Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Leben 
 
Gibt es ein Gott-Gen?  
  Lässt sich Religion naturwissenschaftlich erklären? Nach der "Neuro-Theologie" macht nun ein Genetiker von sich reden, der ein Gottes-Gen gefunden haben will. Doch Hirnforschung und Genetik können Gott weder beweisen noch widerlegen.  
Steckt der Glaube in den Genen?

Im September 2004 veröffentlichte der Genetiker Dean H. Hamer sein Buch "The God Gene. How Faith is Hardwired into our Genes".

Seine Thesen waren dem angesehenen "Time Magazine" im Oktober eine Cover-Story wert.

Hamers These: Es gibt ein Gen, das darüber entscheidet, ob Menschen religiös veranlagt sind oder nicht.

Literatur: Dean H. Hamer, The God Gene. How Faith is Hardwired into our Genes, New York 2004
Annahmen beruhen auf Zwillingsforschung
Hamer stützt seine Annahme u.a. auf umfangreiche Untersuchungen der Religiosität von eineiigen Zwillingen. Auch wenn diese getrennt aufwachsen, gibt es in ihrer religiösen Entwicklung bisweilen erstaunliche Parallelen. So berichtet Hamer von Fällen, in denen Zwillinge, die voneinander nichts wussten, Nonnen oder Priester wurden.

Auch sonst wird in der Zwillingsforschung darüber diskutiert, wie weit bestimmte Fähigkeiten und Dispositionen der Lebensführung genetisch bedingt sind. Das brachte Hamer auf den Gedanken, auch Religiosität könnte eine biologische Veranlagung sein.

Wenn Religion eine Sache der Gene ist, lassen sich auch Areligiosität und Atheismus biologisch erklären. Der Soziologe Max Weber (1864-1920), von dem bedeutende Arbeiten zur Religionssoziologie stammen, erklärte sich selbst für "religiös unmusikalisch". Der Philosoph Jürgen Habermas hat es ihm gleichgetan.

Wie also kommt es, dass Kinder, die in religiös geprägten Familien aufwachsen, ganz unreligiös werden, oder umgekehrt Kinder, die in einem areligiösen Milieu aufwachsen, eine starke Religiosität entwickeln? Lässt sich das vielleicht genetisch erklären?
...
Das "Gottes-Gen": VMAT2
Derartige Überlegungen sind nicht neu. Aufsehen erregt aber die Behauptung Hamers, er habe erstmals ein ganz bestimmtes Gen mit dem Namen VMAT2 identifizieren können, das über die Religiosität oder Areligiosität von Menschen entscheidet.

VMAT2 ist für die Produktion eines Moleküls verantwortlich, das Botenstoffe im Gehirn transportiert. Solche so genannten Neurotransmitter spielen für Bewusstseinszustände und Emotionen eine ganz wesentliche Rolle.

1998 begann Hamer seine Untersuchung mit einer Studie über Rauchen und Suchtverhalten an mehr als 1.000 männlichen und weiblichen Testpersonen. Ein umfangreicher Psychotest fragte unter anderem die von Hamer so genannte Selbst-Transzendenz ab. Darunter ist die Fähigkeit zu verstehen, über seine Grenzen hinauszuwachsen, sich mit dem Universum eins zu fühlen, in bestimmten Situationen sich selbst und die eigene Umgebung völlig vergessen zu können und einen Sinn für übernatürliche Phänomene und Erklärungen zu entwickeln.
...
Buddha, Jesus und Mohammed
Bei Menschen mit einer überdurchschnittlichen Begabung zur Selbst-Transzendenz wies Hamer eine bestimmte Variante des Gens VMAT2 nach. Daraus schließt er nun, diese Genvariante sei für Religiosität oder Spiritualität verantwortlich. Eine einzige Abweichung an einer einzigen Base im genetischen Code könne demnach erklären, weshalb es religiös besonders veranlagte Menschen gibt.

Und Hamer setzt noch einen darauf: "Buddha, Mohammed und Jesus", so seine kühne Schlussfolgerung, "hatten alle eine Reihe mystischer Erfahrungen oder Bewusstseinsveränderungen und haben deshalb vermutlich alle dieses Gen in sich getragen."
Ein biologischer Gottesbeweis?
Ob er selbst an Gott glaubt, lässt Hamer offen. Seine Studie könne die Existenz Gottes zwar nicht beweisen, schließe sie aber auch nicht aus, so seine ausweichende Antwort. Gläubige Menschen könnten das vermeintliche Gottes-Gen als Hinweis auf die Genialität des Schöpfers deuten, der im Menschen gewissermaßen seinen genetischen Fingerprint hinterlassen hat, damit nun der Mensch seinerseits Kontakt zu Gott aufnehmen kann.

Hamers Untersuchungsergebnisse lassen sich aber auch religionskritisch deuten. Dann lautet die Frage lediglich, ob Religiosität ein evolutionärer Vorteil oder aber eine eher lebenshemmende Laune der Natur ist.

