Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Leben 
 
Vom unfreien Willen (I)
Theologie im Gespräch mit der Hirnforschung
 
  Ankündigungen, die Hirnforschung werde schon bald die Rätsel des Bewusstseins lösen, scheinen nicht nur die bisherige Philosophie des Geistes, sondern erst recht die Theologie in Bedrängnis zu bringen. Auch das Phänomen der Religion ist inzwischen zu einem Forschungsgebiet der Hirnforschung geworden. Sind Gott und das Ich nur Illusionen unseres Gehirns?  
"Neurotheologie"
Die Vertreter einer so genannten Neurotheologie versuchen auf experimentellem Wege die Annahme zu stützen, dass sich religiöse Erfahrungen und Gefühle in bestimmten Hirnarealen verorten lassen. Einen positiven Gottesbeweis zu führen, ist die "Neurotheologie" allerdings nicht imstande.

Sie kann nicht einmal einen empirischen Beleg für die These Friedrich Schleiermachers von der Religion als einer besonderen "Provinz im Gemüthe" führen. Bestenfalls erlauben neurobiologische Experimente den Schluss, dass bestimmte - und zwar meditative oder mystische - religiöse Erfahrungen mit bestimmten Hirnaktivitäten korrelieren.
Anders als bei Andrew Newberg, Eugene d'Auqili und Vince Rause ist Neurotheologie bei dem kanadischen Neurophysiologen Michael A. Persinger ohnehin nur eine Form der Religionskritik. Persinger hält nämlich jede religiöse Erfahrung für eine selbstinduzierte, kontrollierte Form von epileptischen Mikro-Anfällen. Die Traditionen der großen Religionen und die zwischen ihren Formen des Gottesglaubens und des Gottesgedankens bestehenden Unterschiede lassen sich auf diese Weise kaum erklären. Streng genommen handelt es sich bei der "Neurotheologie" gar nicht um Theologie, sondern um eine neurowissenschaftliche Form der Religionsforschung.

Literatur: A. Newberg/E. d'Aquili/V. Rause, Der gedachte Gott. Wie Glaube im Gehirn entsteht, München 2003; M.A. Persinger, Neuropsychological Bases of God beliefs, New York 1987
->   Ulrich Körtner: Gibt es ein Gott-Gen?
Der Streit der Fakultäten
Grundsätzlich stellt sich die Frage, welche Rolle die Theologie überhaupt im interdisziplinären Gespräch über das Leib-Seele-Problem bzw. über Gehirn und Geist zu spielen gedenkt. Und welche Rolle wird ihr von den übrigen Gesprächspartnern, also den Neurowissenschaften und der Philosophie zugestanden? Zwar hat die Theologie ihren festen Platz in der Problemgeschichte des Geistes. Zweifel bestehen aber an der Verallgemeinerungsfähigkeit ihrer Lösungsansätze, die in der Beschäftigung mit der christlichen Tradition gewonnen werden.

Die Philosophie braucht den Diskurs mit den Naturwissenschaften nicht zu scheuen. Zumindest kann sich die Philosophie um die Klärung der auch für die Neurowissenschaften zentralen Begriffe wie Bewusstsein, Geist, Ich oder Freiheit bemühen. Dies schließt die Kritik an einem für die neurowissenschaftliche Theoriebildung nicht folgenlosen Missbrauch der Sprache ein, den z.B. Thomas Buchheim bei Autoren wie Wolf Singer tadelt, der vom Gehirn wie von einem menschlichen Handlungssubjekt spricht. Ferner kann die Philosophie zur Klärung des wissenschaftstheoretischen Rahmens der Hirnforschung und ihrer Ergebnisse beitragen.
Einseitiges Gefälle
Der Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie hat dagegen oft ein einseitiges Gefälle. Auch der Theologie wohlgesonnene Naturwissenschaftler sind zwar davon überzeugt, dass die Theologie von ihnen einiges lernen kann. Dass sie umgekehrt etwas von der Theologie lernen könnten, will ihnen aber nicht ohne weiteres einleuchten.

Umgekehrt herrscht in theologischen Arbeiten zum Gehirn-Seele-Problem gegenüber der Neurobiologie häufig ein apologetisch-abwehrender Grundtenor. Der pauschale Vorwurf des Reduktionismus ist schnell bei der Hand. Das ist verständlich, gestattet er es doch, die Relevanz der Hirnforschung und ihrer Ergebnisse für die theologische und die philosophische Theoriebildung herunterzuspielen.

