Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft 
 
Wissenschaftsethik und "converging technologies" (I)  
  Die ethischen Debatten, welche Politik und Öffentlichkeit bewegen, sind in hohem Maße durch den wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt bestimmt. Jede Wissenschaftsethik muss sich dabei über den grundlegenden Zusammenhang zwischen Technik und moderner Wissenschaft Klarheit verschaffen.  
Ethik und technologischer Fortschritt
Neben der Informationstechnologie ist die Biologie die Leitwissenschaft der Gegenwart. Die angewandten Biowissenschaften - auch "life sciences" genannt - haben aber ein durch und durch technisches Verständnis der Biologie zur Voraussetzung. Technisches Denken prägt nicht etwa nur die Nutzanwendung des modernen biologischen Wissens, sondern bereits die biologische Grundlagenforschung.

Gleiches gilt für die neuen Entwicklungen auf dem Gebiet der Medizin. Lebensrettung, Heilung, Lebenserhaltung und Lebensverlängerung werden zunehmend als technische Probleme verstanden. Der Mediziner mutiert zum Anthropotechniker.
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Converging Technologies
Eine neue Stufe der Technisierung von Medizin und Life Sciences wird durch die "converging technologies" erreicht. Darunter versteht man den kombinierten Einsatz von Nano-, Bio-, Informations- und Kognitionswissenschaften sowie -technologien, für die das Kürzel NBIC steht.

"Converging technologies" ermöglichen völlig neuartige Kombinationen von biologischem und nichtbiologischem Material. Man erwartet sich von ihnen neue medizinische Anwendungen, z.B. völlig neuartige Diagnosemethoden und synthetische Implantate, die Verwendung von Nanopartikeln bei der Behandlung von Tumorzellen oder den Einsatz von Chiptechnologie in der Neurochirurgie. Umgekehrt können Bakterien zu Datenträgern für die Informationstechnologie umfunktioniert werden.

Die Übertragung von organischen Molekülen in synthetische Stoffe wird möglicherweise die Materialwissenschaft revolutionieren, so dass die Grenzen zwischen belebter und unbelebter Materie, zwischen Gehirn und Computer, zwischen organischen Kohlestoff- und anorganischen Siliziumverbindungen fließend werden.

Literatur: Mihail C. Roco/William S. Bainbridge (Hrsg.), Converging Technologies for Improving Human Performance. Nanotechnology, Biotechnology, Information Technology and Cognitive Science, Dordrecht u.a. 2003
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Neue ethische Herausforderungen
Converging Technologies eröffnen ganz neue Möglichkeiten, in das Leben von Mensch und Tier einzugreifen. Sie betreffen nicht nur Lebensanfang und Lebensende, sondern den gesamten Lebensverlauf. Dabei stehen elementare Menschenrechte wie das Recht auf Leben, auf körperliche und geistige Unversehrtheit, auf Schutz der Privatsphäre sowie das Recht auf Gesundheit zur Debatte. Die Grenzen zwischen Heilung und Optimierung der menschlichen Natur, zwischen Krankheit und Gesundheit beginnen noch stärker als bisher schon zu fließen.

Der Einsatz von Nanotechnologie in der Neuromedizin berührt das Problem der Identität, von Persönlichkeit und Persönlichkeitsveränderung - wobei auch Krankheiten selbst persönlichkeitsverändernd sein können (z.B. Alzheimer). Wo liegen die Grenzen zwischen Therapie und Manipulation? Und wer legt sie fest?
Technikfolgenabschätzung und Begleitforschung vonnöten
Generell entwickelt sich das Gesundheitswesen zu einer Multioptionsgesellschaft. Wo liegen die sozialverträglichen Grenzen der Autonomie von Patienten? Gibt es neben dem Recht auf Heilung auch ein Recht auf Optimierung der eigenen Natur, z.B. der Gedächtnisleistung oder der Sehfähigkeit? Welche Kosten und welcher Nutzen sind von den neuen Technologien zu erwarten? Eine Schweizer Studie rechnet mittelfristig kaum mit einer Entlastung bei den Gesundheitskosten. Dafür dürfte durch die Nanotechnologie der Trend zur Zweiklassenmedizin verstärkt werden.