Religion gibt spezifische Antworten auf die Sinnfrage. Offenbar ist das menschliche Gehirn so beschaffen, dass es, wie der Philosoph Hans Lenk meint, "geradezu zwanghaft versucht, immer und überall Einheit herzustellen, Kohärenzen zu konstatieren oder zu konstruieren, Zusammenhänge zu sehen und zu erzeugen, zu kreieren, zu projizieren oder zu produzieren, nötigenfalls geradezu zu fingieren, zu 'erdichten'" (H. Lenk, Kleine Philosophie des Gehirns, Darmstadt 2001, S. 107).

Religionen lassen sich in diesem Sinne als besondere Sinnkonstrukte deuten. Über deren Realitätsgehalt ist damit freilich noch gar nichts ausgesagt.
Der Mensch, das betende Tier
Zur interdisziplinären Religionsforschung gehört auch die Frage nach den biologischen Grundlagen von Religion und Religiosität. Schon lange wird darüber diskutiert, dass neben der Wortsprache die Fähigkeit zur Religion ein besonderes Merkmal der menschlichen Gattung ist, wodurch sie sich von anderen biologischen Gattungen unterscheidet.

Bereits Charles Hartshorne (geb. 1897), ein Wegbereiter der nordamerikanischen Prozesstheologie, hat erklärt, der Mensch sei das einzige "religious animal" auf Erden. 1975 erschien ein Buch des britischen Biologen Alister Hardy mit dem Titel "The Biology of God - A scientist's study of man the religious animal". Die deutsche Übersetzung trägt den Titel "Der Mensch - das betende Tier".

Der Philosoph Montaigne (1533-1592) wollte allerdings durchaus offen lassen, ob nicht auch Elefanten eine religiöse Ahnung hätten, weil sie, "wenn sie sich erst verschiedentlich gewaschen und gereinigt haben, den Rüssel, wie wir die Arme heben, die aufgehende Sonne steif ansehen, und gewisse Stunden des Tages gleichsam nachdenkend und betrachtend stehen" (Michel de Montaigne, Essais, Zürich 1992, S. 66).
...
Neuauflage der "natürlichen Theologie"
Was wir bei Autoren wie Dean H. Hamer oder auch auf der Spielwiese der so genannten "Neurotheologie" (Andrew Newberg u.a.) erleben, ist eine Neuauflage dessen, was in der Aufklärungszeit natürliche Theologie genannt wurde. Darunter ist der Versuch zu verstehen, jenseits aller historisch gewachsenen Religionen und ihrer sich z.T. erheblich voneinander unterscheidenden Glaubenslehren eine Art von Universalreligion zu entdecken, die sich nicht auf übernatürliche Offenbarungen, sondern auf natürliche Veranlagungen des Menschen stützt.

Zu dieser gänzlich undogmatische Religion, die keine Kirche oder sonstige Religionsgemeinschaft braucht, müssten sich alle Menschen guten Willens bekennen können, weil sie letztlich identisch ist mit einer universal gültigen vernünftigen Moral.

In diesen Bahnen bewegte sich auch Alister Hardy. Biologische Erkenntnisse, so Hardy, könnten der alten Idee einer natürlichen Theologie neue Überzeugungskraft verleihen. Ganz Naturwissenschaftler, empfahl er, den Glauben als eine Art von Experiment zu begreifen.

Literatur:
Alister Hardy, Der Mensch - das betende Tier. Religiosität als Faktor der Evolution, Stuttgart 1979
...
Pseudowissenschaftliche Bio-Theologie
Dem zeitgenössischen Bedürfnis in westlichen Gesellschaften nach "Spiritualität" kommen solche Arbeiten aus der Feder von Naturwissenschaftlern zweifellos entgegen. Das Problem bei all diesen Versuchen besteht aber in ihrer wissenschaftlichen Unsauberkeit. So streng Naturwissenschaftler auf ihren Methoden und der Überprüfbarkeit ihrer Experimente und Hypothesen auch sein mögen, so unseriös werden häufig ihre Aussagen, wenn sie auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften, der Theologie und der Religionswissenschaft zu dilettieren beginnen.

Die Frage nach biologischen Zusammenhängen kultureller Phänomene ist nicht nur legitim, sondern auch fruchtbar. Die reduktionistische Annahme, kulturwissenschaftliche oder auch theologische Forschung und Theoriebildung lasse sich durch naturwissenschaftliche Untersuchungen ersetzen, entbehrt aber jeder vernünftigen Grundlage.
Nichts genaues weiß man nicht
Naturwissenschaftler neigen nicht selten dazu, Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit ganz für sich zu reklamieren und die Geisteswissenschaften, insbesondere auch die Theologie, der Unwissenschaftlichkeit zu zeihen. Dabei wird oft übersehen, dass die Geisteswissenschaften einschließlich der Philosophie und der Theologie eine eigene strenge Begriffssprache und Methodik haben, mit denen Naturwissenschaftler häufig nicht vertraut sind.

