Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Leben .  Medizin und Gesundheit 
 
"Ageism": Diskriminierung älterer Menschen  
  Negative Altersbilder herrschen in der derzeitigen Diskussion zur "Überalterung" der Gesellschaft vor. Dabei kommt es zu einer neuen Form der Diskriminierung, die sich analog zu Rassismus oder Sexismus als "Ageism" bezeichnen lässt. Dahinter steckt oft die eigene Angst vor Bedürftigkeit und Gebrechlichkeit im Alter. "Frailty", Gebrechlichkeit, lautete auch das Motto des 8. Wiener Internationalen Geriatriekongresses, der im April stattfand.  
Negative Altersbilder
Gebrechlichkeit (englisch "frailty") gehört zu den Merkmalen, die man typischerweise mit dem Alter verbindet. Nach wie vor überwiegen in unserer Gesellschaft negativ besetzte Bilder des Alterns und Altseins. Auch die demographische Zunahme der absoluten Zahl von älteren Menschen über 65 Jahren und alten Menschen über 75 Jahren löst in der öffentlichen Diskussion negative Gefühle aus. Das populistische Buch des Herausgebers der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Frank Schirrmacher über das "Methusalem-Komplott" wurde 2004 zum Bestseller.

Man spricht von "Überalterung", was einem negativen Werturteil gleichkommt. Zwar wird erleichtert zur Kenntnis genommen, dass sich der Gesundheitszustand der heute Siebzigjährigen gegenüber den älteren Geburtsjahrgängen deutlich verbessert hat, sodass es heute einen neuen Typus der "jungen Alten" gibt, die noch ein aktives und ausgefülltes Leben führen.

Aber mit Besorgnis registriert die Öffentlichkeit, dass auch der Bevölkerungsanteil der Hochbetagten über 85 Jahren steigt, deren Leben von physiologisch bedingter Altersgebrechlichkeit, Multimorbidität und chronischen Erkrankungen geprägt ist.
Angst vor "Kostenexplosion" und "Pflegenotstand"
Neben dem körperlichen Verfall, dem Risiko von Stürzen, die eine häufige Ursache von Verletzungen, Behinderungen und Tod darstellen, von Schlaganfällen und Demenzerkrankungen, gibt es die Angst vor der Perspektivlosigkeit der letzten Lebensphase, vor Vereinsamung und sozialem Tod. Angesichts des prognostizierten Zuwachses an Menschen, die intensive Pflege brauchen, wird der "Pflegenotstand" ausgerufen und eine weitere "Kostenexplosion" im Gesundheitswesen befürchtet.

Alte Menschen und ihre Angehörige fürchten sich vor Pflegebedürftigkeit als Armutsrisiko, junge Menschen sorgen sich um die intergenerationelle Gerechtigkeit. Immer weniger Erwerbstätige müssen für die Pensionen und die Gesundheitsversorgung einer steigenden Zahl von Pensionisten aufkommen müssen, während die eigenen Rentenansprüche durch "Pensionsreformen" geschmälert werden.

Faktum ist auch, dass die Menschen über 65 Jahren den größten Anteil der Kosten verursachen, die durch stationäre Behandlung im Krankenhaus und Medikamentenverbrauch aufgrund der alterskorrelierenden Multimorbidität entstehen.
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"Ageism"
Aus ethischer Sicht ist jedoch zwischen den realen Problemen altersspezifischer Gebrechlichkeit, ihrer möglichen Vermeidung oder Bewältigung, und gesellschaftlichen Bildern von Altersgebrechlichkeit samt ihren gesellschaftlichen und sozialpolitischen Folgen zu unterscheiden. Wenn ein hohes Alter, die sich in ihm einstellenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen und ihre sozialen Folgen einseitig mit negativen Stereotypen belegt werden, muss man von einer neuen Form der Diskriminierung sprechen, die sich analog zu Rassismus oder Sexismus als "Ageism" bezeichnen lässt.

