Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Technologie 
 
Wissenschaftsethik und "converging technologies" (Teil 2)  
  Forschungsethische Fragen führen uns schlussendlich zu der Frage nach dem unser Erkennen und Handeln leitenden Menschenbild, so gewiss alle Ethik angewandte Anthropologie ist.  
Ethik als angewandte Anthropologie
Auch wenn heute mit Recht die Forderung erhoben wird, dass nicht nur die Lebensinteressen des Menschen, sondern auch die Eigenwertigkeit und das Lebensrecht von Tieren und letztlich der ganzen uns umgebenden Natur zu achten sind, bleibt doch in Wissenschaft und Ethik zumindest erkenntnistheoretisch der Mensch das Maß aller Dinge.

Er allein ist das Subjekt von Wissenschaft, und nur er kann sich explizit moralische Fragen stellen. Zumindest epistemologisch lässt sich ein Anthropozentrismus, der heute bisweilen oberflächlich denunziert wird, gar nicht umgehen.

Wissenschaftsethik und "converging technologies" (Teil 1)
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Menschenbilder in der pluralistischen Gesellschaft
Es stellt sich die Frage, ob unser überkommenes Menschenbild den ethischen Herausforderungen des wissenschaftlichen Fortschritts noch gewachsen ist, zumal es das eine Menschenbild in der pluralistischen Gesellschaft gar nicht gibt. Weitreichender als z.B. die tatsächlich vorhandenen biomedizinischen Möglichkeiten sind die weltanschaulichen und die gesellschaftlichen Folgen der modernen Medizin. Wesentliche Einsichten der bisherigen abendländischen Kultur und eines vom Christentum geprägten Menschenbildes drohen verloren zu gehen.

Allerdings ist zu beachten, dass die stereotype Rede von dem Menschenbild, z.B. einem christlichen, eine unhistorische Konstruktion ist. Nicht nur gibt es das christliche oder das humanistische Menschenbild in dieser Form gar nicht, sondern beide unterliegen geschichtlichen Transformationsprozessen, die u.a. das Ergebnis der Auseinandersetzung mit der Aufklärung, mit den Ergebnissen und Fortschritten der modernen Natur- und Humanwissenschaften sowie gesellschaftlichen Umbrüchen, z.B. dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft und weiter zur postindustriellen Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft sind. Überdies gibt es nicht nur in dogmatischen, sondern auch in anthropologischen Fragen zwischen den verschiedenen christlichen Konfessionen signifikante Unterschiede, die z.B. den Naturbegriff, das Verständnis menschlicher Freiheit und den Sündenbegriff betreffen.
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Kultur- und religionshermeneutische Prozesse
Menschenbilder sind das Ergebnis komplexer kultur- und religionshermeneutischer Prozesse. Die Frage ist daher einseitig gestellt, wenn sie nur lautet, wie lange der technologische Fortschritt (noch) mit einem bestimmten Menschenbild vereinbar ist.

Ebenso muss nämlich auch gefragt werden, wie weit es einer weltanschaulichen oder religiösen Tradition gelingen kann, geschichtliche Veränderungen produktiv zu verarbeiten und überkommene Traditionsbestände neu zu interpretieren, so dass sie es auch noch Menschen der Gegenwart erlauben, das eigene Dasein unter Gegenwartsbedingungen sinnvoll zu deuten.

Zweifellos hat eine bestimmte Anthropologie in ethischer Hinsicht immer auch eine kritische Funktion. Kritik und Hermeneutik stehen aber zueinander in einem dialektischen Wechselverhältnis , das z.B. von einer "Heuristik der Furcht", wie sie Hans Jonas in seinem "Prinzip Verantwortung" (1979) formuliert hat, vernachlässigt wird.
Mensch und Technik
Das gilt auch für eine Philosophie oder Theologie der Technik. Die Stellung des Menschen in der Natur ist durch deren technische Bearbeitung charakterisiert, die sich von tierischem Verhalten signifikant unterscheidet. Menschliche Technik beschränkt sich nicht auf den Einsatz irgendwelche Hilfsmittel, die sich auch bei Tieren beobachten lassen. Ihr Einsatz erfolgt vielmehr aufgrund von Zielsetzungen und Methoden, die den Kausalitätsgedanken planvoll anwenden (Ernst Cassirer).

Auch wenn das Menschsein nicht darin aufgeht, Technik zu haben, "ist der Mensch Mensch in seiner Sonderstellung, indem er Technik hat. Die Technik ist somit eine konstitutive, eine Wesens- bzw. Seinsbestimmung des Menschen" (Peter Fischer) Diesen Umstand hat auch jede Wissenschaftsethik und Bioethik zu bedenken.

Das bedeutet nun freilich nicht, dass der technologische Fortschritt kritiklos hinzunehmen ist. Im Spannungsfeld von Hermeneutik und Kritik sind vielmehr die Ambivalenzen dieses epochalen Prozesses in den Blick zu nehmen.
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Homo faber
"Homo faber" lautet der Titel eines 1957 erschienenen Romans von Max Frisch. Der Titelheld ist ein Techniker, dessen rationale Weltsicht durch tragische Verwicklungen aus den Fugen gerät. Auch andere Romanfiguren des 20. Jahrhunderts waren Ingenieure, zum Beispiel Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften in Robert Musils gleichnamigem Roman.