Aber auch naturwissenschaftlich betrachtet hat Hamer nur wenig zu bieten. Von seinem Gott-Gen bleibt im Text selbst nicht sehr viel übrig. Das Gen VMAT2 sei, wie Hamer auch in Interviews einräumt, lediglich die Basis für eine gewisse Geisteshaltung und Empfänglichkeit gegenüber Übernatürlichem - was immer das sein mag.

Es handele sich bei VMAT2 vermutlich nur um eine von vielen Erbanlagen, die das komplexe Verhaltensmuster der Religiosität oder Spiritualität bei einem Menschen steuern. Mit anderen Worten: Nichts genaues weiß man nicht.
...
Verwendung von längst überholtem Religionsbegriff
Autoren wie Hamer argumentieren mit einem ganz unklaren Begriff von Religion oder von Spiritualität. Sie reden unbefangen auf eine theistische Weise von Gott, wie es heute kein Religionswissenschaftler oder Theologe mehr wagen würde. Dass der Glaube an einen personhaften Gott zu den Wesensmerkmalen von Religion gehört, hat schon der evangelische Theologe Friedrich Schleiermacher (1768-1834) am Ende des 18. Jahrhunderts widerlegt. Er hat auch gezeigt, dass es sich bei der Idee einer natürlichen Religion um ein bloßes Gedankenkonstrukt abendländischer Philosophie handelt.

Hamers These vom Gott-Gen unterstellt einen einheitlichen Religionsbegriff, wie er vielleicht noch in der ältereren Religionsphilosophie und Religionsphänomenologie verwendet wurde. Die moderne Religionswissenschaft hat sich aber von einem solchen essentialistischen Religionsbegriff inzwischen verabschiedet. Zu unterschiedlich sind die konkreten Religionen, zu uneinheitlich ihre Riten und Praktiken, zu gegensätzlich ihre Auffassungen von der Welt, vom Menschen und von der Transzendenz, als dass man sie seriöserweise auf einen Allgemeinbegriff des vermeintlichen Wesens von Religion bringen könnte.
...
Fremde Religionen mit westlichen Mustern interpretiert
Nicht minder diffus ist der heute beliebte Begriff der Spiritualität. Selbsternannte Neurotheologen wie der Hirnforscher Andrew Newberg, der die Korrelation von religiösen Erlebnissen mit bestimmten Gehirnaktivitäten beim Gebet von Nonnen oder bei der Meditation buddhistischer Mönche erforschen, verwenden populärwissenschaftliche Begriffe von Spiritualität oder Mystik, die keiner seriösen religionswissenschaftlichen Nachprüfung standhalten.

Hirnforscher oder Genetiker, die sich mit religiösen Phänomenen befassen, begehen oft den alten Fehler der Religionswissenschaft und der Theologie, fremde Religionen und religiöse Erfahrungsmuster mit Hilfe von westlichen Begriffen zu interpretieren. Entgegen eine heute weit verbreiteten Ansicht sind die Unterschiede zwischen den westlichen und den östlichen Religionen gerade auf dem Gebiet der so genannten Spiritualität besonders groß.

Sucht man z.B. innerhalb der hinduistischen Traditionen nach Entsprechungen zum christlichen Begriff des Heiligen Geistes, stößt man zwar auf Begriffe wie "brahman", "atman", "cit" und "prana", stellt aber rasch fest, dass es sich im Grunde um kaum Vergleichbares handelt. Änliches gilt vom Buddhismus oder vom Taoismus und seiner Lehre vom "Chi".
Von welchem Gott ist die Rede?
Nebulös bleibt auch der Gottesbegriff in neurowissenschaftlichen oder genetisch orientierten Studien. Eine aktuelle Zwillingsstudie am Londoner St. Thomas Hospital will herausgefunden haben, dass zwar nicht die Bereitschaft zum Kirchgang, wohl aber der Glauben an Gott vererbt werde. Projektleiter Tim Spector glaubt jedenfalls, dass sich für den Glauben an Gott ein vererbter Effekt von 40 Prozent nachweisen lasse.

Dass schon die bloße Rede von Gott kulturell vermittelt ist, dass Gottesvorstellungen geschichtlich kontingent und wandlungsfähig sind, wird dabei völlig ausgeblendet.

Die z.T. erheblichen Differenzen in den Glaubenslehren der verschiedenen Religionen und selbst innerhalb des Christentums lassen sich weder genetisch noch neurobiologisch erklären. Dazu sind wir auch weiterhin auf die wissenschaftliche Theologie und auf die deskriptive Religionswissenschaft angewiesen.
->   Is God in our Genes? (Teaser in "Time")
->   Mehr zu den Arbeiten von Tim Spector ("Daily Telegraph")
->   Twin Research Unit, St. Thomas Hospital
->   Alle Beiträge von Ulrich Körtner in science.ORF.at
 
 
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Leben 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick