Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Leben 
 
Vom unfreien Willen (II)
Theologie im Gespräch mit der Hirnforschung
 
  Martin Luthers These vom unfreien Willen stößt bis heute auf philosophische und theologische Kritik. Im Gespräch mit der Hirnforschung gewinnt sie allerdings neue Aktualität. Allerdings darf Luthers These nicht kurzschlüssig mit neurobiologischen Versuchen vermengt werden, die menschliche Willensfreiheit zu bestreiten.  
Bedingte Freiheit
Es lohnt sich, Luthers Freiheitsverständnis mit der Phänomenologie der Freiheit des Philosophen Peter Bieri zu vergleichen. Bieri bezieht sich stark auf die Arbeiten des englischen Philosophen Harry G. Frankfurt, dessen Ideen er aber erheblich modifiziert. Wie für Bieris Verständnis von Willensfreiheit gilt auch für die Freiheit des Glaubens bei Luther, dass sie keine unbedingte, sondern eine bedingte Freiheit ist.

Soll Freiheit wirklich meine Freiheit, soll der Wille tatsächlich mein eigener Wille sein, dann gibt es Freiheit immer nur als bestimmte, d.h. aber als bedingte Freiheit. Die Idee einer unbedingten Freiheit ist nicht nur illusorisch, widersprüchlich und logisch inkonsistent. Sie ist auch theologisch fragwürdig.
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Literatur
P. Bieri, Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2004

H.G. Frankfurt, Freiheit und Selbstbestimmung, hg. v. M. Betzler u. B. Guckes (Polis, Bd. 1), Berlin 2001
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Angeeignete Freiheit
Nach Luthers wie nach Bieris Auffassung ist menschliche Freiheit nicht nur bedingt, sondern stets angeeignete Freiheit. Angeeignete Freiheit aber ist verstandene und willentlich gebilligte Freiheit. Wie die Freiheit, so ist Bieri zufolge auch das Selbst, von dem diese Freiheit ausgesagt wird, "ein vorübergehendes Gebilde auf schwankendem Grund, und es gehört zu den Voraussetzungen für Willensfreiheit, diese einfache und eigentlich offensichtliche Tatsache anzuerkennen, genauso wie die Tatsache, dass es Zeiten gibt, in denen wir weder autonom sind noch das Gegenteil."

Christlich gesprochen gründet das Selbst nicht in sich selbst, sondern extern in Christus und der durch ihn vermittelten Beziehung Gottes zum Menschen. Als extern zugespielte kann auch die Freiheit des Christenmenschen nur angeeignet werden, ohne je zu einem festen Besitz zu werden. Solchermaßen lässt sich der Glaube, der aus dem Hören des Evangeliums kommt (vgl. Römer 10,17) als Aneignung der Freiheit interpretieren.
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Ist Willensfreiheit Glückssache?
Als göttliche Gabe ist der Glaube unverfügbar, d.h. kontingent. Mit Bieris Idee der bedingten und angeeigneten Freiheit berührt sich der Gedanke insofern, als Bieri mit einer gewissen Überspitzung sagt: "Willensfreiheit ist ein Stück weit Glückssache."

Worin sich Bieris Phänomenologie der Freiheit und Luthers Freiheitsverständnis jedoch gravierend unterscheiden, ist die Behauptung Bieris, "dass die Freiheit des Willens etwas ist, das man sich erarbeiten muss". So verstanden wäre der Glaube als Aneignung der Freiheit ein Werk und nach Luthers Auffassung kein wahrer Glaube mehr. Die Aneignung des Glaubens ist in Wahrheit kein Tun, sondern ein Empfangen. Was der Glaube als "Handwerk der Freiheit" (Bieri) zu leisten vermag, betrifft - mit Luther gesprochen - den äußerlichen, nicht aber den inneren Menschen, d.h. sein Weltverhältnis, nicht sein Gottesverhältnis.
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Luthers These vom unfreien Willen
Die christliche Freiheit geht für Luther auf paradoxe Weise nicht nur mit der Dienstbarkeit und Knechtschaft des Menschen, sondern auch mit der Unfreiheit seines Willens zusammen. Die Lehre vom unfreien Willen geht folgerichtig aus Luthers radikalem Verständnis der Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben allein hervor. Er hat sie mit Vehemenz gegen Erasmus von Rotterdam und dessen Diatribe (moralische Schrift) über den freien Willen verteidigt.

Dass die Bezeichnung "freier Wille" ein Titel ohne echten Wert sei, ist bis zu einem gewissen Grade auch philosophisch plausibel. Allerdings darf der Zusammenhang von Luthers These mit seinem Sündenverständnis nicht außer acht gelassen werden. Sie trifft eine Aussage über den sündigen Menschen.
Freiheit des Willens ein exklusives Gottesprädikat
In seiner Schrift "Vom unfreien Willen" (De servo arbitrio, 1525) radikalisiert Luther seine These allerdings zu einer schöpfungstheologischen Aussage. Demnach gilt grundsätzlich, dass der Mensch keinen freien Willen hat. Luther vergleicht ihn mit einem Lasttier, das entweder von Gott oder vom Teufel geritten wird, und gelangt zu dem Schluss, dass Freiheit des Willens ein exklusives Gottesprädikat ist. "Wenn dieses dem Menschen beigelegt wird, wird es in nichts rechtmäßiger beigelegt, als würde man ihnen auch die Gottheit selbst beilegen, eine Gotteslästerung, wie sie größer nicht sein kann" (Luther).

