Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft 
 
Die Bibel im Konflikt der Interpretationen  
  Der aktuelle Band des "Wiener Jahrbuchs für Theologie" vermittelt neue Erkenntnisse über die Auslegung der Bibel und ihre Methodenvielfalt in Geschichte und Gegenwart.  
Heilige Schriften in Judentum, Christentum und Islam
Nicht nur das Christentum, das Judentum und der Islam, sondern auch andere Religionen kennen heilige Schriften, die für die eigene Religionsgemeinschaft als Offenbarungsquelle normativen Rang besitzen. Der Islam bezeichnet die drei großen monotheistischen Religionen als Buchreligionen.

Judentum, Christentum und Islam gemeinsam als Buchreligionen zu bezeichnen, führt leicht zu Missverständnissen. Strenggenommen ist nämlich allein der Islam die Buchreligion schlechthin.

Nach islamischer Vorstellung hat Gott dem Propheten Mohammed den Koran Wort für Wort offenbart. Gott spricht und schreibt auf arabisch. Der eigentliche Koran ist im Himmel aufbewahrt. So ist im Islam ein Buch das Medium unmittelbarer göttlicher Präsenz.
Weder das Judentum noch das Christentum behaupten derart radikal wie der Islam, dass ein Buch das unmittelbare Wort Gottes ist. Auch wenn unter Berufung auf biblische Aussagen wie 2. Timotheus 3,16 im Christentum die Lehre vertreten wird, dass es von Gott selbst eingegebene Heilige Schrift(en) gibt.

Doch das eigentliche Medium der unmittelbaren Präsenz des unsichtbaren Gottes ist ein Mensch, Jesus von Nazareth, in dessen Person der ewige und ungeschaffene Logos Gottes Fleisch geworden ist.
Historisch-kritische Bibelauslegung
Nicht nur die Stellung der heiligen Schriften im jeweiligen Symbolhaushalt der Religionen, sondern auch die Auslegungsmethoden unterscheiden sich. Das Christentum hat - wenn auch unter schweren inneren Kämpfen - seit der europäischen Aufklärung die historisch-kritische Bibelauslegung entwickelt.

Sie betrachtet die Texte der Bibel nicht als übernatürliche Offenbarungsquelle, sondern als historische Zeugnisse des jüdischen und des christlichen Glaubens. Dass Gott sich offenbart, wird auch von der historisch-kritischen Bibelauslegung nicht bestritten. Aber er teilt sich nicht direkt, sondern indirekt über das menschliche Zeugnis von geschichtlichen Glaubenserfahrungen mit.

Die historisch-kritische Exegese ist eine wesentliche Folge der Reformation und des aufgeklärten Protestantismus. Die römisch-katholische Kirche und Theologie haben sich der modernen wissenschaftlichen Bibelexegese lange Zeit verschlossen. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) ist die historisch-kritische Exegese aber auch in der katholischen Kirche anerkannt.
Fundamentalistische Bibellektüre
Die moderne Bibelauslegung stößt freilich bis heute unter Gläubigen auf Widerstand. Es ist vor allem der Fundamentalismus, der weiter darauf besteht, dass die Bibel direkt von Gott offenbart und buchstäblich zu nehmen ist. Der Fundamentalismus ist vor allem im amerikanischen Protestantismus verbreitet, findet aber auch in Europa Anhänger.

Fundamentalisten glauben zum Beispiel, dass alle biblischen Erzählungen, z.B. über die Wunder Jesu oder die Jungfrauengeburt, als historische Tatsachenberichte zu lesen sind.

Sie lehnen die moderne Evolutionstheorie ab und vertreten die Idee eines "intelligent design", die mit den biblischen Schöpfungsgeschichten in Einklang gebracht wird. Mehr als 50 Prozent der Amerikaner glauben noch heute, dass die Welt nicht älter als 6.000 Jahre ist.
Methodenvielfalt wissenschaftlicher Exegese
Kritik an der historisch-kritischen Bibelauslegung gibt es freilich auch von nicht-fundamentalistischer Seite. So wird bemängelt, die historisch-kritische Bibelauslegung führe zu einem religiösen Erfahrungsverlust. So nimmt es nicht wunder, dass nach neuen, erfahrungsbezogenen Zugängen zur Bibel gesucht wird. Dazu gehören unter anderem befreiungstheologische, feministisch-theologische oder tiefenpsychologische Ansätze der Bibelauslegung.