Ageism als Vorurteil gegen alte Menschen äußert sich, wie der Medizinethiker Franz Josef Illhardt beschreibt, auf dreifache Weise:

1. als Schwierigkeit, die Perspektive der Betroffenen einzunehmen,
2. als gesellschaftlich tabuisierte, gleichwohl vorhandene Aversion oder sogar Aggression gegen alte Menschen,
3. als unrealistische Wahrnehmung der Lebenssituation alter Menschen.

Unterschiedliche Sichtweisen von Gebrechlichkeit spielen für das Entstehen solcher Vorurteile und die damit verbundene Diskriminierung alter Menschen eine erhebliche Rolle.
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Empirische Alternsforschung
Wie lässt sich derartigen Vorurteilen wirksam entgegentreten? Neben der gerontologischen Aufklärung, also der sachgerechten Information über das Altern steht die Entwicklung positiv besetzter Bilder vom Altwerden und vom Alter.

Zur Aufklärung tragen die Ergebnisse der Gerontologie bei, die nicht nur eine interindividuelle, sondern auch eine intraindividuelle Varianz des Alterns erkennen lassen. Der heute gebräuchliche Begriff des differenziellen Alterns meint nicht nur, dass Menschen desselben Geburtsjahrgangs, funktionell betrachtet, unterschiedlich alt erscheinen können, oder dass man so alt ist, wie man sich fühlt, sondern auch, dass der individuelle Prozess des Alterns keinen kontinuierlichen Verlauf hat.

Auf Zeiten von Leistungseinbußen, bedingt durch körperliche Erkrankungen, psychische Traumata oder soziale Belastungen, können Phasen von Leistungsverbesserungen folgen. Außerdem unterliegen Organe, Organsysteme und körperliche Leistungsfunktionen unterschiedlich schnell verlaufenden Alternsveränderungen. Untersuchungen zeigen auch, dass die gemessene Lebenszufriedenheit im Alter nicht grundsätzlich geringer ist als bei jüngeren Menschen.
Anti-Aging
Von der neuen Gruppe der "jungen Alten", die auch von der Werbung und vom Tourismus längst als neue Zielgruppe entdeckt sind, war schon die Rede. Sie widerlegen das überkommene Bild eines von fortschreitendem Abbau körperlicher und geistiger Kräfte geprägten Alterns. Auch als ehrenamtlich Tätige, z.B. im sozialen Bereich, werden sie zunehmend entdeckt.

Hinzu kommen medizinische Strategien der Prophylaxe und der Rehabilitation, die ein vorzeitiges Altern vermeiden und die Phase massiver Gebrechlichkeit und Hilfsbedürftigkeit in der letzten Lebensphase möglichst weit hinausschieben und verkürzen sollen.

Neben rehabilitativer Medizin und mobilisierender Pflege, die eine Hospitalisierung alter Menschen mit ihren negativen Begleiterscheinungen vermeiden helfen sollen, ist an Strategien des "Anti-Aging" zu denken. Hier tut sich inzwischen ein neuer Markt auf, auf dem auch Mediziner ihre Produkte anbieten.
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Die "jungen" und die "alten Alten"
Ethisch betrachtet ist diese Entwicklung allerdings zwiespältig. Einerseits trägt sie zu einer gesellschaftlichen Umwertung und neuen Wertschätzung des Alterns bei. Andererseits bleiben die Vorurteile des Ageism durchaus bestehen. Sie verlagern sich nur von den "jungen" Alten auf die wirklich "alten" Alten. Alt sind eigentlich immer nur die anderen.

Anti-Aging und das neue Leitbild der jungen Alten bleiben dem gesellschaftlichen Ideal ewiger Jugend verhaftet. Positiv wird lediglich bewertet, dass man auch in einem Alter jenseits von 65 Jahren "jung bleiben" kann. Wirklich "alt" sein, wird jedoch in der Regel nach wie vor nicht positiv erlebt.

Die Vorurteile des Ageism richten sich nun gegen die Hochbetagten, deren Bild mit Gebrechlichkeit gleichgesetzt wird. Das sind "die Pflegebedürftigen", die "abgebaut" haben.

