Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft 
 
Religion und Ästhetik: Die Entdeckung der Sinnlichkeit  
  Ästhetik, Schönheit, Sinnlichkeit und Ganzheitlichkeit stehen heute hoch im Kurs. Die Medien- und Erlebnisgesellschaft sucht immer neue Formen sinnlicher Reize. Seit einiger Zeit hat auch die Theologie das Thema der Ästhetik für sich neu entdeckt. Der aktuelle Band des "Wiener Jahrbuchs für Theologie" befasst sich mit ästhetischen Erfahrungen in Religion und Theologie.  
Ästhetik: Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung
Auch die Inszenierung des eigenen Körpers gehört dazu. Ethisch zweifelhafte Reality-Shows, in denen sich Frauen vor laufender Kamera schmerzhaften Schönheitsoperationen unterziehen, gehören zu den besonders krassen Auswüchsen des neuen Körperkults. Ob Metrosexualität oder Wellness-Kult, ob Multimedia oder Ganzheitsmedizin - die Menschen wollen mit allen Sinnen leben.

Unter Ästhetik versteht man nicht allein die Theorie der Kunst, sondern eine allgemeine Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung. Die Fragen der Ästhetik sind so alt wie die griechische Philosophie, werden aber erst seit dem 18. Jahrhundert in einer eigenen philosophischen Disziplin behandelt.
Ästhetik nach der Aufklärung
Dass die sachlich-methodische Verselbstständigung der Ästhetik im Zeitalter der Aufklärung erfolgt, ist kein Zufall, denn das Interesse am Status von Sinnlichkeit und Gefühl bildet die Kehrseite der Frage nach der Leistungsfähigkeit und den Grenzen menschlicher Vernunft.

Die neuzeitliche Ästhetik befasst sich mit der reflektierten Sinneswahrnehmung, aber auch mit der produktiven Einbildungskraft bzw. Phantasie, den Gefühlen und dem Schönen in Natur und Kunst. Die Kunst als autonomes Gebiet der Kultur ist ein spezifisch neuzeitliches Phänomen, beruht doch die Eigenständigkeit der modernen Kunst auf ihrer Emanzipation vom religiösen Kontext und dem Zerbrechen der klassischen Gestalt von Metaphysik, welche die innere Einheit des Wahren, Schönen und Guten im Gottesbegriff gegeben sah.
Ansätze einer theologischen Theorie des Sinnlichen
Seit einiger Zeit hat auch die Theologie das Thema der Ästhetik für sich neu entdeckt. Es erschöpft sich keineswegs mit der Verhältnisbestimmung von Glaube und Kunst nach der Aufklärung oder in der kritischen Auseinandersetzung mit der Funktion als Religionsersatz oder wahrer Religion, welche die Kunst in der modernen Gesellschaft eingenommen, aber auch immer wieder dementiert hat.

Wie in der gegenwärtigen Philosophie Konzeptionen einer den Gegenstandsbereich der Ästhetik erweiternden Theorie der ästhetischen Erfahrung diskutiert werden, so gibt es auch Ansätze zu einer umfassenden theologischen Theorie des Sinnlichen. Sie reichen bis hin zum Desiderat einer sich insgesamt als Ästhetik begreifenden Theologie. Die Diskussion über die Alternative zwischen theologischer Ästhetik und ästhetischer Theologie steht freilich erst am Beginn.
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Neue liturgische Formen mit sinnlichen Symbolen
Eine zentrale Rolle spielen ästhetische Erfahrungen und die Leiblichkeit des Menschen für die vielfältigen Erscheinungsformen einer neuen Religiosität und Spiritualität. Auch in der evangelischen Kirche werden neue liturgische Formen erprobt, die mit sinnlichen Symbolen und Körperfahrungen arbeiten.