Converging Technologies sind zivil wie militärisch nutzbar. Forschungen auf diesem Gebiet sind immer "dual research". Was folgt daraus für ihre ethische Bewertung? Außerdem entsteht eine Reihe neuer Sicherheitsprobleme, die vom Datenschutz bis zu möglichen Formen der "Nanopollution", d.h. der unerwünschten Kontamination von Individuen und Umwelt mit Nanopartikeln reicht. Eine umfangreiche Technikfolgenabschätzung und Begleitforschung wird also vonnöten sein.

Literatur: Walter Baumgartner/Barbara Jäckli/Bernhard Schmithüsen/Felix Weber, Nanotechnologie in der Medizin (TA 47/2003), Bern 2003
->   Schweizer Zentrum für Technologiefolgen-Abschätzung
Converging Technologies und EU-Politik
Vieles von dem, was als technische Innovationsmöglichkeiten diskutiert wird, klingt noch sehr nach Science Fiction. Es ist aber notwendig, die Entwicklung vorausschauend und proaktiv zum Thema zu machen. Die EU hat das bereits erkannt. Vom 14.-15. September 2004 fand in Brüssel eine hochrangige Expertenkonferenz zum Thema "Converging Technologies for a Diverse Europe" statt.´

Converging Technologies werden in Zukunft ein wichtiges Feld der europäischen Forschungspolitik sein. Eine entsprechende Forschungsförderung gehört sicher zu den Topthemen des demnächst auszuhandelnden 7. Rahmenprogramms der EU zur Forschungsförderung.

Nur am Rande sei vermerkt, dass Österreich die EU-Präsidentschaft innehat, wenn die Verhandlungen über das 7. Rahmenprogramm zu finalisieren sind. Schon auf diesem Grund hat die österreichische Bioethikkommission das Thema Converging Technologies bereits auf ihre Tagesordnung gesetzt. Wir brauchen dringend einen interdisziplinären wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Dialog auf nationaler und gesamteuropäischer Ebene über diese Fragen.
->   EU-Konferenz "Converging Technologies for a Diverse Europe"
Was ist (noch) Natur?
Der biotechnologische Fortschritt führt zu einer tiefgreifenden Veränderung unserer Begriffe von Natur und Natürlichkeit sowie des Menschenbildes und des Selbstverständnisses von Biologie und Medizin. Gefordert ist offenbar eine umfassende Ethik des Lebens, welche der engen Verflechtung von Biologie, Medizin und Technik Rechnung trägt.

Bereits der Philosoph Helmut Plessner (1982-1985) hat die menschliche, durch Technik bestimmte Existenzform als natürliche Künstlichkeit bezeichnet. Mit den Converging Technologies erreicht die natürliche Künstlichkeit eine neue Entwicklungsstufe.

Natur ist stets ein begriffliches und erkenntnistheoretisches Konstrukt. Das sprachliche Zeichen "Natur" gewinnt seine Bedeutung immer nur in unterschiedlichen wissenschaftlichen und kulturellen Interpretationspraxen. Im Verlauf der Technikgeschichte ist die Natur aber auch immer mehr zu einer technischen Konstruktion geworden. Das Telos der Natur ist immer mehr vom vermeintlichen Eigensinn in menschlichen Handlungssinn überführt worden.

Vor allen Einzelfragen der angewandten bzw. materialen Ethik hat daher die Besinnung auf elementare Fragen des Menschen- und Weltbildes zu stehen, die Auseinandersetzung mit dem Wesen der modernen Technik und der durch sie bestimmten Sicht des Lebens.
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Topische Ethik
Notwendig ist freilich, eine "topische" Ethik zu entwickeln, d.h. eine Ethik, die von typischen Situationen ausgeht, anhand derer der Einsatz von Converging Technologies und seine Ziele konkret zu diskutieren sind. Pauschalurteile pro und contra der neuen Technologien würden an der Komplexität der wissenschaftlichen Entwicklung und ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen vorbeigehen.

Eine "topische" Ethik ist prozessorientiert. Sie operiert nicht mit feststehenden Begriffen von Natur oder Werten, sondern mit Regelungen und Verfahrensweisen, die es erlauben, trotz divergierender Auffassungen zu ethischen und auch rechtlichen Lösungen zu finden. Auch die Grundsatzfragen nach dem Wesen des Menschen und nach dem Wesen der Technik müssen in konkreten Situationen diskutiert werden.
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Das Wesen der Technik
Nach Ansicht des Philosophen Martin Heidegger bestimmt das Wesen der Technik die neuzeitliche Wissenschaft von Anfang an. Die neuzeitliche Technik folgt der Wissenschaft nicht etwa als bloße Anwendung, sondern liegt dieser bereits zugrunde. Das naturwissenschaftliche Experiment bedient sich technischer Apparate und Instrumente, mit deren Hilfe die Natur so zugerichtet wird - im doppelten Sinne des Wortes! -, dass sich an ihr exakte Messungen vornehmen lassen.

