Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Medizin und Gesundheit .  Gesellschaft 
 
Neue Runde in der Stammzelldebatte  
  Im November haben japanische Forscher von einer neuen Methode berichtet, mit der man Hautzellen zu pluripotenten Stammzellen "reprogrammieren" kann. Auch wenn die Arbeit mancherorts als "ethisch unbedenklicher" Durchbruch gefeiert wurde, werden wohl auch die herkömmlichen Ansätze der Stammzellenforschung aktuell bleiben.  
Die Debatte über die neue Methode zeigt überdies, dass man Menschenwürde nicht mit der Entwicklungsfähigkeit von Embryonen ("Totipotenz") gleichsetzen sollte.
Warnung vor übereilten Schlüssen
Die Annahme, embryonale Stammzellen ließen sich durch reprogrammierte Hautzellen ersetzen, halten Experten für voreilig. Abgesehen davon, dass die Erzeugung der neuen Stammzellen vorerst noch mit erheblichen Risiken verbunden ist - die durch Viren eingeschleusten Gene führen zur Tumorbildung und haben möglicherweise noch weitere bislang unbekannte Nebenwirkungen - ist noch unbekannt, ob diese tatsächlich die gleichen Eigenschaften wie embryonale Stammzellen haben.

Experten wie Gerd Kempermann vom DFG-Forschungszentrum für Regenerative Therapien warnen davor, die Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen für überflüssig zu erklären. Kempermann weist auch darauf hin, dass die Reprogrammierung von Hautzellen in Laboren gelungen ist, die Zugriff auf humane embryonale Stammzellen haben.

Solange unklar ist, welches Potential die neuartigen "induzierten pluripotenten Stammzellen" tatsächlich haben, wird die Forschung dreigleisig verfahren. Neben adulten Stammzellen und reprogrammierten Körperzellen wird auch an embryonalen Stammzellen weiter geforscht werden.
->   "Jungbrunnen" macht aus Haut embryonale Stammzellen
Die Bedeutung der Grundlagenforschung
In der öffentlichen und politischen Diskussion über die Notwendigkeit und die ethische Zulässigkeit der Forschung an embryonalen Stammzellen werden die Grundlagenforschung und ihre Gesetzmäßigkeiten häufig unterschätzt. Allzu leichtfertig werden vermeintliche Durchbrüche der Forschung gefeiert, und allzu voreilig wird über die vermeintliche therapeutische Anwendbarkeit oder Nutzlosigkeit einer Forschungsrichtung geurteilt.

Medizinischer Fortschritt ist nicht ohne Grundlagenforschung möglich, die langfristige Ziele verfolgt, ergebnisoffen ist und ebenso zu ganz unerwarteten wie zu negativen Ergebnissen führen kann. Eine vorschnelle Einengung der Forschung aufgrund von politischen Vorgaben oder Rücksichtnahmen auf moralische oder weltanschauliche Bedenken, die von einzelnen gesellschaftlichen Gruppen geäußert werden, kann im Ergebnis zu unethischen Konsequenzen führen.
Moral und Ethik
Notwendig ist es auch, zwischen Moral und Ethik deutlicher zu unterscheiden als dies meist in de öffentlichen Debatten der Fall ist. Ethik ist eine kritische Theorie der Moral. Sie formuliert Prinzipien, Normen und Methoden zur Beurteilung moralischer Überzeugungen und Wertsysteme und zur Bearbeitung der zwischen ihnen möglichen Konflikte.

Ihre Aufgabe ist es nicht, im Diskurs einer pluralistischen Gesellschaft eine bestimmte moralische Position durchzusetzen, sondern die verschiedenen moralischen Positionen kritisch zu analysieren und zu gewichten.
Prinzipien als Kriterium
Die ethische Bedenklichkeit oder Unbedenklichkeit von Ansätzen und Projekten der Stammzellforschung hängt nicht davon ab, ob sie in einer bestimmten Gesellschaft konsensfähig sind oder auf Widerspruch stoßen, sondern von Metanormen und Prinzipien, anhand derer moralische Überzeugungen zu prüfen sind.

Dass z.B. eine Gesellschaft einhellig die Todesstrafe befürwortet, ist noch keine ethisch hinreichende Rechtfertigung. Dass ein Teil der Bevölkerung das Hirntodkriterium ablehnt, ist freilich auch kein hinreichend überzeugendes Argument gegen die Organentnahme bei Hirntoten zu Transplantationszwecken.

