Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft 
 
Wertegemeinschaft Europa - eine Problemanzeige (I)  
  Ein größer werdendes Europa, so das politische Credo aller Parteien und gesellschaftlichen Kräfte, muss von gemeinsamen ethischen Werten getragen werden. Doch inwieweit geht die allseits beschworene Wertegemeinschaft über politische Rhetorik hinaus?  
Offene Fragen
Wer über Europa als Wertegemeinschaft und das Verhältnis von Politik und Moral nachdenkt, muss sich überhaupt mit dem Wertbegriff befassen. Klärungsbedürftig ist aber auch der Begriff "Europa". Was ist Europa? Wo liegt es? Wer gehört dazu und wer nicht? Und wer befindet darüber?
Europa: Kontinent und Kulturraum
Europa ist nach heutigem Sprachgebrauch zunächst ein Kontinent. Geographisch betrachtet handelt es sich um eine stark gegliederte westliche Halbinsel Asiens, die lediglich aufgrund ihrer kulturellen und historischen Bedeutung als eigener Erdteil angesehen wird. Allerdings wurden im Verlauf der Geschichte durchaus unterschiedliche Konstellationen und Gebiete als Europa bezeichnet.
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Heidnische Sonnengöttin und Corpus Christianum
Der Name stammt bekanntlich von einer phönizischen Sonnengöttin, die Zeus der Sage nach von Kleinasien nach Kreta entführt hatte. Als Europa bezeichneten die Griechen im 7. Jahrhundert v.Chr. das Festland im Norden ihres Siedlungsgebietes. Die Römer erweiterten die Bezeichnung auf die gesamte Mittelmeerwelt, später auch auf Gallien und Teile des heutigen Großbritannien. Zur Zeit der Völkerwanderung wurde schließlich auch Germanien zu einem Teil von Europa erklärt.

Die weitere Geschichte des Begriffs hängt nicht nur mit der Christianisierung der Völker des heutigen Europa, sondern auch mit dem Auftreten und der Ausbreitung des Islam zusammen, der im 7. Jahrhundert das Christentum aus Asien verdrängte, in Frankreich und auf der iberischen Halbinsel jedoch zurückgeschlagen wurde. Fortan war das Christentum konstitutiv für den Begriff "Europa".

Karl der Große, im Jahr 800 n.Chr. zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gekrönt, wurde "Vater Europas" genannt. Nachdem das Christentum aber das Glaubensmonopol errungen hatte, trat der Begriff der Christenheit - des Corpus Christianum - weitgehend an die Stelle der Bezeichnung "Europa". Im weiteren Mittelalter wurde der Begriff "Europa" kaum noch verwendet.
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Europa in der Neuzeit
Er sollte sich erst seit dem 17. Jahrhundert wieder durchsetzen. Inzwischen war die europäische Christenheit jedoch mehrfach gespalten. Zwischen Orthodoxie und römisch-katholischer Kirche war es bereits im 11. Jahrhundert zum Bruch gekommen. Im 16. Jahrhundert zerbrach die kirchliche Einheit des Abendlandes infolge der Reformation.

Die anschließenden Konfessionskriege sollten die Landkarte Europas grundlegend verändern, ebenso das Aufstreben europäischer Nationalstaaten. Mit der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches im Jahre 1806 gehörte auch die Synonymität von Christenheit und Europa endgültig der Vergangenheit an.

Inzwischen hatte sich der Begriff "Europa" allerdings wieder durchgesetzt. Seit dem 17. Jahrhundert richtete er sich freilich weniger auf die verbindende Kraft des Christentums als auf ein dichtes Handels- und Kommunikationsnetz. Angestrebt wurde auch eine Politik des Gleichgewichts zwischen den europäischen Nationalstaaten, deren Interessensgegensätze immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen führten.

Mit "Europa" verband sich jedoch kaum noch die Vorstellung von Einheit und Homogenität, sondern von Vielfalt und Vielgestaltigkeit. Immerhin tauchte bereits im 17. Jahrhundert die Idee einer europäischen Föderation auf, die nach zwei Weltkriegen im 20. Jahrhundert konkrete Gestalt anzunehmen begann.
Europa heute: Ein politisches Projekt
Europa wird inzwischen oftmals mit der Europäischen Union, d.h. einem konkreten politischen Gebilde gleichgesetzt. Der Entwurf einer Verfassung für die Europäische Union trägt den Titel "Verfassung für Europa". Artikel 1 (2) erklärt: "Die Union steht allen europäischen Staaten offen, die ihre Werte achten und sich verpflichten, ihnen gemeinsam Geltung zu verschaffen."
->   Verfassung für Europa (Europäischer Konvent)
Doch welche Staaten sind gemeint? Norwegen, die Schweiz oder Liechtenstein wären auf jeden Fall willkommen. Auch die Länder des Balkans haben langfristig eine Chance auf Mitgliedschaft. Aber wie steht es mit Weißrussland, der Ukraine, Georgien oder Aserbaidschan?

