Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Leben .  Medizin und Gesundheit 
 
Genomforschung und das Recht auf Unvollkommenheit  
  Ethikfragen der Genomforschung und Anwendung standen im Mittelpunkt einer Veranstaltung der diesjährigen Gesundheitsgespräche beim Europäischen Forum Alpbach. Über Chancen und Gefahren von Gentests, Genomik und Pharmakogenomik diskutierten Mediziner, Ethiker und Juristen. Nachfolgend mein Diskussionsbeitrag aus medizinethischer Sicht.  
Ethik und Anthropologie
Alle Ethik ist angewandte Anthropologie. Um grundlegende Fragen unseres Menschenbildes geht es auch im Kern aller medizinethischen Diskussionen. Hinter der häufig gestellten, allerdings viel zu vordergründigen Frage, ob die Medizin darf, was sie kann, steht die anthropologische Grundfrage: Was ist der Mensch? Was sind Krankheit und Gesundheit, und worin besteht für den von Krankheit, Gesundheit, Leiden und Tod betroffenen Menschen ihr Sinn?
Der technische Blick auf das Leben
Neben der Informationstechnologie ist die Biologie die Leitwissenschaft der Gegenwart. Ihre Vormachtstellung verdankt sie der Genetik und ihren technologisch wie medizinisch möglichen Nutzanwendungen, die sie auch wirtschaftlich bedeutsam machen. Die angewandten Biowissenschaften - auch "life sciences" genannt - haben aber ein durch und durch technisches Verständnis der Biologie zur Voraussetzung.

Technisches Denken prägt nicht etwa nur die Nutzanwendung des modernen biologischen Wissens, sondern bereits die biologische Grundlagenforschung. So ist in den letzten Jahrzehnten ein biotechnologischer Komplex entstanden, der nicht nur die Produktionsweisen der Landwirtschaft und der Lebensmittelherstellung, sondern die Sichtweise des Lebens insgesamt von Grund auf verändert. Das Leben wird von der Gabe zum technischen Produkt.

Technisches Denken, und hier wiederum vor allem die Biotechnologie, bestimmt auch den medizinischen Fortschritt. Lebensrettung, Heilung, Lebenserhaltung und Lebensverlängerung werden heutzutage vornehmlich als technische Probleme verstanden. Der Mediziner mutiert zum Anthropotechniker.

Die Gentechnik verheißt auch auf medizinischem Gebiet einen Quantensprung, nicht nur in der Entwicklung und Herstellung neuer Medikamente und bei der Entwicklung neuer Therapieverfahren, sondern auch auf dem Gebiet der Reproduktionsmedizin. Der biotechnologische Fortschritt führt zu einer tiefgreifenden Veränderung des Menschenbildes sowie des Selbstverständnisses der Medizin.
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Medizin: Nicht nur Technik, sondern Kunst
Eine humane Medizin ist nicht nur Technik, sondern auch eine Kunst. Sie ist weder eine reine Naturwissenschaft, noch eine Geisteswissenschaft, sondern eine praktische oder Handlungswissenschaft. Dieses Grundverständnis darf m.E. nicht aufgegeben werden. Es muss aber unter den Bedingungen des modernen Medizinbetriebes neu buchstabiert und konkretisiert werden.
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Der neue Geist der Utopie
Der nach 1989 verloren geglaubte Geist der Utopie kehrt wieder in Gestalt einer neuen Technikgläubigkeit. Was hat es für gesellschaftliche Folgen, wenn der Mensch und seine Gesundheit als technisch herstellbares oder optimierungsfähiges Produkt verstanden werden? Wie ändert sich dadurch die Sicht, die der Mensch künftig von sich selbst und Seinesgleichen haben wird? Kann er sich z.B. noch als Geschöpf Gottes verstehen, das eine unbedingte Würde hat?
Genetik: Viel Text, wenig Sinn
Die Gefahren, die von einem technizistischen Medizinverständnis für den Einzelnen und die Gesellschaft ausgehen, sollten nicht unterschätzt, aber auch nicht apokalyptisch überzeichnet werden. Sowohl die Propheten einer schönen neuen Biowelt als auch ihre Kritiker neigen dazu, die Möglichkeiten der Gentechnik zu überschätzen.

