Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Medizin und Gesundheit 
 
Weltreligionen im Dialog mit der Medizin  
  Darf die moderne Medizin, was sie kann? Und welche Rolle spielen religiöse Normen und Werthaltungen im bioethischen Diskurs moderner Gesellschaften? Das ist das Thema eines internationalen Symposiums des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin an der Universität Wien.  
Medizinethik im postsäkularen Zeitalter
Religionssoziologen und Kulturwissenschaftler sprechen von der "Wiederkehr der Religion", von einem neu erwachten Interesse an Spiritualität sowie vom Übergang der säkularen zu einer postsäkularen Gesellschaft. Soviel ist jedenfalls sicher: Religion ist keineswegs nur noch Privatsache, sondern wieder ein Faktor des öffentlichen Lebens und der Politik.

Auch die europäischen Gesellschaften sind heute multikulturell und multireligiös. Dazu tragen nicht zuletzt Migrationsbewegungen bei. Die dadurch hervorgerufene multireligiöse Situation stellt auch Medizin und Pflege vor große Herausforderungen.
Die Rolle von Religion im bioethischen Diskurs
Medizinische Forschung ist längst international vernetzt. Dabei zeigt sich, dass biotechnologische Entwicklungen in den verschiedenen Kulturen durchaus unterschiedlich bewertet werden. Religiöse Traditionen und Prägungen spielen hierbei durchaus eine Rolle. Dass asiatische Länder wie z.B.Korea den Möglichkeiten des therapeutischen Klonens offener gegenüberstehen als ein Land wie Österreich, lässt sich nicht allein mit ökonomischen Interessen erklären.

Medizin im Kontext der Kulturen und Religionen ist eingebunden in Werte- und Symbolsysteme, die sich historisch entwickeln und über lange Zeit hinweg Stabilität aufweisen. Kulturen sind örtlich geprägt, d.h. sie weisen zwar anthropologische Universalien auf, lokalisieren und deuten sie aber in je spezifischen Kontexten in Beziehung zu jeweils besonderen Umweltbedingungen und anderen Kulturen.
Liberalismus vs. Kommunitarismus
Der Dialog der Weltreligionen mit der modernen Medizin hat also auch eine politische Seite. Offene Fragen am Lebensanfang und Lebensende beziehen sich nicht nur auf den ontologischen, den moralischen und den rechtlichen Status des Embryos oder auf die Sicht des Todes. Sie betreffen auch nicht nur den Inhalt von Begriffen wie Menschenwürde und Autonomie. Zu klären ist vielmehr auch, welche Rolle religiöse Argumente im ethischen und politischen Diskurs einer pluralistischen Gesellschaft spielen und spielen sollen.

Im Hintergrund dieser Frage steht die Auseinandersetzung zwischen Liberalismus bzw. universalistischen Ethikkonzeptionen und Kommunitarismus, die zunächst in den USA geführt wurde, seit geraumer Zeit aber auch in Europa Beachtung findet.
Geltung und Genese trennen?
Universalistische bzw. liberalistische Ethiken vertreten den Anspruch, dass ihre Prinzipien und Kriterien kultur- und traditionsunabhängig sind. Sie koppeln die historische Genese von der systematischen Geltung, den Entdeckungs- vom Begründungszusammenhang ab. Mag sich z.B. das moderne Konzept der Menschenwürde auch jüdischem und christlichem Erbe verdanken, sollen religiöse Argumente nach diesem Modell für die ethische Begründung von Menschenwürde und Menschenrechten in der säkularen Gesellschaft keine tragende Rolle spielen.

Demgegenüber vertreten Kommunitaristen die These, dass ethische Konzepte und Prinzipien nicht kulturunabhängig sind. Genese und Geltung, Motivation und Begründung werden in kommunitaristischen Ethikkonzeptionen wieder stärker aneinandergerückt.

Während auf der einen Seite die Forderung erhoben wird, die Vielfalt gesellschaftlicher, kulturell und auch religiös geprägter Sichtweisen in moralischen Fragen angemessen zur zu berücksichtigen, wird auf der anderen Seite die These vertreten, die Vielfalt der moralischen Überzeugungen müsse zumindest insoweit reduziert werden, dass religiöse und weltanschaulich gebundene Positionen aus der Debatte ausgeschlossen werden.
Religiöse Abstinenz?
Wie der evangelische Theologie Johannes Fischer jedoch kritisch einwendet, läuft dieser Vorschlag im Ergebnis auf die Zumutung hinaus, dass die Bürgerinnen und Bürger bei der öffentlichen Entscheidungsfindung in moralischen Fragen eben jenen religiöse Hintergründe verleugnen sollen, aus denen sich ihre moralische Sensibilität speist und die diese Fragen für sie überhaupt erst zu moralischen Fragen macht.

"Darin liegt die Gefahr, dass zwischen ihren religiös begründeten moralischen Auffassungen und dem, was bei der öffentlichen Entscheidungsfindung an Orientierung zugelassen wird, eine tiefgreifende Kluft entsteht. Verhindert werden kann dies nur, wenn auch in der öffentlichen Debatte den gesellschaftlich vorhandenen religiösen Orientierungen nach Möglichkeit Rechnung getragen wird."
Interkulturelle Medizin und Pflege
Religiöse Einstellungen beeinflussen nicht nur das kulturelle und politische Umfeld medizinischer Forschung, sondern üben auch auf das individuelle Gesundheits- und Krankheitsverhalten einen praktischen Einfluss aus. Die unterschiedlichen Sichtweisen von Krankheit und Gesundheit, Heil und Heilung oder Körper, Geist und Seele machen Konzepte einer interkulturellen bzw. multikulturellen Medizin erforderlich.

Medizin und Pflege in einer multikulturellen Gesellschaft setzt nicht nur den Respekt vor anderen Kulturen und Religionen voraus, sondern erfordert auch ein hohes Maß an hermeneutischer Kompetenz. Interkulturelle Medizin und Pflege müssen aber auch religionssensibel sein.
Transkulturelle Perspektiven
Medizin und Pflege in einer globalisierten Welt müssen zugleich von der Überzeugung getragen sein, dass es die Grenzen der Kulturen überschreitende (transkulturelle) moralische Grundüberzeugungen gibt. Transkulturelle Medizin und Pflege sind auf die Reflexion der eigenen, der persönlichen (gewöhnlich nicht bewussten) und der biomedzinischen Wissens und Sinnordnungen angewiesen. Ebenso gilt es, die subjektiven Wissens- und Sinnhierarchien der Patientinnen und Patienten zu erschließen.

Anzustreben ist eine Transformation im Sinn einer Verschränkung von Wertordnungen. Der Philosoph John Rawls hat in diesem Zusammenhang von einem "overlapping consensus" gesprochen. Die eigenen Deutungsmuster dürfen nicht als ausschließliche normative Grundlage medizinischen oder pflegerischen Handelns und Forschens dienen. Für eine transkulturelle und religionssensible Medizin geht es nicht darum, ein einheitliches Menschenbild und Medizinsystem zu entwerfen, sondern sich die Relativität medizinischen Erkennens und Handelns bewusst zu machen. um über kulturelle Unterschiede und Grenzen hinweg neue Handlungsmöglichkeiten zu erschließen.

[7.11.05]
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Weltreligionen und moderne Medizin - ein Symposium
Das Institut für Ethik und Recht in der Medizin veranstaltet vom 11.-12. November 2005 ein Symposium zum Thema "Weltreligionen im Dialog mit der Medizin". Unter den Referenten sind international renommierte Wissenschaftler wie der Kulturphilosoph Thomas Macho von der Humboldt-Universität zu Berlin oder der jüdische Medizinethiker Yves Nordmann von der University of Maryland (Baltimore/USA).

Die Tagung befasst sich inhaltlich mit den Grenzbereichen des Lebensbeginns und Lebensendes aus jüdischer, islamischer, buddhistischer, katholischer, evangelischer und orthodoxer Sicht. Das Ziel besteht in der transkulturellen und transreligiösen Kompetenzerweiterung.

Veranstaltungsort: AULA am Campus der Universität Wien, Spitalgasse 2-4, Hof 1, 1090 Wien

Nähere Informationen und Anmeldung: Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
->   Institut für Ethik und Recht in der Medizin
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