Im Sinne des berühmten Diktums Galileo Galileis besteht neuzeitliche Wissenschaft darin, zu messen, was messbar ist, und messbar zu machen, was nicht messbar ist. Der berechnend-rechenhafte Blick auf die Natur, d.h. auch die Mathematisierung der Naturwissenschaft, die z.B. vom logischen Positivismus zum Maß aller Wissenschaft überhaupt erklärt wurde, wird aber nur durch Technik und technischen Fortschritt ermöglicht.

Die Erfindung des Teleskops zur Erforschung des Makrokosmos und des Mikroskops zur Erforschung des Mikrokosmos führen zur Ablösung einer vorneuzeitlichen naturphilosophischen Spekulation durch eine technische Art der Spekulation. An die Stelle der Naturbeobachtung mit dem bloßen Auge tritt die Beobachtung durch technische Instrumente.
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Technikethik
Weil das Wesen neuzeitlicher Technik die moderne Wissenschaft in allen ihren Disziplinen bestimmt, konzentriert sich auch die Debatte über Ethik in den Wissenschaften in starkem Maße auf Fragen der Technikethik.

Der Begriff hat zwei Bedeutungen. Unter Technikethik wird einerseits eine Ethik für die Technik, die auf Technikfolgenabschätzung basiert, verstanden. Technikethik in diesem Sinne ist eine Form der Angewandten Ethik bzw. eine Bereichsethik.

Technikethik kann andererseits aber auch grundlegender als eine durch das Wesen der Technik begründete Ethik aufgefasst werden. Technikethik in diesem Sinne fragt nicht nach externen moralischen oder ethischen Normierungen von Technik, sondern diskutiert "die Möglichkeit einer internen Moralbegründung aus dem Wesen der Technik" (Peter Fischer).

Literatur:
Peter Fischer, Philosophie der Technik (UTB 2504), München 2004;
Hans Lenk/Günter Ropohl (Hg.), Technik und Ethik, 2. Aufl. Stuttgart 1993
Günter Ropohl, Technikethik, in: Annemarie Pieper/Urs Thurnherr (Hg.), Angewandte Ethik. Eine Einführung, München 1998, S. 264-287
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Das Unbehagen in der Kultur
Im Ruf nach einer Erneuerung der Ethik oder gar einer neuen Ethik äußert ein allgemeines Unbehagen in der Kultur (Sigmund Freud). Verbreitet ist die Ansicht, es sei die Aufgabe von Ethik und Moral, Wissenschaft und Technik in ihre Schranken zu weisen und dem wissenschaftlichen Machbarkeitswahn klare Grenzen zu ziehen.

Als Wissenschaft steht aber die Ethik selbst im Sog technischen Denkens. Bereits 1972 stellte der Philosoph Walter Schulz in seinem Buch "Philosophie in der veränderten Welt" fest: "Die Verwissenschaftlichung hat sich auf dem Gebiet der Anthropologie dahin ausgewirkt, dass Fragen, die früher dem ethischen Bereich zugerechnet wurden, jetzt von bestimmten Wissenschaften übernommen werden, so vor allem von der Verhaltensforschung, der Psychologie und den Sozialwissenschaften."

Wie sich hinzufügen lässt, gehört es zur "Dialektik der Aufklärung" (Max Horkheimer/Theodor W. Adorno), dass sie die Herrschaft der neuzeitlichen Technik vollendet hat, eben jene Technokratie, welche einen Großteil der ethischen Konflikte allererst heraufbeschworen hat, für die heute so dringend nach Lösungen gesucht wird. Selbst noch die gesellschaftskritischen Aufklärer der Aufklärung partizipieren am modernen "Trend zur Technologie" (Schulz).

Literatur:
Walter Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen 1972
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Teil zwei des Beitrags folgt in ein paar Tagen.
->   Ulrich Körtner: Wissenschaftsethik und "converging technologies" (II)
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->   Alle Beiträge von Ulrich Körtner in science.ORF.at
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