Ähnlich verhält es sich mit ethisch strittigen Entscheidungen zur medizinischen Grundlagenforschung. Die Philosophen Kurt Bayertz und Ludwig Siep stellen zu Recht fest: "Sicher kann man versuchen, Forschungen zu fördern, die ethische Überzeugungen einer Gruppe weniger verletzen als andere. Der einzige Grund für Forschungspolitik kann das aber nicht sein."
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Die Rolle religiöser Überzeugungen
So müssen sich auch die bioethischen Positionen der Kirchen und Religionsgemeinschaften der öffentlichen Diskussion und Kritik stellen. Sie mit dem Hinweis auf ihre beschränkte Akzeptanz aus der ethischen und politischen Debatte ausschießen zu wollen, würde allerdings bedeuten, dass die Bürgerinnen und Bürger bei der öffentlichen Entscheidungsfindung in moralischen Fragen eben jene religiösen oder weltanschaulichen Hintergründe verleugnen sollten, aus denen sich ihre moralische Sensibilität speist und bestimmte Fragen für sie überhaupt erst zu moralischen Fragen werden.

Darin liegt, wie der evangelische Theologe und Bioethiker Johannes Fischer einwendet, "die Gefahr, dass zwischen ihren religiös begründeten moralischen Auffassungen und dem, was bei der öffentlichen Entscheidungsfindung an Orientierung zugelassen wird, eine tiefgreifende Kluft entsteht. Verhindert werden kann dies nur, wenn auch in der öffentlichen Debatte den gesellschaftlich vorhandenen religiösen Orientierungen nach Möglichkeit Rechnung getragen wird."
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Beispiel: Totipotenz
Das setzt allerdings voraus, dass religiöse Standpunkte auch als solche kenntlich gemacht werden. Dass zum Beispiel jede humane totipotente Zelle wie ein Embryo zu behandeln und als ein Mensch mit Personstatus zu behandeln ist, ergibt sich keineswegs zwingend aus allgemeinen Vernunftgründen, sondern entspricht der religiösen Überzeugung der römisch-katholischen Kirche und ihres Lehramtes, die aber keineswegs von allen anderen christlichen Kirchen und auch nicht vom Judentum geteilt wird.

Im Islam werden zum ontologischen und moralischen Status von Embryonen und damit auch zur ethischen Zulässigkeit der verbrauchenden Embryonen- und Stammzellforschung divergierende Standpunkte vertreten.

Gewichtige philosophische Gründe sprechen für die These, dass Totipotenz als solche kein hinreichendes Kriterium für Menschsein ist. Das gilt umso mehr, je stärker die faktischen Entstehungsbedingungen entwicklungsfähiger Zellen von den Handlungszielen derer abhängen, die sie erzeugen.
->   Totipotenz - Wikipedia
Nicht jeder Embryo hat das gleiche Potenzial
So ist es schon rein biologisch schwierig, das faktische Entwicklungspotenzial etwa von geklonten Embryonen, Chimären oder sonstigen embryoähnlichen Zellen zu bestimmen. Die im Vergleich mit der In-vitro-Fertilisation deutlich geringere Erfolgsrate beim reproduktiven Klonen durch Zellkerntransfer steht z.B. im Widerspruch zu der Behauptung, jeder geklonte Embryo hätte dasselbe Potenzial wie befruchtete Eizellen, sich zu einem lebensfähigen Individuum zu entwickeln.

Es gibt daher z.B. durchaus sachliche Gründe für die Rechtslage in Großbritannien, wonach durch Zellkerntransfer erzeugte Klone nicht als Embryonen im Sinne der englischen Gesetze gelten.

Auch künstlich befruchtete Eizellen entwickeln sich keineswegs in jedem Fall zu einem lebensfähigen Embryo, der sich eine Frau implantieren ließe. Oder es kommt nicht zur gewünschten Einnistung eines in vitro fertilisierten Embryos. Schließlich ist nicht zu vergessen, dass sich auch die Mehrzahl von natürlich befruchteten Eizellen nicht zu einem lebensfähigen Embryo entwickelt.

Totipotenz ist also eine theoretische Zuschreibung, aber nicht unbedingt eine empirisch vorhandene Eigenschaft, die mit Sicherheit jede befruchteten Eizelle oder eine vergleichbare entwicklungsfähige Zelle besitzt.
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Was ist ein Embryo?
Zu bemängeln ist auch ein oftmals ungenauer Gebrauch des Wortes "Embryo". Nach der Kernverschmelzung entsteht durch erste Teilungen die sogenannte Morula. Erst nach mehreren Tagen, wenn sich dieser Zellhaufen zu einer Zellblase (Blastozyste) entwickelt hat, bilden sich einerseits eine Frühform des eigentlichen Embryos (Embryoblast) und andererseits das Frühstadium von Plazenta und Nabelschnur (Trophoblast) aus. Frühestens jetzt macht es überhaupt Sinn, von einer neuen Individualität zu sprechen, obwohl auch in diesem Entwicklungsstadium noch eine Mehrlingsbildung möglich ist.

Ist es schon aus medizinischer Sicht fragwürdig, bereits die befruchtete Eizelle als Embryo zu bezeichnen, so erst recht die Rede von "embryonalen Menschen", die sich in katholischen Dokumenten findet. Jede befruchtete Eizelle als embryonalen Menschen zu bezeichnen, hätte lebensweltlich unhaltbare Konsequenzen. Es müssten dann z.B. sämtliche Nidationshemmer wie die "Spirale" als Abtreibungsmethode eingestuft werden und nicht als ethisch zulässige Mittel der Empfängnisverhütung.
->   Menschliche Embryonen oder embryonale Menschen?
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Ein Gedankenexperiment
Die Möglichkeit der Mehrlingsbildung wird gern als Argument für einen strikten Embryonenschutz ohne jede Ausnahme angeführt, weil die befruchtete Eizelle eben nicht nur ein, sondern möglicherweise sogar mehrere Individuen oder "embryonale Menschen" repräsentiere. Wir wollen diese Annahme überprüfen, indem wir betrachten, was bei einer Präimplatationsdiagnostik (PID) im 8-Zell-Stadium geschieht.

Aus dem kleinen Zellhaufen wird eine Zelle zu Untersuchungszwecken entfernt. Ist diese Zelle nun als Teil eines Individuums zu betrachten oder liegt ab dem Moment der Trennung wegen ihrer Totipotenz ein weiteres Individuum vor? Doch was geschieht, wenn sich der handelnde Arzt anders besinnt und die entnommene Zelle in den Embryo zurückbefördert? Wo bleibt dann das zweite Individuum?

Die Pointe dieses Gedankenexperiments besteht darin, dass man im Anfangsstadium der Embryonalentwicklung eben noch nicht von Identität oder Individualität sprechen kann. Was den ontologischen Status der zu Untersuchungszwecken abgetrennten Zelle betrifft, hängt es also ganz von der Handlungsabsicht des Mediziners ab, ob sie als Teil des zu untersuchenden Frühembryos oder aber als weiterer Embryo zu gelten hat. Der ontologische Status von frühen Embryonen in vitro hängt also generell in erheblichem Maße von den Intentionen der handelnden Personen ab.
Schlussfolgerungen
Es gibt gute Gründe gegen eine schrankenlose Freigabe der Erzeugung und Beforschung von Embryonen. Gute Gründe sprechen auch gegen das reproduktive Klonen von Menschen. Für die Stammzellforschung bedeutet dies, dass die Forschung an adulten Stammzellen bevorzugt zu fördern ist.

Möglicherweise ist auch die Reprogrammierung von Hautzellen zu pluripotenten Stammzellen ein echter Durchbruch, der weitere Forschungen auf dem ethisch ebenfalls umstrittenen Gebiet des therapeutischen Klonens, also des Klonens zu Forschungs- und zu therapeutischen Zwecken überflüssig macht.

Immerhin hat Ian Wilmut, der "Vater" des Klonschafs Dolly im November 2007 bekannt gegeben, seine Versuche auf diesem Gebiet einzustellen. Und vielleicht wird man auch rascher als noch vor kurzem erwartet, auf die Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen verzichten können.

Eine ethische Position, die sich unter Berufung auf das Totipotenzargument kategorisch gegen jede Forschung an humanen embryonalen Stammzellen ausspricht, ist jedoch schlecht begründet. Sie liefert keine ausreichenden Argumente für die Forschungspolitik und auch nicht für gesetzliche Regelungen für die Stammzellforschung.

[7.1.08]
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Buchtipps
Ulrich H.J. Körtner/Christian Kopetzki (Hg.), Embryonenschutz - Hemmschuh für die Biomedizin? (Schriftenreihe Recht der Medizin, Bd. 18), Wien 2003

Reiner Anselm/Ulrich H.J. Körtner (Hg.), Streitfall Biomedizin. Orientierung in christlicher Verantwortung, mit einer Einführung von T. Rendtorff, Göttingen 2003

Ulrich H.J. Körtner/Günter Virt/Dietrich v. Engelhardt/Franz Haslinger (Hg.), Lebensanfang und Lebensende in den Weltreligionen. Beiträge zu einer interkulturellen Medizinethik, Neukirchen-Vluyn 2006
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