Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft 
 
"Dem Rad in die Speichen fallen"
Zur Aktualität Dietrich Bonhoeffers
 
  Vor 100 Jahren - am 4. Februar 1906 - wurde Dietrich Bonhoeffer geboren. Zahlreiche Gedenkveranstaltungen und wissenschaftliche Symposien erinnern an diesen großen Theologen, der gegen den Nationalsozialismus kämpfte und 1945 hingerichtet wurde.  
Theologie und Biographie
Bild: dpa
Dietrich Bonhoeffer
Neben Albert Schweitzer ist Dietrich Bonhoeffer einer der wenigen Theologen, an denen die Zusammengehörigkeit von theologischem Denken und Leben besonders anschaulich wird. Was Karl Barth mit dem Begriff der theologischen Existenz meinte, hat Bonhoeffer auf eindrucksvolle Weise gelebt. Mit Recht gilt Bonhoeffer, der vor 100 Jahren am 4. Februar 1906 in Breslau geboren wurde, heute als einer der bedeutendsten evangelischen Theologen des 20. Jahrhunderts.

Sein Name ist unauslöschlich mit dem politischen Widerstand gegen Hitler und der Bekennenden Kirche verbunden, die sich gegen den Versuch der nationalsozialistischen Staatsmacht formierte, die evangelische Kirche "gleichzuschalten".

Freilich besteht die Gefahr, diesen evangelischen Märtyrer zu einem Heiligen zu verklären. Respekt vor dem Lebensweg Bonhoeffers und Sachkritik an manchen seiner theologischen Positionen schließen einander nicht aus. Das betrifft zum Beispiel seine Idee der Stellvertretung Christi, welche nach Ansicht von Klaus-Michael Kodalle in ihrer Verallgemeinerung der säkularen und theologischen Ideologie des Opfers Tür und Tor öffnet.
"Nur wer für die Juden schreit ..."
Selbst unter den Vertretern der Bekennenden Kirche waren nur wenige Theologen bereit, so kompromisslos wie Bonhoeffer gegen den Nationalsozialismus zu kämpfen und so entschieden gegen die Verfolgung der Juden aufzutreten. Karl Barth hatte Theologie und Kirche aufgefordert, unbeirrt durch die tagespolitischen Ereignisse so bei der Sache des christlichen Glaubens zu bleiben, wie die Benediktinermönche in Maria Laach ihren täglichen Horengesang fortsetzten.

"Nur wer für die Juden schreit", konterte Bonhoeffer, "darf gregorianisch singen". Bereits im April 1933 forderte er öffentlich, "nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen".

Das Predigerseminar der Bekennenden Kirche in Finkenwalde, einem Vorort von Stettin, in dem Bonhoeffer seit April 1935 als Studienleiter tätig war, wurde von der Polizei 1937 geschlossen, setzte seine Arbeit aber noch bis 1940 illegal fort.
Kompromisslos gegen das Nazi-Regime
Bild: PA
Skulptur von Bonhoeffer, die 1998 an der Westminster Abbey in London
angebracht wurde
Im Sommer 1939 hielt sich Bonhoeffer in den USA auf, wo er zweifellos eine erfolgreiche akademische Laufbahn vor sich gehabt hätte. Sehenden Auges kehrte er jedoch kurz vor Kriegsausbruch von New York nach Deutschland zurück.

Bereits seit 1938 wusste Bonhoeffer, der aus einer großbürgerlichen Familie stammte - sein Vater Karl war ein bekannter Professor für Psychiatrien und Neurologie, seine Mutter Paula eine Enkelin des Kirchenhistorikers Karl-August von Haase - durch Verwandte von Staatsstreichplänen gegen das Regime Hitlers. Im Oktober 1940 trat er dem Amt Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht, das von Admiral Canaris geleitet wurde, als unbezahlter V-Mann bei.

Am 5. April 1943 wurde Bonhoeffer in Berlin verhaftet. Kurz zuvor hatte er sich mit Maria von Wedemeyer verlobt. Erst nach dem fehlgeschlagenen Attentat vom 20. Juli 1944 wurde den Behörden das Ausmaß von Bonhoeffers Widerstandsaktivitäten bekannt. Auch andere Familienmitglieder gehörten zur Widerstandszelle um Canaris, so Bonhoeffers Bruder Klaus sowie seine beiden Schwager Rüdiger Schleicher und Hans von Dohnanyi, die zum Tode verurteilt oder umgebracht wurden.
Im April 1945 standrechtlich gehängt
Bonhoeffer selbst wurde Anfang Februar 1945 von Berlin-Tegel zunächst ins Konzentrationslager Buchenwald, von dort zwei Monate später ins Konzentrationslager Flossenbürg im Bayrischen Wald geschafft.

