Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft 
 
Geschichte und Vergangenheit
Geschichtsschreibung zwischen Fakten und Fiktionen
 
  Was ist Geschichte? Und an welchen Grundbegriffen orientiert sich die Darstellung und Deutung von Geschichte? Die aktuelle geschichtstheoretische Debatte wirft Fragen auf, die auch für die Theologie von eminenter Bedeutung sind.  
Die Zukunft der Vergangenheit
Zwischen Geschichte und Vergangenheit zu unterscheiden, mag auf den ersten Blick überraschen. Ist eine erzählbare und erforschbare Geschichte nicht immer Vergangenheit? Oder anders gefragt: Ist nicht die Vergangenheit der Gegenstand jeder geschichtlichen Darstellung?

Zur Geschichte der modernen Geschichtstheorie gehört freilich auch die "Entdeckung der Zukunft" (Lucian Hölscher) als gemeinsamen gesellschaftlichen Erwartungszeitraum. Nicht nur die Geschichtswissenschaft, sondern auch die Theologie fragt nach dem Unabgegoltenen der Vergangenheit.

Die eigene Gegenwart kann nicht länger als das "Ende der Geschichte" (Francis Fukuyama) gesehen werden, auf welches die Vergangenheit hinausläuft, sondern diese hat eine eigene Zukunft, die sich mit unseren Erwartungen nicht decken muss. Folglich kann es auch keine abschließenden Urteile über die Vergangenheit geben.
Was ist die Wirklichkeit der Vergangenheit?
Es fragt sich aber nicht nur, ob und mit welchem Recht historische und ethische Urteile über die Vergangenheit gefällt werden können, sondern auch, worin die Wirklichkeit der Vergangenheit besteht.

Nach dem berühmten Diktum Leopold v. Rankes will die Geschichtswissenschaft "blos zeigen, wie es eigentlich gewesen".

Die historische Wirklichkeit besteht freilich nicht aus bruta facta, die für sich selbst sprechen, sondern die historischen Quellen und Fakten sprechen nur zu dem, der sich an sie wendet und sie befragt.
Rekonstruktion und Interpretation
Fakten und Deutungen lassen sich nicht einfach trennen, so dass die Frage nach der geschichtlichen Wirklichkeit oder der Wahrheit historischer Aussagen ein eminent hermeneutisches Problem darstellt. Die vergangene Wirklichkeit erschließt sich nur im Wechselspiel zwischen Rekonstruktion und Interpretation.

Johann Gustav Droysen, einer der Hauptvertreter des Historismus im 19. Jahrhundert, war sich dessen durchaus bewusst. Die Geschichtswissenschaft beruht nach seiner Auffassung darauf, dass wir aus noch vorhandenen Quellen "nicht die Vergangenheiten herstellen, sondern unsere Vorstellungen [!] von ihnen begründen, berichtigen, erweitern wollen".

Ernst Troeltsch und Max Weber erkannten freilich, dass die umfassende Historisierung alles Wissens mit innerer Notwendigkeit zur Relativierung aller Wahrheits- und Geltungsansprüche führt. Ethische Letztbegründungen geraten dadurch ebenso in die Krise wie der Gedanke einer göttlichen Offenbarung und letzten Wahrheit.
...
Geschichte und Geschichtlichkeit
Das Wort "Geschichte" hat eine doppelte Bedeutung. Einerseits bezeichnet es die Vergangenheit, welche Gegenstand historischer Erinnerung und Forschung ist, andererseits die Erzählung, deren Inhalt wahr oder auch erfunden sein kann. "Geschichte" steht für "story" wie für "history". Wie hängt beides zusammen und worin unterscheiden sie sich?

Der Infragestellung philosophischer und theologischer Wahrheitsansprüche durch den Historismus versuchte die "neue Hermeneutik" Martin Heideggers und Hans-Georg Gadamers durch die Unterscheidung von Geschichte und Geschichtlichkeit zu begegnen. Unter Geschichtlichkeit versteht Heidegger die jeweils eigene Geschichte, die das Dasein hat. An Heidegger anschließend hat Gadamer den Begriff der Wirkungsgeschichte geprägt.
...
Rekonstruktion - Deutung - Fiktion
Die gegenwärtige Debatte zum Geschichtsbegriff und zur Theorie der Geschichtsschreibung orientiert sich freilich nicht mehr so sehr an der Hermeneutik Gadamers und seiner Konzeption des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins, sondern steht unter dem Einfluss sozialgeschichtlicher Betrachtungsweisen, die besonders aus der französischen Schule um die Zeitschrift "Annales" kommen.

