Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Leben .  Medizin und Gesundheit .  Wissen und Bildung 
 
Neue Regierung: Wo bleibt die Biopolitik?  
  Zu den großen internationalen Herausforderungen gehört heute die Biopolitik, auch auf europäischer Ebene. Wer das Programm der am 11. Jänner angelobten neuen Bundesregierung durchschaut, findet zu diesem Thema freilich wenig.  
Biopolitik kein Thema?
Der Begriff "Biopolitik" kommt im Programm der neuen Bundesregierung kein einziges Mal vor. Das ist bezeichnend für den derzeitigen Zustand der österreichischen Biopolitik, die seit geraumer Zeit vor sich hin dümpelt, bestenfalls reagiert, aber politisch kaum initiativ ist.
->   Regierungsprogramm für die XXIII. Gesetzgebungsperiode
Rückblick: Stammzellenforschung
Zur Erinnerung: Als 2001 die internationale Debatte über Stammzellenforschung und neue Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin auf dem Höhepunkt war, richtete Kanzler Schüssel die österreichische Bioethikkommission ein. Im selben Jahr veranstaltete die ÖVP ihre erste und bislang einzige Bioethik-Konferenz.

Eine kohärente und zukunftsorientierte Biopolitik brachten die beiden Regierungen Schüssel freilich nicht zustande. Auf europäischer Ebene taten sie sich allenfalls durch einen verbissenen Kampf gegen die Forschung an humanen embryonalen Stammzellen hervor, in dessen Verlauf sich Österreich letztlich ins Abseits manövrierte.

Nun ist Alfred Gusenbauer neuer Bundeskanzler. Doch seine Partei hat sich in den vergangenen Jahren kaum durch biopolitische Aktivitäten hervorgetan. Es ist an der Zeit, dass die SPÖ als neue Regierungspartei diesem Politikfeld endlich mehr Aufmerksamkeit widmet.
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Noch immer kein Embryonenschutzgesetz
Was die gesetzliche Regelung der Stammzellenforschung betrifft, bildet Österreich heute unter den deutschsprachigen Ländern das Schlusslicht. Lediglich die Herstellung embryonaler Stammzellen ist in Österreich verboten, nicht der Import und die Forschung. Beides ist nach wie vor gesetzlich nicht geregelt. Im Unterschied zu Deutschland oder der Schweiz gibt es hierzulande noch immer kein Embryonenschutzgesetz, das auch die Forschung mit embryonalem Gewebe klar regeln würde.
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Heißes Eisen PID
Auch die Präimplantationsdiagnostik (PID) ist im neuen Regierungsprogramm kein Thema. Nachdem die vormalige Gesundheitsministerin Rauch-Kallat mit ihrem Versuch, die PID wenigstens in engen Grenzen zuzulassen, gescheitert ist, möchte die neue Regierung um dieses heiße Eisen offenbar lieber einen Bogen machen. Man wird aber in Österreich auf Dauer nicht die Augen vor der biomedizinischen Entwicklung auf diesem Feld verschließen können.
Unerledigt: Menschenrechtskonvention zur Biomedizin
Bis heute hat Österreich die europäische Menschenrechtskonvention zur Biomedizin nicht unterzeichnet, deren Ratifizierung die Bioethikkommission bereits im Februar 2002 einstimmig empfohlen hat. Die neue Regierung verfügt über die notwendige Zweidrittelmehrheit im Parlament, um der Konvention endlich beizutreten. In ihrem Regierungsprogramm wird dieses wichtige Basisdokument europäischer Biopolitik jedoch nicht einmal erwähnt.
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Verbesserungsbedarf bei der Bioethikkommission
Wolfgang Schüssel bleibt die Einsetzung der österreichischen Bioethikkommission zu verdanken. Bis heute ist diese jedoch personell und finanziell unzureichend ausgestattet. Ihre Mitglieder arbeiten ehrenamtlich. Anders als in Deutschland oder in der Schweiz verfügt die Kommission jedoch weder über ein nennenswertes Budget noch über wissenschaftliche Mitarbeiter, welche die für fundierte Stellungnahmen unerlässlichen Recherchen übernehmen könnten.

Es gibt lediglich eine kleine Geschäftsstelle, deren Mitarbeiter vorzügliche Arbeit leisten. Für eine professionelle Bioethikkommission sind ihre Ressourcen aber zu gering. Will Kanzler Gusenbauer weiterhin eine solche Kommission als effizientes Instrument der Politikberatung, muss er eindeutig mehr Geld als sein Vorgänger in die Hand nehmen.

Zum Vergleich: Der Nationale Ethikrat in Deutschland hat ein Jahresbudget von etwa 1 Million Euro und einen Stab von hauptamtlichen Mitarbeitern. Die Schweizer Bioethikkommission hat immerhin ausreichend Geld, um Recherchenaufträge an Dritte zu vergeben. Ihr Leiter hat eine bezahlte Teilzeitstelle.

In Österreich müssen dagegen alle Recherchen und Redaktionsarbeiten von den Kommissionsmitgliedern ehrenamtlich - und das heißt letztlich: nach Feierabend oder an den Wochenenden - geleistet werden. Kein Wunder, dass unsere Bioethikkommission deutlich weniger Stellungnahmen zustande gebracht hat als die Kommissionen unsere Nachbarländer.
->   Österreichische Bioethikkommission
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Paralamentarische Enquete zur Biomedizin
Immerhin bekundet die große Koalition ihre Absicht, unter Einbindung der bestehenden Bioethikkommission eine parlamentarische Enquete oder Enquetekommission zum Thema "Rechtliche und ethische Fragen der Humanmedizin" abzuhalten.

Konkrete biopolitische und bioethische Herausforderungen wie das therapeutische Klonen, Nanomedizin und Converging Technologies - die Vernetzung von Nano-, Bio-, Informations- und Kognitionswissenschaften - werden im Regierungsprogramm freilich nicht genannt.
Gentechnik
Auch die Gentechnik findet praktisch keine Erwähnung. Dabei gibt es doch seit 2001 das österreichische Genomforschungsprogramm GEN-AU.

Doch außer einem knappen "Bekenntnis zur Gentechnikfreiheit bei Lebensmitteln sowie heimischen Futtermitteln" gibt es im neuen Regierungsprogramm keine substanziellen Aussagen. Hier wäre mehr zu erwarten, gehören doch z.B. Biobanken zu den wichtigen Themen der Biopolitik, mit denen sich auch die Bioethikkommission gegenwärtig gefasst.
->   GEN-AU: Genomforschung in Österreich
Gender-Medicine und Pflegewissenschaften
Zu begrüßen ist die Ankündigung der neuen Regierung, man wolle die geschlechtssensible Medizin in Forschung, Lehre und ärztlicher Praxis sowie in der Pharmakologie ausbauen. Das ist auch im 7. Rahmenprogramm der EU zur Forschungsförderung ein wichtiges Thema.

Erfreulicherweise erkennt die neue Regierung auch die Notwendigkeit, die Pflegewissenschaften in Österreich auszubauen, auch wenn sich dazu im Regierungsprogramm lediglich ein Stichwort findet.
Fehlende biopolitischen Strategie
Es gibt im neuen Regierungsprogramm also einzelne Ansatzpunkte, die zusammen genommen aber noch keine klar umrissene biopolitische Strategie ergeben. Wichtige biopolitische Agenden sind in den vergangenen Jahren unerledigt geblieben.

Soll Österreichs Biopolitik nicht im Dornröschenschlaf versinken, braucht sie dringend neue Initiativen. Hier ist der Kanzler gefordert.

[12.1.07]
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Klone: Menschen oder Monster?
->   Wissenschaftsethik und "converging technologies"
->   PID - Argumente für eine beschränkte Zulassung
->   Das Stichwort Biopolitik im science.ORF.at-Archiv
 
 
 
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