Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Medizin und Gesundheit .  Gesellschaft 
 
Spiritualität in der Medizin, Teil 1  
  "Spiritualität - Teil ärztlichen Handelns?!" lautete das Thema einer Podiumsdiskussion, zu der die Interreligiöse Ärzteplattform am 5. November in die Ärztekammer für Wien eingeladen hatte. Der Andrang war groß. Offenbar besteht unter Medizinern ein großes Bedürfnis, die lange verdrängte spirituelle Dimension ihres Berufes zu enttabuisieren. Der nachstehende Beitrag war eines der Impulsreferate am Beginn der Veranstaltung.  
Arbeiten ohne Arbeitshypothese "Gott"
Die moderne Medizin bedient sich der Naturwissenschaften und ihrer Methoden, welche ohne die Arbeitshypothese "Gott" auskommen und auch Krankheit und Gesundheit erklären, "etsi Deus non daretur". Die Kulturgeschichte von Krankheit und Gesundheit ist bis in die Moderne weitgehend auch Religionsgeschichte.
Moderne Trennung von Medizin und Religion
Erst die naturwissenschaftlich begründete moderne Medizin führt zu einer Trennung von Medizin und Religion, damit aber auch von Heil und Heilung, sofern nicht die Aufwertung der Gesundheit zum höchsten Gut ihrerseits als neue Form von Religion und Transzendenzsuche im Diesseits einer Gesellschaft verstanden werden muss, die unter Transzendenzverlust leidet.

Aber auch bei den unterschiedlichen Spielarten einer Alternativ- oder Ganzheitsmedizin, die sich gegen das technokratische Denken der sogenannten Schulmedizin richtet, sind die religiösen Konnotationen unübersehbar.
Hat Religion einen medizinischen Nutzen?
Inzwischen beginnt man sich aber auch in der medizinischen Wissenschaft wieder für die religiöse Dimension von Krankheit und Gesundheit zu interessieren. Es gibt eine Reihe von Studien zu Religiosität und Gesundheit, in denen zum Beispiel die therapeutische Wirkung von Gebeten untersucht wird.

Ob Gott existiert oder nicht, können diese Untersuchungen selbstverständlich nicht beantworten. Der allfällige Nachweis einer therapeutischen Wirkung von Gebeten ist kein Gottesbeweis, sondern lässt sich auch als Placebo-Effekt erklären.
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Widersprüchliche Ergebnisse
Die vorliegenden Untersuchungsergebnisse zur therapeutischen Wirkung von Gebeten sind widersprüchlich. Während zum Beispiel eine im Britisch Medical Journal veröffentlichte Studie den Nachweis führen zu können glaubt, dass regelmäßige Rosenkranzgebete oder meditative Mantras positive Effekte auf das Herz- und Kreislaufsystem haben, führen andere Studien zu dem Ergebnis, dass Gebete - zumindest bei Herzpatienten - keine nachweisliche Heilwirkung entfalten.
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Keine Aussage über Wahrheit einer Religion
Abgesehen von der Frage nach dem Design und der Aussagekraft der genannten Studien ist grundsätzlich festzustellen, dass medizinische und psychologische Untersuchungen zur Wirkung von Gebeten oder zur seelischen Stärkung von Patienten durch ihren Glauben sagen nichts über die Wahrheit einer Religion, sondern bestenfalls etwas über ihre mögliche individuelle Wirkung aussagen.

Man könnte aber natürlich genauso gut die angsterzeugende oder -verstärkende Wirkung bestimmter religiöser Vorstellungen - man denke an religiöse Schuld- und Sündenvorstellungen, an Vorstellungen von göttlichen Strafen, Hölle und Fegefeuer - und ihre negativen Auswirkungen auf Krankheitsverläufe untersuchen. Die religiösen Wahnwelten von Psychotikern sind ebenfalls ein hinlänglich bekanntes Forschungsfeld.
Misstrauen bei einfachen Antworten
Die Wechselwirkungen zwischen Religion, Gesundheit und Krankheit sind also einigermaßen komplex. Einfachen Antworten und Erklärungen ist grundsätzlich zu misstrauen, und das nicht nur aus naturwissenschaftlicher, sondern auch aus theologischer Sicht, sind doch die Ambivalenzen jeglicher Formen von Religion nicht nur ein Thema der modernen Religionskritik, sondern auch der Theologie, jedenfalls im Christentum.
Menschliches Sinnbedürfnis
Die berechtigte Kritik an negativen Erscheinungen und Folgen von Religion kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt und sich nicht auf Stoffwechselvorgänge und die Befriedigung materieller Bedürfnisse reduzieren lässt.

Auch lässt sich nicht bestreiten, dass Menschen im Einzelfall aus ihrem religiösen Glauben Kräfte schöpfen können - können, nicht müssen! - der ihnen hilft, Lebenskrisen wie zum Beispiel eine schwere Krankheit zu meistern, vielleicht auch, ein unheilbares Leiden oder eine Behinderung zu akzeptieren, ohne daran seelisch zu zerbrechen.

Religion kann eine positive Auswirkung auf das "coping" haben, auch wenn zunächst offen bleiben muss, ob oder wie sich dieser Effekt naturwissenschaftlich messen lässt.
Spiritualität: Ein Begriff aus dem Christentum
Die positiven Seiten von Religion werden heute gern mit dem Begriff "Spiritualität" bezeichnet. Viele Menschen betrachten "Spiritualität" als eine nichtchristliche, an keine Kirche oder Dogmatik gebundene Form der Religiosität.