Dort fällte ein Standgericht über ihn, Canaris und weitere Widerstandskämpfer das Todesurteil. Es wurde 9. April 1945 durch Erhängen vollstreckt.

"Das ist das Ende - für mich der Beginn des Lebens" waren Bonhoeffers letzte Worte, die uns vor seinem Abtransport aus dem Gefängnis Tegel überliefert sind.
Theologe - Christ - Zeitgenosse
Bonhoeffer war nicht nur ein glaubwürdiger christlicher Zeuge im Kampf gegen den Nationalsozialismus, sondern auch eine theologische Ausnahmeerscheinung. Bereits mit vierzehn Jahren beschloss er, Theologie zu studieren. Studienorte waren Tübingen und Berlin.

Mit 21 Jahren wurde er promoviert. Wenige Monate später legte er das Erste Theologische Examen ab, 1930 das Zweite Theologische Examen, das seine Vorbereitungszeit für den Pfarrdienst beendete. Noch im selben Jahr, gerade erst 24 Jahre alt, habilitierte sich Bonhoeffer für Systematische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. 1936 wurde ihm jedoch von Nazis die Lehrbefugnis entzogen, 1940/41 folgte ein Rede- und Schreibverbot.

Gelebtes Christentum und akademische Theologie bilden in Bonhoeffers Leben und Werk keinen Gegensatz, sondern eine organische Einheit. Mehrere seiner Bücher, darunter die 1937 erschienene "Nachfolge", eine Auslegung der Bergpredigt, sind meditative Bibelauslegungen in ethischer und pastoraltheologischer Absicht.

Bis zu seiner Verhaftung arbeitet Bonhoeffer an seiner "Ethik". Das Werk bleibt unvollendet. Die erhaltenen Manuskripte werden nach Kriegsende von Bonhoeffers engstem Freund und Biographen Eberhard Bethge veröffentlicht. Es gehört bis heute zu den wichtigsten Werken theologischer Ethik.
"Auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen"
Weit über theologische Fachkreise hinaus wirkten aber Bonhoeffers Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, die sein Freund Bethge postum unter dem Titel "Widerstand und Ergebung" herausgegeben hat. In ihnen formulierte Bonhoeffer aufregende Gedanken zur Zukunft des Christentums in einer säkularen, "mündigen" Welt, die bis heute nichts von ihrer Sprengkraft verloren haben.

In Gedanken zur Taufe seines Patenkindes Dietrich Wilhelm Rüdiger Bethge schrieb Bonhoeffer im Mai 1944, die Christen seien "wieder ganz auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen". Christentum in dürftiger Zeit ist für Bonhoeffer ganz elementar "Beten und Tun des Gerechten".
Verdichtung von theologischem Grundproblem
Sein Vermächtnis an sein Patenkind lautete: "Du wirst heute zum Christen getauft. Alle die alten großen Worte der christlichen Verkündigung werden über dir ausgesprochen, ohne dass Du etwas davon begreifst. Aber auch wir selbst sind wieder ganz auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen. Was Versöhnung und Erlösung, was Wiedergeburt und Heiliger Geist, was Feindesliebe, Kreuz und Auferstehung, was Leben und Christus und Nachfolge Christi heißt, das alles ist so schwer und fern, dass wir es kaum mehr wagen, davon zu sprechen. In den überlieferten Worten und Handlungen ahnen wir etwas ganz Neues und Umwälzendes, ohne es noch fassen und aussprechen zu können."

In diesen Worten verdichtet sich das theologische Grundproblem unserer Epoche, nämlich der mit der neuzeitlichen Entsubstantialisierung des Glaubens einhergehende Verfall seiner Sprache. Dieser Sprachverlust erklärt sich nicht allein aus der Schuld der Kirche im "Dritten Reich", der Bonhoeffer vorwarf, weithin lediglich um ihren Selbsterhalt gekämpft zu haben. Vielmehr handelt es sich um das Dauerproblem christlicher Theologie in der nachaufklärerischen Moderne.
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Christentum in einer säkularen Welt
Bonhoeffers tastende Suche nach einer "nicht-religiösen Interpretation" der biblischen Überlieferung bleibt darin von Bedeutung, dass sie eine binnenkirchliche Sondersprache von innen her aufbrechen wollte. Bei ehrlicher Betrachtung ist freilich festzustellen, dass das Sprachproblem der Theologie, welches mit der Krise ihrer traditionellen metaphysischen Denkmodelle verbunden ist, auch bei Bonhoeffer keine abschließende Lösung gefunden hat. Was aber von Bonhoeffer zu lernen ist, das ist die Bereitschaft zur Redlichkeit und Wahrhaftigkeit, wenn es darum geht, heute verantwortlich von Gott zu sprechen und das Ausmaß der Säkularisierung in Europa ernstzunehmen.