Was spricht gegen die Türkei, die ebenfalls dem Europarat und außerdem noch der Nato angehört? Und was ist mit Russland, dessen Territorium sich zwar jenseits des Ural, geographisch betrachtet, über Nordasien erstreckt, das aber wie die zuvor genannten Staaten Mitglied des Europarates ist?
Wo liegen Europas Grenzen?
Die Grundwerte der Europäischen Union sind dieselben wie diejenigen des 1949 gegründeten Europarates, nämlich Menschenrechte und Demokratie. Gemäß Artikel 7 (2) strebt die Europäische Union den Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention an. Aber wäre dies auch ein hinreichender Grund, um für eine Erweiterung der Europäischen Union bis zum Kaspischen Meer oder bis Wladiwostok zu plädieren?

Wenn aber die Türkei eines Tages Mitglied werden sollte, warum dann nicht irgendwann in der Zukunft auch Marokko oder Algerien? Schließlich haben die Römer, wie bereits erinnert wurde, einst den gesamten Mittelmeerraum als Europa bezeichnet.

Und wenn schon das vor der Küste der Türkei, Syriens und des Libanon gelegene Zypern der Europäischen Union angehören darf, weshalb dann nicht auch Israel, gesetzt den Fall, es wollte dies überhaupt und fände eines Tages zu einer friedlichen Koexistenz mit den Palästinensern? Schließlich ist Israel auf wechselvolle, auch leidvolle Weise mit der Geschichte Europas und seiner Kultur verbunden und ganz gewiss ein demokratischer und westlichen Werten verpflichteter Staat. Wie die Türkei macht das Land beim Europäischen Song-Contest und bei europäischen Fußball-Wettbewerben mit.
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Plädoyer für einen mehrdimensionalen Europabegriff
Es stellt sich die Grundsatzfrage, ob eine Ausdehnung der Europäischen Union zumindest auf den gesamten Kontinent Europa - nach heutigem geographischem Sprachgebrauch - überhaupt wünschenswert ist, und zwar sowohl für die Europäische Union als auch für die noch nicht beigetretenen Staaten. Das ist offensichtlich aus einer Reihe von Gründen nicht durchgängig der Fall. Daher ist und bleibt es notwendig, zwischen Europa und Europäischer Union zu unterscheiden.

Geschieht dies nicht, würde letztlich allein die Europäische Union bestimmen, was Europa ist und was nicht. Ein europäischer Staat, so müsste die Schlussfolgerung lauten, ist ein solcher, der von der Europäischen Union als Mitgliedstaat akzeptiert wird. Im Ergebnis würde Europa dann aber gar nicht mehr kulturell, sondern ausschließlich politisch definiert. Mehr noch: Die kulturelle und ethische Basis eines geeinten Europa wäre letztlich ein eindimensionales politisches Konstrukt.

Töricht und verhängnisvoll wäre die Unterstellung, wer der Europäischen Union auch künftig nicht angehöre oder angehören wolle, gehöre nicht zu Europa. Solch eine Sichtweise bereitet den ideologischen Nährboden für die Vorstellung von einer Festung Europa mit unüberwindlichen Mauern und harten Unterscheidungen zwischen denen, die dazugehören, und denen, die draußen bleiben müssen.
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Grenzen überschreiten
Die geographische Expansion der Europäischen Union ist keine hinreichende Bedingung für Frieden und Stabilität und kein Selbstzweck. Es kommt nicht so sehr darauf an, Europas Außengrenzen zu verschieben, sondern darauf, die Grenzen innerhalb und außerhalb Europas durchlässiger zu machen, und zwar nicht nur die Grenzen, die von Schlagbäumen und Zollbeamten bewacht werden, sondern vor allem die Grenzen in unseren Köpfen und Herzen.

Europäisch denkt nur, wer über Europas Grenzen, auch über die jetzigen und die künftigen Grenzen der Europäischen Union hinaus denkt.
"Europa eine Seele geben"
Es ist viel davon die Rede, man müsse Europa, konkret der Europäischen Union eine Seele geben. Wie weit die Union ein Europa der Bürgerinnen und Bürger wird, hängt weniger von einem Wertekonsens ab, der nicht exklusiv europäisch ist, als von der Funktionsfähigkeit und vom faktisch erfahrbaren Nutzen dieses politischen Gebildes.

Die Ziele der Union und ihre Werte wie Menschenwürde, Gerechtigkeit, Solidarität und Sozialstaatlichkeit müssen für die Menschen konkret erfahrbar werden und nicht bloß auf dem Papier einer Verfassung stehen. Nur dann werden sich die Menschen mit der Europäischen Union identifizieren können.

Der zweite Teil des Beitrags folgt nach dem Pfingstwochenende
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