Ich möchte statt dessen für eine ergebnisoffene Haltung der Theologie im interdisziplinären Gespräch mit der Hirnforschung plädieren.
->   Ulrich Körtner: Gott und Gehirn
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Das Problem der Willensfreiheit
Die Diskussion über die möglichen und unmöglichen Folgen der Hirnforschung kreist neben dem Leib-Seele-Problem um das Problem des freien Willens: Hat der Mensch einen freien Willen oder nicht? Ist Freiheit nur eine Illusion? Aber was ist Wille? Was bedeuten überhaupt Begriffe wie "frei" oder "unfrei"? Und was für praktische Konsequenzen hat die Verteidigung wie die Bestreitung des freien Willens?

Literatur: Chr. Geyer (Hg.), Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt a.M. 2004; F. Hermanni/P. Koslowski (Hg.), Der freie und der unfreie Wille. Philosophische und theologische Perspektiven, München 2004
->   Herbert Hrachovec: Bedingungen für Freiheit (1) - (5)
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Der Streit zwischen Luther und Erasmus
Statt sich unkritisch in die Allianz derer einzureihen, welche die Willensfreiheit gegen die Angriffe prominenter Neurowissenschaftler verteidigen möchten, sollte sich evangelische Theologie an die Provokation Martin Luthers erinnern, der im Streit mit Erasmus von Rotterdam 1525 die These vom unfreien Willen vertreten hat.

Allerdings darf Luthers These nicht kurzschlüssig mit neurobiologischen Versuchen vermengt werden, die menschliche Willensfreiheit zu bestreiten. Sie zeigt aber, dass evangelische Theologie gegenüber der Neurobiologie und ihren Forschungsergebnissen zu den empirischen Bedingungen menschlicher Freiheit keine Berührungsängste haben muss.

Die aktuelle Debatte, ob der Mensch frei oder unfrei ist, greift zu kurz, weil sie Freiheit einfach mit Willensfreiheit gleichsetzt. Gerade von Luther ist zu lernen, dass menschliche Freiheit mehr und anderes ist als eine abstrakte Willensfreiheit. Ihm geht es nicht um eine formale Freiheitsbehauptung, sondern um existenziellen Freiheitsgewinn.
Luthers Freiheitsverständnis
Freiheit im gehaltvollen Sinne des Wortes ist nach Luther nicht eine natürliche Anlage des Menschen zur Entscheidungsfähigkeit bzw. die abstrakte Möglichkeit, zwischen Handlungsalternativen zu wählen, sondern die Freiheit des Glaubens. Er vertritt die These, dass der Mensch nur frei ist, sofern er zur Freiheit befreit wird (vgl. Galater 5,1).

Wird das Heilsgeschehen als Befreiungsgeschehen gedeutet, setzt dies voraus, dass der Mensch von Hause aus unfrei ist. Im christlichen Kontext wird die menschliche Freiheit zunächst unter den Bedingungen ihres faktischen Verlustes thematisch, für den der Begriff der Sünde steht.

Selbst dort, wo sich der Mensch frei in seinen Entscheidungen und seiner Lebensführung wähnt, ist er nach christlicher Auffassung unfrei, weil - bewusst oder unbewusst - in der Negation Gottes gefangen.
Befreiung vom Unglauben
Wahre Freiheit besteht in der Befreiung des Menschen von seiner Sünde durch Gott - und das heißt im Sinne Luthers und der übrigen Reformatoren - in der Befreiung vom Unglauben. Dieser Befreiungsvorgang wird im Anschluss an Paulus als Rechtfertigungsgeschehen gedeutet. Der Mensch kann sich aus der selbstverschuldeten Unfreiheit der Sünde nicht selbst befreien, sondern einzig durch Gott befreit werden.

Die solchermaßen wiedergewonnene Freiheit bleibt unverfügbare Gnade. Sie ist zugesprochene Freiheit, die einerseits extern bleibt und andererseits im Glauben, d.h. im Hören der befreienden Botschaft des Evangeliums anzueignen ist. Dauerhaft wird diese Freiheit erst im Reich Gottes. Fragmentarische Freiheitserfahrungen sind der Grund für die eschatologische Hoffnung auf vollendete Freiheit.
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Teil 2 folgt in einigen Tagen.
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ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Leben 
 

 
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