In der Abwertung von Menschen, die hilfsbedürftig oder pflegebedürftig sind, drückt sich auch die persönliche Distanzierung von negativen gesellschaftlichen Alternsbildern aus. Ein Indikator dafür ist es, wenn Menschen die Ansicht äußern, bestimmte Zustände von Gebrechlichkeit seien kein menschenwürdiges Leben mehr.

Nicht von ungefähr wird über die ethische Zulässigkeit von Euthanasie und ärztlicher Suizidbeihilfe gerade im Zusammenhang mit gebrechlichen und altersdementen Menschen diskutiert.
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Nachdenken über Gebrechlichkeit
Dem lässt sich nur begegnen, wenn die Gebrechlichkeit selbst zum Thema anthropologischer und ethischer Reflexion gemacht wird. Es geht nicht darum, die unterschiedlichen Formen von Gebrechlichkeit und die mit einem hohen Alter verbundenen spezifischen Krankheitsrisiken schönzureden, wohl aber darum, Gebrechlichkeit und Leiden in eine umfassende Sicht des Menschseins zu integrieren.

Auch die letzte Lebensphase kann eine Phase des Reifens sein und muss nicht ausschließlich als defizitär erlebt werden. Selbst in der Begegnung mit schwerst pflegebedürftigen Menschen kann ein wechselseitiges Geben und Empfangen stattfinden.

Welche Kraft und welches Lebensbeispiel auch von Schwerkranken und gebrechlichen Menschen ausgehen kann, hat der verstorbene Papst Johannes Paul II. auf eindrückliche Weise bewusst gemacht. Durch ihn ist ein Bild von Gebrechlichkeit öffentlich gemacht worden, das hoffentlich als Ermutigung empfunden wird und zu einer neuen Einstellung gegenüber Schwachheit, Leiden, Alter und Tod beiträgt.
Jeder Mensch ist zerbrechlich
Nicht erst im Alter, sondern von Geburt an zeichnet sich unser Leben durch eine "chronische Bedürftigkeit" und eine "unendliche Angewiesenheit" (Wolfhart Pannenberg) aus. Hilfsbedürftigkeit widerspricht nicht der Würde des Menschen - religiös gesprochen: seiner Gottebenbildlichkeit -, sondern gehört zum Wesen des Menschsein, weil es zu seiner Endlichkeit gehört.

Überhaupt gibt es Lebenswichtiges, das sich der Mensch nicht selbst geben kann: Liebe, Anerkennung und Verzeihung. Sie kann er nur als Geschenk bzw. als Gnade empfangen. Letztlich zeigen sie für jeden Menschen, dass er ein zerbrechliches und gebrechliches Wesen ist, nicht nur für multimorbide Hochbetagte.
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Religiöse Einsichten
An dieser Stelle ist auch von Religion zu sprechen. Sie kultiviert die Erfahrung und das Bewusstsein unserer Empfänglichkeit. "Was hast du, das du nicht empfangen hast?", erinnert Paulus seine Leser im 1. Korintherbrief 4,7. Und Paulus ist es auch, der von der Erfahrung spricht, dass die Kraft Gottes in den Schwachen mächtig ist (1. Korinther 12,9) und nichts uns von die Liebe Gottes scheiden kann (Römer 8,38-39).

Darin besteht, wenn man so will die Umwertung der Werte im Christentum. Anders formuliert kann auch noch in der Gebrechlichkeit Lebenssinn entdeckt werden, weil selbst der physische und psychische Verfall dem Menschen seine Würde nicht zu nehmen vermag.
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Lebensqualität bis zuletzt
Gebrechlichkeit ist gleichermaßen eine individualethische, eine personalethische und eine sozialethische Herausforderung. In Umgang mit "frailty" gilt es, den richtigen Weg zu finden, damit die notwendige Hilfe nicht versagt, aber auch nicht durch eine falsch motivierte Überversorgung die Gebrechtlichkeit noch gefördert wird. Übertriebene und nicht indizierte Hilfestellung kann bekanntlich zur "erlernten Hilflosigkeit" führen. In gut gemeinter Absicht können Menschen auf diese Weise hospitalisiert und entmündigt werden.

Zur ethischen Aufgabe gehören auch die menschliche Zuwendung, der seelische und, wo gewünscht, auch der spirituelle Beistand, gehören wirksame Strategien gegen den sozialen Tod, gegen Vereinsamung und Depressivität.

Grundsätzlich kann als Maxime gelten: "To add life to years, not years to life". Subjektiv erlebte Lebensqualität hat Vorgang vor der bloßen Lebensverlängerung. Die Aufgabe von Medizin und Pflege besteht eben nicht nur in der Heilung von Krankheiten oder der Wiederherstellung von Gesundheit, sondern auch in der Linderung von Leiden. Generell lässt sich sagen, dass sich die ärztliche Aufgabe bei zunehmender Gebrechlichkeit des Patienten von der kurativen zur palliativen Therapie verschiebt.
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Keine "soziale Euthanasie"!
Es lässt sich aber keineswegs rechtfertigen, betagten Menschen bestimmte diagnostische Verfahren und kurative Therapien generell vorzuenthalten. Abgesehen davon, dass sich die verbleibende Lebenszeit niemals mit exakter Sicherheit vorhersagen lässt, wäre der generelle Ausschluss betagter und gebrechlicher Menschen von Angeboten der kurativen Medizin inhuman. Rechtfertigen lässt sich der Verzicht nur im Kontext der individuellen Biographie und Lebensumstände, wenn der mögliche medizinische Nutzen in keinem Verhältnis zu den mit Diagnose und Therapie für den Patienten verbundenen Belastungen oder der Beeinträchtigung seiner Lebensqualität steht.

In der Debatte über die intergenerationelle Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen gilt es zu bedenken, dass die Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung allgemein begrüßt und von den Einzelnen gewünscht wird. Nun verdankt unsere Gesellschaft die gestiegene Lebenserwartung dem zivilisatorischen Fortschritt einschließlich den Fortschritten in der modernen Medizin. Die Verlängerung der Lebensdauer ist nicht so sehr eine Folge der individuellen Lebensführung als der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung, die generell auf die Minimierung von Lebensrisiken ausgerichtet ist.

"Wird dieses Ergebnis in seinen Konsequenzen als sozial unerwünscht angesehen, kommt das einer Negierung zivilisatorischer Bemühungen gleich und muss in letzter Konsequenz in deren Rücknahme oder in die Forderung nach freiwilligem Suizid im Alter, sozialer oder biologischer Euthanasie münden", so der Mediziner Siegfried Kanowski. Das aber wäre nicht nur inhuman, sondern auch ungerecht.
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Christliches Ethos und intergenerationelle Gerechtigkeit
Dass die Forderung nach einem "sozialverträglichen Frühableben" auch jeder christlichen Ethik widerspricht, versteht sich von selbst. In Fragen der intergenerationellen Gerechtigkeit im Gesundheitswesen kommt der ursprüngliche und soziale Sinn des vierten Dekaloggebots (2. Mose 20,12; 5. Mose 5,16) zum Tragen. Vater und Mutter zu ehren, wie das Gebot fordert, wendet sich nämlich nicht an Kinder, die der elterlichen Gewalt unterstehen, sondern an Erwachsene, die ihre Eltern im Alter versorgen und ihnen mit Achtung begegnen sollen.

In der heutigen Gesellschaft muss dieser Grundsinn des vierten Gebotes allerdings neu interpretiert werden. Denn es wäre eine sozialpolitische Fehleinschätzung, wollte man in der Versorgung und Pflege chronisch kranker und gebrechlicher Menschen in erster Linie auf die Potenziale der Familien setzen.

Hier muss der veränderten Formen von Familialität und der Tatsache, dass es viele Alleinstehende gibt, sozial- und gesundheitspolitisch Rechnung getragen werden.

[20.4.05]
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"Frailty" - Gebrechlichkeit ist das Motto des 8. Wiener Internationalen Geriatriekongresses (zugleich der 45. Österreichische Geriatriekongress), der vom 20. bis 23. April 2005 stattfand.
->   8. Wiener Internationaler Geriatriekongress (Programm; pdf-Datei)
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->   Die Beiträge von Ulrich Körtner in science.ORF.at
 
 
 
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