Bonhoeffer war in dieser Hinsicht weitaus klarsichtiger als jene, die seine These von einem religionslosen Zeitalter durch einen vermeintlichen "Megatrend Religion" widerlegt sehen. Aktuelle soziologische Untersuchungen zeigen, dass der Säkularisierungsprozess z.B. in Deutschland, aber auch in Österreich ungebrochen anhält. Es lässt sich sogar eine "Säkularisierung innerhalb der Religion" beobachten.
->   Georg Datler/Johann Kerschbaum/Wolfgang Schulz, Religion und Kirche in Österreich (SWS-Rundschau 2005/4)
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->   Ulrich Körtner, Megatrend Religion? (1)
->   Ulrich Körtner, Megatrend Religion? (2)
Ein fragmentarisches Leben

Bonhoeffer hat in wenigen Jahren ein beeindruckendes Werk geschaffen. Seine zu Lebzeiten veröffentlichten Bücher wie auch die etliche Bände umfassende Gesamtausgabe seiner Schriften können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Bonhoeffers Theologie ein Fragment geblieben ist. Bonhoeffer selbst war sich dessen nur zu sehr bewusst. Sein früher gewaltsamer Tod hat es ihm versagt, seine skizzenhaften Überlegungen zum religionslosen Christentum und zur mündigen Welt oder zur "Kirche für andere" systematisch zu entfalten.

Bonhoeffer selbst hat die Fragmenthaftigkeit seines Lebens 1944 in einem Brief aus der Haft an seine Eltern angesprochen: "Aber gerade das Fragment kann ja auch wieder auf eine menschlich nicht mehr zu leistende höhere Vollendung hinweisen. Daran muss ich besonders beim Tode so vieler meiner besten ehemaligen Schüler denken. Wenn auch die Gewalt der äußeren Ereignisse unser Leben in Bruchstücke schlägt, wie die Bomben unsere Häuser, so soll doch möglichst noch sichtbar bleiben, wie das Ganze geplant und gedacht war, und mindestens wird immer noch zu erkennen sein, aus welchem Material hier gebaut werden sollte."
->   Dietrich Bonhoeffer Werke (DBW)
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Bonhoeffer weiterdenken
Mögen Bonhoeffers Gedanken bisweilen auch von eindrucksvoller Geschlossenheit sein, bleiben doch erhebliche Interpretationsspielräume, die in der Geschichte der Bonhoeffer-Rezeption auch zu verschiedenen Vereinnahmungsversuchen geführt haben. Das gilt gerade für Bonhoeffers aphoristische Notizen zur Abwesenheit und zum Tode Gottes oder zur Religionslosigkeit der modernen Welt.

Bonhoeffer lässt sich in das heutige theologische Gespräch nur so einbringen, dass sein Denken als Impuls verstanden wird, der produktiv, aber nicht unkritisch aufzunehmen und weiterzudenken ist.

Diesen Versuch unternehmen junge Autorinnen und Autoren in einem neu erschienenen Sammelband, herausgegeben von Andreas Klein und Matthias Geist. Das Buch präsentiert die Ergebnisse eines internationalen Projekts, das im Frühjahr 2005 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien ins Leben gerufen wurde.

Die einzelnen Beiträge des Bandes decken einen breites Spektrum ab. Der Bogen spannt sich von ethischen über systematisch- und praktisch-theologischen Fragen bis hin zu Gender Studies. Dabei kommen auch so manche Aspekte in den Blick, die bislang in der Bonhoeffer-Rezeption kaum oder nur wenig aufgegriffen wurden. So zeigt sich, dass Bonhoeffers Leben und Werk Impulse freisetzt, die noch lange nicht erschöpft sind.

Buchtipp:
Andreas Klein/Matthias Geist (Hg.), "Bonhoeffer weiterdenken ...". Zur theologischen Relevanz Dietrich Bonhoeffers (1906-1945) für die Gegenwart (Theologie: Forschung und Wissenschaft, Bd. 21), LIT Verlag, Münster u.a. 2006, 200 S., 19,90 Euro (ISBN 3-8258-9279-4)
->   Das Buch im LIT Verlag
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->   Lexikon-Artikel zu Dietrich Bonhoeffer (Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon)
 
 
 
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