Für den Protestantismus als Religion des Wortes bedeutet die Wiederentdeckung der Sinnlichkeit eine besondere theologische Herausforderung. Gerade der protestantischen Spielart des Christentums wird gern ihre Wort- und Kopflastigkeit, ihr "Logozentrismus" - der Begriff stammt von Ludwig Klages - angelastet.
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Evangelium als "leibliches Wort"
Immerhin bezeichnet schon das Augsburger Bekenntnis von 1530, eines der wichtigsten Dokumente der Reformationszeit, das Evangelium als "leibliches Wort" (Artikel 5). Eine besondere Verbindung von Text und Sinnlichkeit stellt z.B. das Bibliodrama dar.

Was es bedeutet, dass Leiblichkeit das Ende aller Werke Gottes ist (Friedrich Christoph Oetinger), ist ebenso christologisch wie schöpfungstheologisch, anthropologisch und hermeneutisch zu bedenken.
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Ästhetik des Hässlichen im Glauben
Eine theologische Ästhetik lässt sich freilich nicht mehr ungebrochen metaphysisch als Lehre vom Schönen in seiner Einheit mit dem Wahren und Guten ausarbeiten. Denn abgesehen von der Grundlagenkrise der Metaphysik in der Moderne ist auch die Kategorie des Schönen theologisch gebrochen.

Im Zentrum des christlichen Glaubens steht der Gekreuzigte. Eine Ästhetik die am Leiden und Sterben Jesu von Nazareth Maß nimmt, ist gewissermaßen eine "Ästhetik des Hässlichen" (Karl Rosenkranz, 1853), welche die Sinne für menschliches Elend, für Not und Armut schärft, für die Menschen am Rande der Gesellschaft, die in der Welt der Reichen und Schönen allzu leicht übersehen werden.
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Kritik des schönen Scheins
Weil der Geist Gottes nach christlicher Auffassung der Geist des Gekreuzigten ist, dominiert in christlicher Spiritualität nicht eine harmonistische Weltsicht. Vielmehr wird das vermeintlich Wertlose und Abstoßende wahrgenommen und geachtet, werden die Beschädigungen des Lebens erkannt und klagend vor Gott gebracht.

Eine theologische Ästhetik hat die Zweideutigkeit des schönen Scheins kritisch zu reflektieren. Und schließlich gehört auch die Religionskritik als theologische Kritik menschlicher Gottesbilder zu ihren elementaren Aufgaben.
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Wiener Jahrbuch für Theologie
Einen guten Einblick in die aktuelle theologische Debatte gibt der neueste Band des "Wiener Jahrbuchs für Theologie", das von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien herausgegeben wird. Zu beziehen ist das Buch über das Dekanat der Fakultät.

17 Beiträge sind dem Schwerpunkt "Theologie und Ästhetik" gewidmet. Die Themen reichen von der Biblischen Theologie bis zur Filmwissenschaft. U.a. schreiben James Alfred Loader über "Theologien als Symphonien. Zur (biblischen) Theologie und Ästhetik", Christian Danz über "Problemfelder und Aufgaben einer theologischen Kulturhermeneutik", Kurt Lüthi über "Schönheit" als theologischen Begriff, Michael Murrmann-Kahl über die Beschwörung des Religiösen in der autonomen Kunst am Beispiel Gustav Mahlers, Dieter Olaf Schmalstieg über "Blindenheilung, Auge Gottes. Sehen, Weltbezug, Erleuchtung als leitende Themen einer Cine-Theologie" und Michael Bünker über den "Filmstar Jesus".

An das Jahr der Bibel (2003) erinnern drei Vorträge von James A. Loader, Wilhelm Pratscher und Susanne Heine. Neben weiteren Arbeiten zu verschiedenen Forschungsfeldern informiert das Jahrbuch über Publikationen, Personalstand, Gastvorlesungen, Sponsionen und Promotionen in den Jahren 2002-2004.

Wiener Jahrbuch für Theologie, Bd. 5, 2004, Lit-Verlag, Wien 2005, 478 S.
->   Homepage der Evangelisch-Theologischen Fakultät Wien
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