Wenn aber die Theologen dem Menschen überhaupt irgendeine Kraft der eigenen Spontaneität beilegen wollen, sollten sie dafür nach Luthers Meinung einen anderen Ausdruck als "freier Wille" wählen. Vom freien Willen lasse sich theologisch allenfalls in einem uneigentlichen Sinne sprechen, sofern dem Menschen ein solcher nur im Hinblick auf das, was "niedriger" ist als er selbst, zugestanden wird, d.h. für den Bereich seiner alltäglichen Lebensführung, nicht aber im Hinblick auf Heil oder Verdammnis.
Gewissheit
Dass auch der Wille des Glaubenden unfrei ist, wie Luther in "De servo arbitrio" behauptet, bedeutet keineswegs, der Glaube sei ein äußerlich auferlegter oder ein innerer Zwang. Ganz im Gegenteil ist der Glaube die Erfahrung von Freiheit schlechthin, nämlich die Erfahrung einer Gewissheit, die die gesamte Existenz trägt. Die Bedingtheit dieser Freiheit gründet in der Unbedingtheit der göttlichen Liebe.

Der Begriff der göttlichen Notwendigkeit steht bei Luther nicht für einen inneren Zwang auf Seiten des Glaubenden, sondern im Gegenteil für die Gewissheit der Freiheit. Gemeint ist aber nicht eine im Möglichen schwebende formale Wahlfreiheit, sondern die Befreiung und Freiheit von Sünde, Tod und Teufel. Der Glaube ist nicht in dem Sinne frei, dass er willentlich zustande gebracht worden ist, sondern er stiftet Freiheit, indem er fortan das innere Gravitationszentrum des Menschen und all seiner Wünsche bildet.
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Gewissensfreiheit
Gerade so sind auch Luthers Berufung auf die Freiheit des Gewissens auf dem Reichstag zu Worms 1521 und der ihm zugeschriebene Ausspruch: "Hier stehe ich, ich kann nicht anders", zu verstehen. Aus diesen Worten spricht nicht der innere Zwang eines unfreien Willens, sondern die Notwendigkeit eines freien Willens, dem alles daran liegt, ein Mensch zu sein, der zu seinem bestehenden Willen keine Alternative sieht, weil mit ihm seine gesamte Existenz und das Grundverständnis seiner selbst auf dem Spiel steht.

Es wäre in den Augen Luthers gerade ein Zeichen von Unfreiheit gewesen, hätte er eingelenkt und ausweichend geantwortet: "Hier stehe ich, ich kann auch anders." Dass er eben nicht anders konnte, rührt daher, dass der ihn leitende Wille im Sinne der Theorie Harry G. Frankfurts eine Volition zweiter Ordnung ist, d.h. ein handlungsleitender Wunsch, mit der sich Luther reflektiert und entschlossen identifiziert.
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Leidenschaftliche Freiheit
Nicht von ungefähr nimmt meine Beschreibung des Glaubens Anleihen bei Peter Bieris Beschreibung der leidenschaftlichen Freiheit. Als Leidenschaft definiert Bieri einen lebensbestimmenden Willen, "der nicht versklavende Starrheit, sondern befreiende, identitätsbildende Kontinuität besitzt". Theologisch ist die identitätsstiftende Kontinuität aber christologisch und eschatologisch zu bestimmen. Identitätsstiftend ist die extern vermittelte Christusbeziehung. Und die Kontinuität ist diejenige eines neuen Seins, das vom alten Sein qualitativ geschieden ist.

Der Vollzug der Aneignung, die Glauben genannt wird, hat eine passive Grundstruktur. Wiewohl sie aus der Beobachterperspektive als Aktivität bestimmt werden kann, wird sie doch subjektiv von demjenigen, der diese Aneignung vollzieht, als ein Bestimmtwerden erfahren. Die angeeignete Freiheit des Glaubens wird als zugeeignete Freiheit erlebt.
Freiheit jenseits von Determinismus und Indeterminismus
Die von Luther beschriebene Freiheit des Glaubens ist gerade nicht mit Willensfreiheit gleichzusetzen. Im Gegenteil besteht nach Luther zwischen Freiheit und Willensfreiheit ein fundamentaler theologischer Unterschied. Luthers stellt die paradoxe Behauptung auf, dass es eine menschliche Freiheit gibt, die mit der Unfreiheit des Willens vereinbar ist. Paradoxerweise weiß sich der Glaubende nach Luther in seiner Freiheit determiniert, jedoch nicht durch die Natur und ihre Gesetze, sondern durch Gott.

Das kann man als Position eines theologischen Kompatibilismus bezeichnen. Sie schließt die These ein, dass die in der philosophischen Debatte übliche Alternative zwischen Kompatibilismus und Inkompatibilismus, der Willensfreiheit und Determinismus prinzipiell für unvereinbar hält, nicht komplex genug ist.
Der evangelische Theologe Rudolf Bultmann hat Gott als "die alles bestimmende Wirklichkeit" definiert. Der theologische Gedanke einer durch den Willen Gottes bestimmten Welt ist vom naturwissenschaftlichen Diskurs über die Determiniertheit oder Indeterminiertheit der physikalischen Wirklichkeit zu unterscheiden.

Das naturwissenschaftliche Problem von Determinismus und Indeterminismus kann darum an dieser Stelle ebenso offen bleiben wie die Entscheidung zwischen Dualismus und Monismus und den unterschiedlichen kompatibilistischen und inkompatibilistischen Theorien zum Gehirn-Bewusstsein-Problem.

[28.2.05]
->   Vom unfreien Willen (I)
 
 
 
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