Bei nüchterner Betrachtung ergibt sich, dass mit dem Abschluss des menschlichen Genomprojekts (HUGO) zwar "viel Text", zunächst aber nur "wenig Sinn" vorliegt (Jens Reich). Genomik und Proteomik versuchen nun schrittweise, den Sinn genetischer Codes zu erfassen.

Die Idee des Menschen nach Maß muss jedoch schon aus wissenschaftlich-technischen Gründen an der Überkomplexität der Wechselwirkungen der menschlichen Gene scheitern. Um so schlimmer ist es allerdings, wenn dennoch von prominenten Genetikern und Reproduktionsmedizinern Versuche in dieser Richtung angestrebt werden.
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Nobody is perfect
Während einerseits seriöse Genetiker vor einem Gen-Reduktionismus warnen, weil der Mensch eben nicht durch sein Genom definiert und determiniert wird, lässt sich andererseits von der Genetik her einsichtig machen, dass die Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit, zwischen Behinderung und Nichtbehinderung fließend ist.

Wollte man die Grenze aufgrund von genetischen Kriterien ziehen, so müsste man sagen, dass letztlich alle Menschen behindert sind. Gerade aus Sicht der Genetik gilt: Nobody is perfect. Weil es aber im Verlauf der Zellteilungen, die unser Körper im Laufe unseres Lebens durchläuft, immer wieder zu Mutationen kommt, bleibt auch die Idee, einen genetisch vollkommenen Menschen züchten zu können, eine Illusion.
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Was ist normal?
Die britischen Mediziner David Melzer und Ron Zimmern warnen m.E. zu Recht vor der Gefahr, dass Menschen aufgrund von Gentests medikalisiert und für krank erklärt werden. "Indem die genetische Wissenschaft zeigt, dass das Genom eines jeden unterschiedlich ist und wir alle in gewisser Hinsicht 'abnorm' sind, zwingt sie uns auf einer fundamentalen Ebene dazu, das Konzept der Normalität als solches zu überdenken" (D. Melzer/R. Zimmern, Genetics and Medicalisation, in: British Medical Journal 324, 2003, S. 863-864).

Krankheit und Gesundheit sind keine rein naturwissenschaftlich bestimmbaren Phänomene, sondern letztlich eine soziale Konstruktion, die einen biologisch beschreibbaren Sachverhalt einschließt, ohne mit diesem identisch zu sein. Der Schritt von der Genetik zur Genomik zeigt, dass die deterministische Annahme, wonach Gene unser Schicksal bestimmen und dass ein direkter kausaler Zusammenhang zwischen genetischen Abweichungen und dem Ausbruch von Krankheiten oder Behinderungen besteht, naturwissenschaftlich betrachtet falsch ist. Nicht einmal bei so genannten monokausalen Erkrankungen wie der Chorea Huntington, deren Ausbruch sich heute sehr genau vorhersagen lässt, besteht ein linearer Determinismus.
Von Krankheitserfindern und Nichtpatienten
Hinzu kommt, dass die Grenzen zwischen manifesten chromosomalen oder genetischen Störungen und genetischen Dispositionen, die irgendwann einmal zu irgendeiner Form von symptomatischen Expressionen führen könnte, fließend sind. Bezeichnenderweise hat die prädiktive Medizin eine neue Kategorie von Menschen geschaffen, den "unpatient". Sie besagt, dass es im Grunde gar keine gesunden Menschen mehr gibt, sondern nur potenziell oder manifest Kranke. Polemisch gesagt: Gesund ist, wer noch nicht ausreichend genetisch untersucht wurde.

In seinem Buch "Die Krankheitserfinder" warnt der Medizinjournalist Jörg Blech vor Tendenzen, wie Gesunde von einer medizinisch-pharmazeutischen Allianz zu Patienten gemacht werden. Unter anderem weist er auf die Gefahren hin, die vom expandierendem Gentests ausgeht, die heute schon über das Internet angeboten werden. Auch Mediziner warnen vor dem Geschäft mit der Angst, das manche Anbieter von Gentests im Internet betreiben.

