Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft 
 
Perspektiven ökumenischer Sozialethik  
  Im November 2003 veröffentlichten die österreichischen Kirchen ihr gemeinsames Sozialwort, das international große Beachtung gefunden hat. Nun ist eine wissenschaftliche Begleitstudie erschienen, die am 24. November in Wien der Öffentlichkeit vorgestellt wird.  
Das ökumenische Sozialwort
Am 1. Advent 2003 veröffentlichte der Ökumenische Rat der Kirchen in Österreich (ÖRKÖ) ein viel beachtetes Sozialwort. Es war das Ergebnis eines intensiven vierjährigen Prozesses, an dem vierzehn Kirchen beteiligt waren.

Das Sozialwort des ÖRKÖ ist ein erster praktischer Schritt, um auf nationaler Ebene die Charta Oecumenica aus dem Jahr 2001 umzusetzen. Zu einer Zeit, da die Lage in der ökumenischen Bewegung gespannt ist, geht von diesem Dokument in der Tat ein Zeichen aus, dass die Ökumene noch lebendig ist.
->   Ökumenischer Rat der Kirchen in Österreich
Europäische Herausforderungen und Perspektiven
Durch die Erweiterung der Europäischen Union im Mai 2004 und die geplante Aufnahme weiterer Staaten im Jahr 2007 soll die Trennung Europas entlang der ideologischen und politischen Bruchlinien des 20. Jahrhunderts endgültig überwunden werden.

Die Grundidee der europäischen Einigung, eine Friedensregion in Europa zu schaffen, wird so für einen Großteil des Kontinents Wirklichkeit. Den Weg dazu bilden intensive Verflechtungen zwischen den nationalen Wirtschaftsräumen, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und eine vertiefte Zusammenarbeit in der Justiz, wie sie das Dreisäulenmodell des Vertrags von Maastricht (1992) vorsieht.

Die in den letzten Jahren intensiv geführte Debatte über die Identität und die gemeinsamen Werte der Europäischen Union zeigt jedoch, dass dies nicht ausreicht, um die Zukunft Europas zu gestalten.
Kirchen sind die größten sozialen Akteure
Das vereinte Europa stellt ein neues politisches Gebilde dar, für dessen Schaffung auf keinerlei Vorbilder zurückgegriffen werden kann. Gerade deshalb kommt für seine Entstehung der politischen Phantasie besondere Bedeutung zu. Diese ist auch eine Sache der Ethik und der Spiritualität, nicht nur von Einzelnen, sondern auch der Kirchen und Religionsgemeinschaften.

Die christlichen Kirchen stellen die größten sozialen Akteure in Europa dar. Ihre Werteoptionen und deren gesellschaftliche Vermittlung sind für das Gelingen der Integrationsprozesse in der Zukunft von zentraler Bedeutung.

Um gehört zu werden, müssen die Kirchen in sozialen Belangen in ökumenischer Verbundenheit sprechen und handeln. Dies nicht nur aus Gründen der Effizienz, da angesichts der Komplexität der sozialen Wirklichkeit eine Arbeitsteilung von Nutzen ist, sondern zuerst und vor allem um ihrer Glaubwürdigkeit willen.
Anerkennung der historisch gewachsenen Pluralität
Die konfessionellen Spaltungen, die im Westen zu Religionskriegen führten, sind tief im kollektiven Gedächtnis Europas verankert und stellen ein historisches Trauma dar, das noch nicht überwunden ist - auch dies haben die erhitzten Diskussionen um die Erwähnung des religiösen Erbes in der Präambel der Europäischen Verfassung gezeigt. Ebenso gibt es eine Kluft zwischen dem Osten und dem Westen Europas und - damit verbunden - zwischen den Ost- und Westkirchen.

Diese Gräben der Geschichte zu überbrücken und die je eigenen Erfahrungshorizonte für die Gegenwart zu entschlüsseln, stellt heute die entscheidende Herausforderung dar. Dazu bedarf es zuerst des Brückenbaus zwischen den Kirchen selbst.

Dies setzt eine Anerkennung der historisch gewachsenen Pluralität voraus, die zugleich ein Zeichen dafür darstellt, dass die Kirchen die Lektion der Toleranz gelernt und die Fähigkeit zum Umgang mit Pluralität im binnenkirchlichen Bereich entwickelt haben. Nur dann kann das neue Interesse an der Religion und ihrem Beitrag zur Gestaltung der Gesellschaft fruchtbar gemacht werden.

Ein positives Zeichen in diese Richtung ist die ökumenische Sozialverkündigung, die in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte gemacht hat.
Sozialethik aus ökumenischer Perspektive: Ein Desiderat
Angesichts der Zahl und Vielfalt der Dokumente ökumenischer Sozialverkündigung und der Bedeutung, die das ökumenische und soziale Engagement in den vergangenen Jahren erlangt hat, überrascht es, dass es bisher kaum Ansätze für eine gemeinsame sozialethische Grundlagenreflexion gibt.

Aufgabe einer derartigen Sozialethik aus ökumenischer Perspektive wäre es, die unterschiedlichen theologisch-ethischen Zugänge, die sich in den einzelnen Kirchen historisch entwickelt haben und aktuell diskutiert werden, darzustellen und miteinander ins Gespräch zu bringen.

Das Ziel kann nicht sein, eine christliche Einheitsethik zu erfinden, in der die verschiedenen Traditionen eingeebnet würden. Dies wäre weder möglich noch wünschenswert. Weil der ökumenische Dialog den Pluralismus der Konfessionen nicht einfach hinter sich lässt, sondern ihn gerade zur Voraussetzung hat, kann auch eine ökumenische Sozialethik nur multiperspektivisch betrieben werden.

Ökumenische Sozialethik muss die unterschiedlichen Zugänge in ihrer kulturell gewachsenen Eigenart respektieren und als gemeinsames Erbe des Christentums vorweg positiv bewerten.
Vermittelte Pluralität

Dies kann freilich nicht bedeuten, dass die sozialethischen Ansätze der einzelnen Traditionen beziehungslos nebeneinander stehen. Es geht vielmehr um eine vermittelte Pluralität.

Dies verlangt eine Entschlüsselung der Grundintentionen unter Kenntnis des jeweiligen kulturellen Kontextes, die dann auf ihre Inhalte befragt und in Beziehung zueinander gesetzt werden sollen.

Aus diesen Prozessen der Vermittlung können neue Einsichten erwachsen und neue Positionen gewonnen werden.
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Neuerscheinung
Ein neues Buch von Ingeborg Gabriel, Alexandros K. Papaderos und Ulrich H.J. Körtner stellt nun die orthodoxe, katholische und evangelische Sozialtheorie in Grundzügen dar und zeigt so Übereinstimmungen, aber auch Differenzen als Basis für zukünftige Diskurse auf, um den ethischen Dialog zwischen westlichen und östlichen Kirchen auf wissenschaftlicher Grundlage zu vertiefen.


Ingeborg Gabriel/Alexandros K. Papaderos/Ulrich H.J. Körtner, Perspektiven ökumenischer Sozialethik. Der Auftrag der Kirchen im größeren Europa, Matthias Grünewald, Mainz 2005, 320 S., ISBN 3-7867-2568-3, 19,80 Euro.

Die Autorin und die Autoren:

Ingeborg Gabriel, geb. 1952; Universitätsprofessorin am Institut für Sozialethik der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien.

Alexandros K. Papaderos, geb. 1933; Mitglied verschiedener Kommissionen des Ökumenischen Rates der Kirchen, u. a. des Zentralausschusses der Konferenz Europäischer Kirchen; derzeit Generaldirektor der Orthodoxen Akademie Kretas.

Ulrich H.J. Körtner, geb. 1957; Universitätsprofessor am Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien; Mitglied der Kommission Kirche und Gesellschaft der Konferenz Europäischer Kirchen sowie der Fachgruppe für sozialethische Fragen der Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa (GEKE).
->   Matthias Grünewald Verlag
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Buchpräsentation und Symposium
Am Donnerstag, 24. November 2005, wird das Buch der Öffentlichkeit vorgestellt.

Zeit: 17-20 Uhr

Ort: Kleiner Festsaal der Universität Wien, Dr. Karl-Lueger-Ring 1, 1010 Wien

Vom 25.-26. November findet außerdem ein wissenschaftliches Symposium zum Thema "Solidarität und soziale Gerechtigkeit" statt.

Ort: Sitzungssaal der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, Dr. Karl-Lueger-Ring 1, 1010 Wien
->   Nähere Informationen zum Programm
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Aktuelles Interview mit Ulrich Körtner über Kirche, Evolution und Wissenschaft:
->   "Ein sehr schizophrener Umgang" (Heureka, 22.11.05)
 
 
 
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