussetzen. Nicht nur die moderne Gesellschaft, sondern auch die Kirchen selbst sind von der Pluralisierung in Glaubens- und Lebensfragen erfasst.

Der allseits zu beobachtende Traditionsabbruch betrifft auch die christliche Sterbe- und Trauerkultur. Sofern Initiativen von Palliative Care christlich ausgerichtet sein wollen, sind die Mitarbeitenden auf eine entsprechende seelsorgerliche und theologische Begleitung angewiesen, damit sich eine für sie authentische christliche Kultur der Sterbebegleitung einschließlich von Ritualen und ein entsprechender Geist entwickeln kann, der das Haus oder die Initiative prägt.
Moderner Synkretismus
Wenn freilich in der Palliativbewegung nicht von religiöser, sondern von spiritueller Begleitung gesprochen wird, ist zunächst ganz offen, welche religiösen Einstellungen die Klienten und ihre Angehörigen wie auch die in palliativen Einrichtungen haupt- oder ehrenamtlich arbeitenden Menschen haben. Spiritualität ist ein diffuser Sammelbegriff, hinter dem sich die unterschiedlichsten Formen der Sinnsuche verbergen können. Eine sich als Spiritualität bezeichnende Religiosität trägt häufig synkretistische Züge.

Christliche Elemente werden mit Versatzstücken aus anderen Religionen oder Weltanschauungen individuell kombiniert. Gegenüber der eigenen Herkunftstradition herrscht zumeist eine gewisse Entfremdung und Indifferenz. Die zunehmende Individualisierung und Pluralisierung religiöser Orientierungen mag von manchen als Freiheitsgewinn empfunden werden, führt aber auch zu tiefgreifenden Verunsicherungen. Für das Konzept von Palliative Care, die ausdrücklich den spirituellen Beistand als eine ihrer Aufgaben sieht, besteht darin ein drängendes Problem, dem besondere Aufmerksamkeit zu schenken ist.

Literatur: Birgit Heller (Hg.), Alle Einkehr ist der Tod. Iinterreligiöse Zugänge zu Sterben, Tod und Trauer, Freiburg i.Br. 2003
->   Ulrich Körtner: Megatrend Religion?, Teil 1
->   Ulrich Körtner, Megatrend Religion?, Teil 2
 
 
 
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