Buchtipp: Jörg Blech, Die Krankheitserfinder. Wie wir zu Patienten gemacht werden, 7. Aufl. Frankfurt a.M. 2004
->   R. Leinmüller, Gentests: Manchmal ein Geschäft mit der Angst
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Gentests im Internet
Die Seriosität einiger Gentests, mit deren Hilfe z.B. Polymorphismen diagnostiziert werden sollen, vor allem aber ihre Aussagekraft, ist auch unter Fachleuten umstritten. Nicht selten handelt es sich um rein statistische Aussagen über mögliche gesundheitliche Risiken, d.h. um Wahrscheinlichkeitsaussagen, aus der für den Lebensverlauf und die Gesundheitsvorsorge der Individuen seriöserweise keine voreiligen Schlüsse gezogen werden sollten.

Speziell bei Internetangeboten kommt hinzu, dass nationale gesetzliche Bestimmungen wie diejenigen des österreichischen Gentechnikgesetzes, die eine Kontrolle über die Zulässigkeit und Qualität von genetischen Untersuchungen und genetischer Beratung bieten, unterlaufen werden können. Auch die von der EU-Kommission eingesetzte Europäische Gruppe für Ethik (European Group on Ethics) hat bereits zur Problematik von Gentests, die im Internet angeboten werden, Stellung genommen und die erwähnten Probleme angesprochen.
->   H. Berth/A. Dinkel/F. Balck, Gentests für alle?
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->   European Group on Ethics: Statement "Advertising Genetic Testing via Internet" (Februar 2003)
Nicht-Krankheiten
Um der bedenkenlosen Medikalisierung und Pathologisierung von im Grunde natürlichen Vorgänge und Diversitäten Einhalt zu gebieten, ist es notwendig, einen Begriff von Nicht-Krankheiten zu entwickeln. Zu diesem Thema hat R. Smith 2002 eine Umfrage unter britischen Ärzten gemacht, deren Ergebnisse im "British Medical Journal" veröffentlicht worden sind. Smith definiert Nicht-Krankheiten als "ein menschlicher Vorgang oder ein Problem, das von manchen als Erkrankung beurteilt wird, obwohl es für die Betroffenen von Vorteil sein könnte, wenn dies nicht der Fall wäre" (R. Smith, In search of "non-disease", in: British Medical Journal 342, 2002, S. 883-885).

Als Beispiele für Nicht-Krankheiten nennt Smith nicht nur Tränensäcke oder Haarausfall, sondern auch das Altern und die Menopause. Vor dem Hintergrund der Anti-Aging-Medizin hat die Diskussion über Nicht-Krankheiten einige Brisanz.
->   science.ORF.at: Auf der Suche nach "Nicht-Krankheiten"
Wo bleibt die Sozialmedizin?
Für viele multifaktorielle Erkrankungen wird auch die Genomforschung keine Wundermittel parat haben, und selbst die somatische Gentherapie wird vermutlich nur in geringem Maße einsetzbar sein. Viele Erkrankungen resultieren aus der komplexen Wechselwirkung von Individuum und Umwelt, von genetischer Disposition, individueller Lebensführung und sozialem Umfeld.

Es wäre daher aus ethischer Sicht problematisch, wenn die ökonomischen Ressourcen in den kommenden Jahrzehnten einseitig für die Genforschung verwendet werden würden, während z.B. die Bereiche der Präventionsmedizin, der Sozialmedizin oder auch der Versorgung von Langzeitpatienten vernachlässigt würden.
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Ethische Fragen der Genomforschung und Anwendung
Die Entwicklungen auf dem Gebiet der Genomik und der Pharmakogenomik werfen eine Reihe von individual- und sozialethischen Problemen auf, die hier nicht im einzelnen diskutiert werden, sondern lediglich summarisch aufgelistet werden können:

* Es entstehen neue Konzepte einer individuellen oder personalisierten, d.h. auf den einzelnen Patienten zugeschnittene Medizin, welche das passende Medikament bzw. die passende Therapie für das passende Individuum sucht. Informationen über das eigene Genom werden folglich Bestandteil individueller Gesundheitsvorsorge. So wie man seine Blutgruppe kennen sollte (N.B. auch das ist Genetik!), sollte man künftig auch über individuelle genetisch bedingte Gesundheitsrisiken Bescheid wissen.

* Individuelle Verantwortung für Zusammenhang von Genom und Lebensstil: Beispiel Rauchen und genetisch bedingtes Thromboserisiko.