Wie selbstverständlich wird der Begriff heute auf nichtchristliche Religionen, insbesondere auf fernöstliche, angewendet. Dass das Wort eigentlich aus dem Christentum stammt, wird häufig völlig übersehen.
Vereinnahmung fremder Religionen
Die problematische Übertragung eines von Hause aus christlichen Begriffs auf nichtchristliche Religionen erweckt den Eindruck, als stimmten alle Religionen im Wesentlichen überein, wobei das Wesen von Religion in einem eher diffusen Sinne als "mystisch" bestimmt wird.

Dass es dabei zur Verzeichnung und Vereinnahmung fremder Religionen kommt, scheint vielen Menschen gar nicht bewusst zu sein. Die heutige Religionswissenschaft ist an dieser Stelle weitaus zurückhaltender als manche Vertreter einer synkretistischen Theologie der Religionen.
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Die Wurzeln von Spiritualität
"Spiritualität" ist in seiner heutigen Bedeutung ein ebenso junger wie unscharfer Terminus. Als Synonym für Frömmigkeit setzte er sich zunächst im französischen Sprachraum seit dem Ende des 19. Jahrhunderts durch. Unter Spiritualität (französisch "spiritualité") versteht man im Katholizismus verschiedene Formen katholischer Lebenspraxis und besondere Frömmigkeitsübungen wie z.B. Exerzitien. Im deutschsprachigen Protestantismus wurde der Begriff erst seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts übernommen. Im ökumenischen Kontext wird "spirituality" bisweilen nicht nur mit Frömmigkeit, sondern mit Religiosität in einem ganz allgemeinen Sinn gleichgesetzt.
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Unspezifische "Geistigkeit"
Auch im deutschen Sprachgebrauch ist "Spiritualität" inzwischen ein Modewort. Als solches ist es längst nicht mehr auf christliche Frömmigkeitsformen beschränkt, sondern taucht in allen möglichen Formen neuer Religiosität auf. Unter "spiritus" ist ursprünglich der Heilige Geist im Sinne der biblischen Überlieferung und der christlichen Glaubenslehre zu verstehen. Doch auch der Geistbegriff hat im Laufe der vergangenen Jahrhunderte sein christliches Profil weitgehend eingebüßt.

In der postmodernen Religiosität steht "Geist" für eine unspezifische "Geistigkeit" oder "Innerlichkeit" des Menschen, für kosmische Energien und heilende Kräfte, für die Sehnsucht nach Ganzheitlichkeit, nach Mystik und "spiritueller" Bewusstseinserweiterung.
Breite Bedeutungspalette
Unter Spiritualität können also christliche Kontemplation, buddhistische Zen-Meditation und Yoga, die Mystik des islamischen Sufismus und die jüdische Kabbalistik, aber auch das Denken des New Age, Anthroposophie und Theosophie, westliche Reinkarnationsvorstellungen, Magie, Spiritismus und Okkultismus, Pendeln und Wünschelrutengehen, Astrologie und Wahrsagetechniken wie Kartenlegen oder Handlinienlesen, Praktiken einer sogenannten Alternativmedizin wie Wunder- oder Geistheilungen durch Handauflegen oder auch Edelstein- und Bachblütentherapie firmieren.

Und nicht selten begegnen wir auf dem esoterischen Markt der Möglichkeiten unterschiedlichsten synkretistischen Mischungen und westlichen Adaptionen von Elementen östlicher Religionen.
Genaue Definition bei ärztlichem Handeln nötig
Wenn über Spiritualität als möglicher Teil ärztlichen Handelns nachgedacht wird, ist es notwendig, den Begriff der Spiritualität zu präzisieren. Mangelnde Begriffsklärungen führen auch notwendigerweise zu methodischen Mängeln bei klinischen Studien über mögliche Einflüsse von Spiritualität oder Religiosität auf therapeutische Prozesse.
Unterscheidung: Religion, Religiosität und Spiritualität
Im Anschluss an eine Definition von David B. Larson unterscheidet die Wiener Interreligiöse Ärzteplattform zwischen Religion, Religiosität und Spiritualität.

Sie versteht unter Religion "ein organisiertes System von Glauben, Praxis und Symbolen, das helfen soll, einer höheren Macht näherzukommen", unter Religiosität "eine persönliche Einstellung [¿], welche einen Sammelbegriff für religiöses Bewusstsein und Verhalten darstellt", und unter Spiritualität "eine persönliche sinnstiftende Grundeinstellung, die transzendierende Selbstreflexion darstellt, welche religiöses Denken beinhalten kann, aber nicht muss".
Nicht jede Antwort auf Sinnfrage ist Religion
Diese Unterscheidung ist zweifellos hilfreich, wie auch aktuelle religionssoziologische Studien bestätigen. Auch aus theologischer Sicht ist geltend zu machen, dass Religion eine bestimmt Antwort auf die Sinnfrage gibt, dass aber nicht jede Beantwortung der Sinnfrage schon als Religion zu bezeichnen ist.

Gegenüber einem denkbar weiten Begriff von Spiritualität ist freilich daran zu erinnern, dass es sich bei ihm von Haus aus um einen religiösen handelt.

[9.11.07]
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Literaturhinweis
Christoph Gisinger u.a., Seelsorge und Spiritualität bei Krankheit und Pflege, Österreichische Ärztezeitung 15/16, 15.8.2007, S. 28-29
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