Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft 
 
Wertegemeinschaft Europa - eine Problemanzeige (II)  
  Die Europäische Union ist zunächst keine Werte- oder Gesinnungsgemeinschaft, sondern eine Interessensgemeinschaft. Diese Feststellung ist alles andere als abschätzig gemeint, ganz im Gegenteil.  
Interessensgemeinschaft Europa
Die Geschichte Europas belehrt uns, dass gemeinsame Werte oder Grundüberzeugungen noch keine hinreichende Gewähr für Frieden und Gerechtigkeit sind. Das sollten auch diejenigen bedenken, die heute in leicht erhobenem Ton die Forderung erheben, Europa eine Seele zu geben und die geistige Leere einer rein auf wirtschaftliche Interessen ausgerichteten Politik tadeln.

Die Vision der Gründerväter vom friedlich vereinten "Europa der Vaterländer" wurde geboren in den Trümmern eines durch zwei Weltkriege und durch inhumane Ideologien verwüsteten Kontinents. Die Väter des neuen Europa erkannten aber richtig, dass dauerhafter Frieden nicht allein durch die Berufung auf gemeinsame Werte, sondern durch den Ausbau und die Verflechtung gemeinsamer Interessen gefördert wird.

Es war daher keineswegs ein Geburtsfehler des europäischen Einigungsprozesses, sondern im Gegenteil eine entscheidende Voraussetzung für sein bisheriges Gelingen, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit am Beginn stand. Gemeinsame wirtschaftliche Interessen, friedlicher Handel und eine immer engere Verflechtung der Interessen haben sich als wesentlicher Motor für die Schaffung eines friedlichen Europas erwiesen.
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Die Säulen der Europäischen Union
Auch in der durch den Maastricht-Vertrag von 1993 gegründeten Europäischen Union ist die Wirtschaft nach wie vor eine der tragenden Säulen. Die Europäischen Gemeinschaften, d.h. Wirtschafts- und Zollverträge, bilden die erste von drei Säulen. Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie die enge Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Innen- und Justizpolitik bilden die zweite und dritte Säule des Maastricht-Vertrags.

Die Europäische Union ist weiterhin kein europäischer Gesamtstaat, sondern eine auf Verträgen beruhende Staatengemeinschaft. Auch bei der geplanten Verfassung für Europa handelt es sich um einen zwischenstaatlichen Vertrag.

Der erste Teil dieses Beitrages erschien am 30.5.04:
->   Wertegemeinschaft Europa - eine Problemanzeige (I)
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Zwischen Ideologie und Wirklichkeit
Selbstverständlich lebt der Mensch nicht vom Brot allein. Er ist nicht nur ein homo oeconomicus, sondern auch ein nach Sinn fragendes Wesen. Wir sollten uns aber vor einer Europaideologie hüten, die den Blick für die heutigen europäischen Realitäten trübt und sich teilweise aus der Erinnerung an das mittelalterliche Corpus Christianum oder an das Heilige Römische Reich speist, die unwiderruflich der Vergangenheit angehören.

Nicht erst die konfessionelle Spaltung Europas als Folge des Schismas zwischen Ost- und Westkirche sowie der Reformation war die Quelle für politische und kriegerische Konflikte. Auch davor kannte man in Europa Krieg und Gewalt. Schon die Rede von Spaltungen innerhalb der Christenheit suggeriert die Vorstellung einer ursprünglichen Einheit, die historisch so nie existiert hat. Das gilt aber auch für Europa und seine Geschichte.
Geistige Fundamente des säkularen Staates
Was für den demokratisch verfassten Nationalstaat gilt, trifft auch auf die Europäische Union zu, wenn sie denn mehr und mehr zu einer politischen Union werden soll. Nach einer vielzitierten Formulierung des deutschen Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde lebt der "freiheitliche, säkularisierte" - und das heißt eben pluralistisch verfasste - Staat "von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann".

Als freiheitlicher Staat kann er, wie Böckenförde ausführt, nur bestehen, "wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert", ohne diese Regulierungskräfte durch rechtliche Sanktionen erzwingen zu können.
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Der Wertekatalog der künftigen EU-Verfassung
Die Autoren des europäischen Verfassungsentwurfs sind sich dessen bewusst, wenn sie ausdrücklich von Werten sprechen, auf denen die Europäische Union beruhe. Die schöpft, wie es in der Präambel heißt, "aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas, deren Werte in seinem Erbe weiter lebendig sind und die zentrale Stellung des Menschen und die Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit seiner Rechte sowie den Vorrang des Rechts in der Gesellschaft verankert haben".

Das Ziel der Union besteht nach den Worten des Verfassungsentwurfs darin, "dass ein nunmehr geeintes Europa auf diesem Weg der Zivilisation, des Fortschritts und des Wohlstands zum Wohl all seiner Bewohner, auch der Schwächsten und der Ärmsten, weiter voranschreiten will, dass es ein Kontinent bleiben will, der offen ist für Kultur, Wissen und sozialen Fortschritt, dass es Demokratie und Transparenz als Wesenszüge seines öffentlichen Lebens stärken und auf Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität in der Welt hinwirken will".

Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind gemäß Artikel 2 des Verfassungsentwurfs "die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte; diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und Nichtdiskriminierung auszeichnet".
->   Verfassung für Europa (Europäischer Konvent)
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Die Tyrannei der Werte
Wer wäre von der Sittlichkeit und Notwendigkeit dieser Werte und Ziele nicht überzeugt? Dennoch muss der Wertbegriff aus ethischer Sicht auch kritisch beleuchtet werden. Wenn es im Verfassungsentwurf heißt, die Europäische Union wolle "ihre Werte und Interessen" fördern, und zwar auch in ihren Beziehungen zur übrigen Welt, sollte die Warnung des Rechtswissenschaftlers Carl Schmitt vor der "Tyrannei der Werte" nicht in Vergessenheit geraten. Seiner Tendenz nach ist nämlich jedes Wertdenken latent aggressiv.

Nicht das Sein der postulierten Werte, wohl aber ihre Verwirklichung führt leicht zum Rigorismus, ja Fanatismus im Blick auf einen bestimmten Wert. Alle Werte, so Schmitt, sind interessensgeleitet. Sie basieren auf den Wertungen der an ihnen interessierten Subjekte. Das bedeutet aber auch: "Niemand kann werten ohne abzuwerten, aufzuwerten und zu verwerten."
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Europäische Werte in Zeiten des Irakkrieges
Wie ernst die vom Wertemoralismus ausgehende Gefahr zu nehmen ist, zeigt die Diskussion über die moralische und völkerrechtliche Legitimation so genannter humanitärer, d.h. militärischer Interventionen, oder der Versuch der USA und ihrer Verbündeten, mit militärischen Mitteln im Irak eine Demokratie nach westlichem Vorbild zu errichten.

Besonders schlimm ist, dass Angehörige der amerikanischen Truppen und ihre Vorgesetzten, möglicherweise sogar Regierungsmitglieder Folter und massive Menschenrechtsverletzungen als Mittel im Kampf für westliche Werte eingesetzt oder zumindest billigend in Kauf genommen haben.

Am Irakkrieg sind aber auch alte und neue Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligt. Selbst wenn ihre Soldaten nicht an Folterungen und Demütigungen von Gefangenen beteiligt gewesen sein sollten, sind doch auch sie in diesen fragwürdigen Kampf um westliche Werte verstrickt.

Sonntagsreden über Europa als Wertegemeinschaft sollten die Ambivalenz des Wertebegriffs nicht aus dem Blick verlieren. Er mag seine historische Berechtigung haben, ist aber politisch eine durchaus zweischneidige Kategorie.
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Wert als moralischer und als ökonomischer Begriff
Wer für moralische Werte und gegen den Geist des Materialismus streiten möchte, sei daran erinnert, dass der Wertbegriff von Haus aus gar kein ethischer, sondern ein ökonomischer Begriff ist. Der Wert einer Sache bestimmt ihren Preis, der am Markt zu erzielen ist. Auch das in ethischen Debatten verwendete Wort "Grundwert" stammt aus der Wirtschaftssprache und bezeichnet von Haus aus den "Bodenwert". Wir sprechen vom Gebrauchswert, Tauschwert oder Realwert von Gütern.

Menschen aber haben, wie uns Immanuel Kant belehrt, keinen Wert, sondern Würde. Nicht Werten, sondern Menschen hat die Politik zu dienen.
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Materiale Wertethik
Es war die materiale Wertethik, die den Wertbegriff allerdings von seiner ökonomischen Logik zu befreien versuchte. Im Anschluss an Platons Ideenlehre nahmen ihre Vertreter eine überzeitliche Wertordnung an, die an intuitiven Werterfahrungen Anhalt findet und in einem "Wertapriori" gründet.

Tatsächlich handelt es sich bei der materialen Wertethik aber um eine Reaktion auf die massive Infragestellung abendländischer Ethiktraditionen durch die gesellschaftlichen Umbrüche im Zeitalter der Industrialisierung, die besonders klarsichtig in Friedrich Nietzsches philosophischem Nihilismus und seiner Idee von der "Umwertung aller Werte" reflektiert worden sind.

Werte, auch solche der Moral, sind eine Sache der persönlichen Wahl oder auch der gesellschaftlichen Konvention. Sie werden tradiert, aber nicht durch apriorische Wesensschau erkannt. Die Idee einer vermeintlich objektiven Hierarchie von Werten kann nicht über den faktisch vorhandenen beständigen Wertekonflikt in der modernen pluralistischen Gesellschaft hinwegtäuschen. So entpuppt sich selbst noch die Idee eines metaphysischen Wertekosmos als eine bloße Setzung.
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Christliche Werte?
Daran sollten auch die Kirchen denken, wenn sie ihren Beitrag zu einem Europa der Werte zu formulieren versuchen. "Wertethik und christliches Ethos", so lautet die provokante These des bedeutenden evangelischen Theologen Eberhard Jüngel, "sind einander feind."

Die biblische Botschaft von der Menschenfreundlichkeit Gottes, die in Jesus Christus sichtbar geworden ist, unterbricht die Logik des Wertens und Umwertens auf heilsame Weise. Solche Unterbrechung und solche Nachdenklichkeit können auch der europapolitischen Debatte über gemeinsame Werte nicht schaden.
Der Beitrag der Religionen
Dass das moderne Europa christliche Wurzeln hat, lässt sich kaum bestreiten. Die heutige Suche nach europäischen Werten darf aber nicht mit der Verteidigung einer christlichen "Leitkultur" verwechselt werden. Das moderne Europa ist religiös und weltanschaulich plural. Daher bedarf es eines unter anderem spezifisch europäischen Dialogs der Religionen.

Die in Europa vertretenen Kirchen und Religionsgemeinschaften müssen die Entwicklung demokratischer Strukturen und Werte als gemeinsame Aufgabe begreifen, soll dieses Europa gedeihen und nicht zum Schauplatz neuer religiöser und kultureller Konflikte werden. Darin besteht konkret die Herausforderung an die Pluralismusfähigkeit der Kirchen und der Religionen im Europa von heute. Sich dieser Herausforderung zu stellen, ist einer der wesentlichen Beiträge, den die Kirchen und die nichtchristlichen Religionen zur Vertiefung Europas als Wertegemeinschaft leisten können.
->   Sämtliche Beiträge von Ulrich Körtner in science.ORF.at
 
 
 
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