* Genom und Population. Kritiker befürchten eine neue Form der "Rassenmedizin", die z.B.bestimmten Bevölkerungsgruppen Medikamente oder Therapien mit der Begründung vorenthalten könnte, dass diese bei ihnen aufgrund genetischer Besonderheiten unwirksam seien.

* Generell stellt sich die Frage, in welchen Fällen Informationen über das individuelle Genom oder kollektive genetische Besonderheiten zu Diskriminierungen führen können. Wie lassen sich offene oder auch verdeckte Diskriminierungen von Einzelpersonen oder ganzen Bevölkerungsgruppen verhindern?
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* Umgekehrt darf die Angst vor Diskriminierung nicht dazu führen, sinnvolle Ansätze der Genomforschung zu verhindern. Es wäre z.B. ethisch unverantwortlich, Krebspatienten mit Medikamenten zu behandeln, die erhebliche Nebenwirkungen haben, im konkreten Fall aber aus genetischen Gründen therapeutisch unwirksam sind.

* Balance zwischen Persönlichkeitsrechten (Datenschutz/Recht nicht zu wissen) und Verpflichtung zur Solidarität gegenüber Familienangehörigen und Gemeinschaft der Versicherten. Inwieweit und in welchen Fällen besteht ein Anspruch der Gesellschaft auf die Erhebung genetischer Daten ihrer Individuen?

* Individuell verschriebene Medikamente erlauben Krankenversicherungen Rückschlüsse auf genetische Dispositionen der Individuen. Bei Verknüpfung von Daten sind Rückschlüsse auf das Genom möglich, ohne illegale Genanalysen anwenden zu müssen.

* Biobanken: Datenschutz, Nutzungsrechte, gesellschaftlicher Nutzen und wirtschaftlicher Profit.

* Gerechtigkeit im Gesundheitswesen: Gleicher Zugang für alle zu den neuen Therapien? Kostenfrage!

* Langfristige Auswirkungen auf Organisation des Versicherungswesens: Was fällt unter Pflichtversicherung, was unter Versicherungspflicht, was unter rein privat abzusicherndes Risiko?
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Schere zwischen Diagnostik und Therapie, PND und PID
Zu den ethischen Problemen der Genomforschung und ihrer Anwendung gehört nach wie vor die Schere, die sich zwischen heute schon möglicher Diagnostik und Prognostik und fehlenden Therapieansätzen weit öffnet.

Der Einsatz prädiktiver Untersuchungsmethoden z.B. in der pränatalen Medizin kann einerseits der Prophylaxe dienen, andererseits aber immer neue Entscheidungskonflikte heraufbeschwören. Ich erwähne nur das Problem der embryopathischen Indikation für Abtreibungen oder die Debatte über die Präimplantationsdiagnostik, zu der die österreichische Bioethikkommission kürzlich ausführlich Stellung genommen hat.
->   Bericht der Bioethikkommission zur PID (pdf-Dokument)
Das Recht auf Unvollkommenheit
Unbestritten eröffnet die Genomforschung auf den Gebieten der Diagnostik und der Therapie neue Möglichkeiten, die ethisch akzeptabel sind. Es muss aber allen Tendenzen entgegengewirkt werden, die einer eugenischen Mentalität in der Gesellschaft Vorschub leisten und ein Klima der Diskriminierung gegenüber Behinderten und ihren Angehörigen erzeugen.

Schon genetisch betrachtet ist der Mensch ein unvollkommenes Wesen. Dass er es auch bleiben darf, ist sein zu verteidigendes Recht. Die Genomforschung und ihre Anwendung bis hin zur Genomik und Pharmakogenomik eröffnen Chancen für neue Therapieansätze, die ethisch durchaus zu begrüßen sind.

Gleichzeitig fördert der medizinische Fortschritt aber auch problematische Tendenzen, die einen Zwang zur Vollkommenheit suggerieren. Die Menschlichkeit des Menschen - so lautet meine These - hängt am Recht auf Unvollkommenheit. Indikator für die Humanität einer Gesellschaft ist, wie weit sie das Recht auf Unvollkommenheit schützt.
->   Alle Beiträge von Ulrich Körtner in science.ORF.at
 
 
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Leben .  Medizin und Gesundheit 
 

 
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