Der Techniker gilt als Inbegriff der Moderne. Zur Ambivalenz der Technik gehört es, dass sie als anonyme Macht die Herrschaft über den Homo faber erlangen kann oder aber zur Herrschaft des Menschen über seinesgleichen führt. Diese Gefahr ist bereits in der Philosophie des 20. Jahrhunderts vielfältig diskutiert worden. Biotechnologie und Converging Technologies führen zu weiteren tiefgreifenden Veränderungen des Menschen- und Weltbildes.
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Technikhermeneutik und Technikkritik
Die Frage der Technikkritik lautet: Wo liegen die Grenzen des ethisch Zulässigen, jenseits deren der Einsatz von Wissenschaft und Technik zur Inhumanität führt? Das hermeneutische Problem der Technik aber lautet, was es für das Selbstverständnis eines Menschen bedeutet, wenn er sich künftig als das technisch erzeugte Produkt anderer Artgenossen begreifen muss.

Wie kann unter diesem Umständen der Begriff der Menschenwürde noch mit Sinn gefüllt werden? Oder was soll gar noch der der jüdischen und der christlichen Tradition entstammende Gedanke der Gottebenbildlichkeit bedeuten? Wird der Mensch noch in, mit und unter den technischen Begleitumständen seiner Menschwerdung zu dem persönlichen Glauben finden, dass ihn letztlich Gott geschaffen hat "samt allen Kreaturen" (Martin Luther)?
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Moderne Technik und religiöse Weltdeutung
Wenn für den biblischen Schöpfungsglauben ein Wahrheitsanspruch erhoben werden kann, muss er selbst noch unter den Bedingungen der modernen Biomedizin gelten. Sollte sich die Überzeugung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen mit der Anwendung bestimmter Reproduktionstechniken oder von Converging Technologies prinzipiell erledigen, dann handelte es sich im pejorativen Sinn nur um einen obsoleten Mythos.

Wenn sich in der Rede von der Geschöpflichkeit und Gottebenbildlichkeit des Menschen aber ein im Glauben erschließbares Daseinsverständnis ausspricht, dann muss dieses auch noch eine gegenwärtige Möglichkeit menschlicher Selbstdeutung sein. Der Einsatz technischer Mittel als solcher in der modernen Medizin, auch in der Reproduktionsmedizin, stellt die christliche Schöpfungslehre und Anthropologie zwar vor neue hermeneutische Herausforderungen stellt, setzt jedoch die Deutung der eigenen Existenz als von Gott geschaffen nicht prinzipiell außer Kraft.
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Kampf der Wissenschaftskulturen?
Allerdings besteht eine der zentralen wissenschaftsethischen Herausforderungen der Gegenwart in neuen Formen eines naturalistischen Monismus und einem ihm korrespondierenden Utilitarismus. Naturalistische Deutungen des Geistes, der Erkenntnistheorie und der Ethik, ja selbst der Kultur insgesamt und auch der Religion - man denke nur an die durch die Neurobiologie ausgelösten Diskussionen - führen zur Dominanz der Naturwissenschaften und zur fortschreitenden Marginalisierung der Geisteswissenschaften.

Der in Aussicht gestellte gesellschaftliche und ökonomische Nutzen lässt auch die Politik nicht unbeeindruckt und führt zu entsprechenden wissenschaftspolitischen Weichenstellungen. Ethik in den Wissenschaften darf sich nicht auf die utilitaristische Behandlung von Fragen angewandter Ethik in der Forschung beschränken. Vielmehr hat sie auch Grundlagen für das interdisziplinäre Gespräch zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu erarbeiten. Wenn sich dagegen Natur- und Geisteswissenschaften gegeneinander ausspielen lassen, ist dies nicht allein zu ihrem beiderseitigen Schaden, sondern schadet der Gesellschaft insgesamt.

Die Geisteswissenschaften haben freilich durchaus Anlass zur Selbstkritik. Denn die heute vielfach beklagte geisteswissenschaftliche Ignoranz der Naturwissenschaften ist ein Stück weit die Quittung für die seit dem 19. Jahrhundert kultivierte Präpotenz der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften. Die Gesprächslage zwischen den beiden Wissenschaftskulturen entbehrt also nicht einer gewissen Ironie.
Wissenschaftsethos als Bildungsaufgabe
Gleichwohl: Die Entwicklung und Pflege eines Ethos, auch eines Ethos der Wissenschaft, ist eine Frage der Bildung, nämlich der Selbstbildung und Menschwerdung des Menschen, nicht etwa nur des Wissens. Sie schließt die Pflege der religiösen Dimension unseres Menschseins ein. Ohne eine elementare Besinnung auf unsere Kreatürlichkeit, zu der unsere Geburtlichkeit ebenso gehört wie unsere Sterblichkeit, werden wir kaum zu einem Ethos des Respekts vor allem Lebendigen gelangen.

In einer Gesellschaft, die sich nur noch als Informations- oder Wissensgesellschaft versteht, hat die Ethik im Grunde abgedankt, mag auch noch soviel von ihr die Rede sein. Sich um Bildung, nicht etwa nur um Wissen zu bemühen, sollte zu den Tugenden aller Forschenden gehören. Wenn heute über Wissenschafts- und Forschungsethik diskutiert wird, dann nicht zuletzt deshalb, weil sich diese Tugend offenbar nicht mehr von selbst versteht.

[27.10.04]
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