Intensiv wird auch auf dem Gebiet von leserorientierten Textheorien geforscht. Reader-response-criticism, Intertextualität und Rezeptionsästhetik lauten die Stichworte.

Das Gespräch zwischen Bibelexegese und moderner Literaturwissenschaft, zwischen Theologie und Kulturwissenschaften verspricht neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Zugänge zu den biblischen Texten.
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Bibel in gerechter Sprache?
Für heftige Kontroversen sorgt momentan eine neue Bibelübersetzung. 2006 erschien die "Bibel in gerechter Sprache". Die 52 evangelischen und katholischen Übersetzerinnen und Übersetzer haben sich eine Übertragung der biblischen Texte zum Ziel gesetzt, die frei von allem Antijudaismus und jeder Frauenfeindlichkeit ist.

Unter Bibelwissenschaftlern und Theologen sind die Texttreue und der wissenschaftliche Wert der Übersetzung allerdings höchst umstritten. Der renommierte evangelische Theologe Ingolf U. Dalferth z.B. hält die "Bibel in gerechter Sprache" für eine theologische Bankrotterklärung. Die Debatte dauert noch an.

Bibel in gerechter Sprache, hg. von Ulrike Bail, Frank Crüsemann u.a., Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2006, ISBN 978-3-579-05500-8
->   NZZ-Artikel von Ingolf U. Dalferth
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Sola Scriptura?

Die reformatorische Einsicht in die fundamentaltheologische Bedeutung der Bibel als Quelle und Norm aller Theologie hat - unbeschadet der viel diskutierten Krise des protestantischen Schriftprinzips - nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Sie prägt bis heute das Profil evangelischer Theologie.

Auch ökumenisch ist die gemeinsame Anerkennung der Bibel als maßgeblicher Urkunde der göttlichen Offenbarung heute im Grundsatz unumstritten. Dies hat sogar dazu geführt, dass das reformatorische "sola scriptura (allein die Schrift)" - in traditionsspezifischen Modifikationen - auch von anderen Konfessionen vertreten werden kann.

Allerdings gibt es nach wie vor eine Reihe von bibelhermeneutischen Fragen, die im ökumenischen Gespräch weiter bearbeitet werden müssen.

[29.1.07]
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Wiener Jahrbuch für Theologie
Seit 1996 erscheint alle zwei Jahre das "Wiener Jahrbuch für Theologie". Herausgeberin ist die Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Wien. Schwerpunktthema des neuen Bandes ist die Auslegung der Bibel in Geschichte und Gegenwart.

Der Bogen der Beiträge spannt sich von der Genesis bis zur Johannesapokalypse. Sie stammen aus allen Disziplinen der Theologie, was auf eindrückliche Weise zeigt, dass die Bibelauslegung keineswegs auf die exegetischen Fächer zeigt, sondern eine interdisziplinäre Aufgabe ist. Auch wenn sich moderne Theologie nicht auf Schriftauslegung im engeren Sinne beschränkt, bleibt die Beschäftigung mit der Bibel und ihrer Rezeption in Geschichte und Gegenwart grundlegend.

Der vorliegende Band zeigt wie breit das Spektrum auslegungs- und wirkungsgeschichtlicher Forschung ist. Die Themen reichen von der Geschichte jüdischer und christlicher Hermeneutik - mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Alten Kirche - über die Geschichte der christlichen Kunst bis zur moderne Psychoanalyse. Erinnert wird an den Neutestamentler Ernst Käsemann (1906-1998), aber auch an Sigmund Freud, der vor 150 Jahren geboren wurde und seine Praxis in der Berggasse in Wien hatte, in deren unmittelbarer Nähe die Wiener Evangelisch-Theologische Fakultät bis 2006 lag.

Dass die Beschäftigung mit der Bibel keineswegs nur von kulturwissenschaftlichem Interesse ist, zeigen Beiträge im vorliegenden Band zum Kirchenrecht, zum neu entbrannten Streit über das Verhältnis von biblischer Schöpfungslehre und modernen Naturwissenschaften oder auch zur Auslegung der alttestamentlichen Paradiesgeschichte in der heutigen Genderforschung.

Wiener Jahrbuch für Theologie, Bd. 6, 2006, Lit-Verlag, Wien u.a. 2006, 440 S., ISBN 3-7000-0576-8
->   Homepage der Evangelisch-Theologischen Fakultät Wien
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->   Alle Beiträge von Ulrich Körtner in science.ORF.at
 
 
 
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