Damit verbindet sich die Abkehr von dem Menschen hin zu den Menschen im Plural, von der Geschichtlichkeit zu konkreten Geschichten, zur historischen Anthropologie. So z.B. zur Geschichte der Kindheit und des Todes (Philippe Ariès), zur Alltags- und zur Mentalitätsgeschichte sowie zur Geschlechterforschung.

Zur Neuorientierung der Geschichtswissenschaft gehört schließlich auch, dass das Prinzip des Erzählens ins Zentrum der geschichtstheoretischen Aufmerksamkeit rückt - damit aber auch die Frage nach Faktizität und Fiktionalität von Geschichte, von Rekonstruktion und Konstruktion erzählter Historie.
...
Der "cultural turn" in Geschichtsschreibung und Theologie
Die historische Wirklichkeit ist heute Gegenstand des wissenschaftlichen und methodologischen Streits zwischen einem sozial- und einem kulturwissenschaftlichen Verständnis von Geschichtsschreibung. Der "cultural turn" hat inzwischen auch Theologie und Religionswissenschaft erfasst.

Zu seinen Auswirkungen gehört, dass Geschichtsschreibung und Erzählung stärker aneinanderrücken, dass der fiktionale und konstruktive Anteil jeder Geschichtsforschung hoch veranschlagt wird, so dass der Begriff der Geschichte zwischen den Bedeutungen "history" und "story" oszilliert. Die großen Erzählungen lösen sich in viele kleine Erzählungen auf, "die" Geschichte in eine Vielfalt von Geschichten.

Eine analoge Entwicklung lässt sich auch im Christentum und in der Kirchengeschichtsschreibung beobachten. In diesen Zusammenhang ist auch die Diskussion der letzten Jahrzehnte über Begriff und Programm einer narrativen Theologie einzuordnen. Narrative Formen der Wirklichkeitsdeutung interessieren die Sozial- und Kulturwissenschaften ebenso wie die Systematische und die Praktische Theologie.
...
Wirklichkeit und Wahrheit
Mit dem "cultural turn" der Geschichts- und der Geisteswissenschaften steht freilich nicht nur die Einheit der Geschichte, sondern auch die Einheit der Wirklichkeit zur Disposition, ist diese doch eine gewordene und damit durch und durch geschichtlich verfasst.

In diesem Punkt unterscheiden sich sozialgeschichtliche und kulturgeschichtliche Zugänge zur Geschichte. Während die sozialgeschichtliche Historiographie, die auch die Kirchengeschichtsschreibung und die biblische Exegese der vergangenen Jahrzehnte stark beeinflusst hat, von einer umfassenden gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgeht, lehnen heutige Konzeptionen von Kulturgeschichte einen solchen, letztlich transzendentalen Begriff der einen Wirklichkeit ab.
Deutung und Wahrheit
Mit der Einheit der Wirklichkeit droht aber auch die Frage nach Wahrheit obsolet zu werden.

Wird über den Begriff der Deutung die Interpretation geschichtlicher Ereignisse zur reinen Konstruktionsleistung des deutenden Subjekts oder von deutenden Kollektiven erklärt, ist das für den Wahrheitsanspruch und die Kritikfähigkeit der Geschichtswissenschaft prekär. Entsprechendes gilt für die Theologie und ihren Geltungsanspruch.

[19.1.07]
...

Neuerscheinung
Ein neues Buch führt in die interdisziplinäre Debatte ein. Der prominente Historiker Lucian Hölscher und namhafte Theologinnen und Theologen erörtern darin das Verhältnis von Geschichte und Vergangenheit, von Geschichte und Geschichten, von Fiktionalität, Faktizität und Fiktivität, aber auch die Frage, wer unsere Lebensgeschichte schreibt und erzählt. Die theologischen Implikationen der profanen Geschichtsschreibung werden ebenso diskutiert wie die Frage nach der Einheit der Wirklichkeit und die damit verbundene Frage nach der historischen Wahrheit.

Der Band präsentiert die Vorträge der 8. Jahrestagung der Rudolf-Bultmann-Gesellschaft für Hermeneutische Theologie, die vom 27. Februar bis 1. März 2006 an der Evangelischen Akademie Hofgeismar stattfand.

Ulrich H.J. Körtner (Hg.), Geschichte und Vergangenheit. Rekonstruktion - Deutung - Fiktion, Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2007, VIII + 159 S., ISBN 978-3-7887-2220-3
->   Neukirchener Verlag
...
->   Rudolf-Bultmann-Gesellschaft für Hermeneutische Theologie
->   Alle Beiträge von Ulrich Körtner in science.ORF.at
 
 
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick