Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Medizin und Gesundheit 
 
Alles oder das Richtige?
Allokation im Gesundheitswesen
 
  Zu den Wahlkampfthemen gehört die Gesundheitsreform. Die alte Regierung ist an diesem Thema gescheitert. Die Ärztekammer warnt vor Qualitätseinbußen. Plakate mahnen: "Sie haben nicht die billigste Medizin verdient, sondern die beste". Aber was ist die beste Medizin? Und wie lassen sich die steigenden Kosten im Gesundheitswesen gerecht finanzieren?  
Allokationsfragen - ein gesundheitspolitisches Tabu
Alles oder das Richtige - worin besteht die optimale medizinische Versorgung? Auf den ersten Blick scheint die Antwort leicht: Selbstverständlich ist "das Richtige" anzuwenden und nicht "alles", was an medizinischen Maßnahmen und Mitteln zur Verfügung steht. Schwierig wird es aber, sobald geklärt werden soll, was "das Richtige" generell und im Einzelfall ist und was die Kriterien dafür sind.

Hinter der ethischen Frage der optimalen Versorgung stehen letztlich Allokationsfragen, die in unserem Gesundheitssystem noch immer tabuisiert werden. Das führt dazu, dass die Probleme der Ressourcenverteilung auf dem Rücken der Patienten ausgetragen werden, weil man nicht auf höherer Ebene über Allokationskriterien entscheiden will.

Wie allgemein in der Ökonomie ist "Knappheit" eine grundlegende Kategorie auch in der Medizinökonomie. Unter Allokation - das Wort stammt vom lateinischen "allocare" = platzieren oder zuteilen - versteht man allgemein die Zuteilung von beschränkten Ressourcen an potentielle Nutzer oder Empfänger. Im Gesundheitswesen geht es um die Zuteilung von finanziellen, materiellen und personellen Ressourcen.
Ebenen der Allokation: Mikro ...
Man unterscheidet vier Ebenen der Allokation, zwei Mikro- und zwei Makroebenen:

Untere Mikroebene:
Allokationsentscheidungen auf der Ebene des einzelnen Patienten.
Beispiele: Soll ein Krebspatient bei ungünstigem Therapieverlauf mit einem neuen kostspieligen Medikament behandelt werden? Soll einer 70jährigen Patientin eine Niere transplantiert werden?

Obere Mikrobene:
Allokationsentscheidungen innerhalb eines Teilbereiches für bestimmte Patientengruppen.
Beispiele: Wieviel Notfallambulanzen benötig eine Stadt wie Wien? Wieviel Intensivstationen und Intensivbetten? Wieviel Betten in der Neonatologie (Neugeborenenmedizin) und wieviel Pflegeheimplätze?
... und Makro
Untere Makroebene:
Allokationsentscheidungen innerhalb des Gesundheitssystems.
Beispiele: Wieviel Prozent des Gesamtbudgets im Gesundheitswesen sollen für Prävention, wieviel für Akutversorgung, für Rehabilitation, für Pflege oder für Sozialhilfen ausgegeben werden?

Vergleichbare Fragen stellen sich auch in der medizinischen Forschung und in der Forschungspolitik: Wieviel Geld soll für sozialmedizinische Forschung ausgegeben werden, wieviel für Stammzellforschung oder für die Genomforschung? Wieviel Geld soll der Staat für die Forschung bereitstellen, wieviel private Investoren?

Obere Makroebene:
Allokationsentscheidungen auf der Ebene der öffentlichen Haushalte.
Beispiele: Wieviel vom Bruttoinlandsprodukt bzw. von den staatlichen Einnahmen sollen überhaupt für das Gesundheitswesen ausgegeben werden, wieviel für Bildung, Wissenschaft und Kultur, wieviel für die Infrastruktur (Verkehr, Energie, Abfallwirtschaft), für öffentliche Sicherheit, für die Landwirtschaft und den Landschaftsschutz, für Sport und Freizeit?
Ambivalenzen des medizinischen Fortschritts
Zu den Ambivalenzen des medizinischen Fortschritts gehört es, dass nicht nur Krankheiten geheilt und neue Therapien entwickelt werden, sondern dass auch neue Krankheitsbilder und erzeugt werden und neue Knappheiten entstehen.

Ein Beispiel sind sogenannte Wachkomapatienten, die man nicht kannte, bevor die moderne Intensivmedizin entstand. Nun haben Menschen eine Überlebenschance, die früher nach einem schweren Unfall oder einem Herzstillstand gestorben wären, deren Gehirn aber so schwer geschädigt ist, dass sie das Bewusstsein nicht wiedererlangen.

Oder man denke an die moderne Transplantationsmedizin. Dank Organtransplantation können Menschen weiterleben, die früher wegen einer Organschädigung hätten sterben müssen. Doch erzeugt die Transplantationsmedizin auch ein neues Knappheitsphänomen: das Problem der Organknappheit.
Unsere Begriffe von Krankheit und Gesundheit
Allokationsprobleme entstehen nicht nur durch die Entwicklung neuer kostenintensiver Therapien und Medikamente, sondern auch durch die Ausweitung des medizinischen Handlungsfeldes. Neben Kriterien der Gerechtigkeit im Gesundheitswesen sind darum auch unsere Begriffe von Krankheit und Gesundheit, d.h. die legitimatorischen und teleologischen Kategorien der Medizin zu diskutieren.

Krankheit ist die "legitimatorische" Kategorie der Medizin: Wird eine Krankheit diagnostiziert, ist ärztliches Handeln gerechtfertigt und geboten. Gesundheit ist die "teleologische" Kategorie der Medizin (von griechisch "telos" = Ziel, Zweck): Die Wiederherstellung und Erhaltung von Gesundheit ist das definierte Ziel aller Maßnahmen im Gesundheitswesen.

Ein Problem im Gesundheitswesen, das auch finanzielle Auswirkungen hat, ist die Tendenz, alle möglichen Befindlichkeitsstörungen oder natürlichen Prozesse - wie z.B. das Altern - zu behandlungsbedürftigen Krankheitszuständen zu erklären.
->   Krankheit: Eine Inhaltssuche aus Sicht der Medizinethik
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Nicht-Krankheiten
Um der bedenkenlosen Pathologisierung von im Grunde natürlichen Vorgänge und Diversitäten Einhalt zu gebieten, wird darüber diskutiert, einen Begriff von Nicht-Krankheiten zu entwickeln.

Der britische Mediziner Richard Smith definiert Nicht-Krankheiten als "einen menschlicher Vorgang oder ein Problem, das von manchen als Erkrankung beurteilt wird, obwohl es für die Betroffenen von Vorteil sein könnte, wenn dies nicht der Fall wäre".

Als Beispiele für Nicht-Krankheiten nennt Smith nicht nur Tränensäcke oder Haarausfall, sondern auch das Altern und die Menopause. Denkt man an den expandierenden Markt der Anti-Aging-Medizin, so erkennt man schnell die Brisanz des Themas. (vgl. R. Smith, In search of "non-disease", British Medical Journal 342, 883-885).
->   Auf der Suche nach "Nicht-Krankheiten"
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Gerechtigkeit im Gesundheitswesen
Die gesundheits- und sozialpolitische Aufgabe besteht darin, für Gerechtigkeit im Gesundheitswesen zu sorgen. Der Theorie nach haben alle Menschen den gleichen Anspruch auf Zugang zum Gesundheitssystem und auf die bestmögliche medizinische Versorgung.

Tatsächlich aber gibt es soziale Ungleichheiten. Die Zwei- oder Mehrklassenmedizin, vor der immer wieder gewarnt wird, ist im Grunde immer schon eine Realität. Auf den Zusammenhang zwischen niedrigem Einkommen, geringer Bildung und erhöhtem Krankheitsrisiko wurde ebenso verwiesen wie auf die prekäre Gesundheitssituation von Migranten.

Erinnert sei auch daran, dass es nicht nur in den immer wieder als Negativbeispiel angeführten USA, sondern inzwischen auch in Österreich eine nicht unerheblich Zahl von Menschen ohne Krankenversicherung gibt.
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Formen der Gerechtigkeit
Gerechtigkeit im Gesundheitswesen lässt sich nicht auf Verteilungsgerechtigkeit oder auf die Alternative zwischen dieser und der Tauschgerechtigkeit reduzieren. Wenn heute zu recht mehr Eigenverantwortung im Gesundheitswesen gefordert wird, bei der Prävention ebenso wie bei der Therapie und ihrer Finanzierung, so bleibt diese Forderung abstrakt und unsozial, wenn nicht zugleich von der Teilhabe- oder Befähigungsgerechtigkeit gesprochen wird.

Damit Menschen aus sozial schwachen Schichten Eigenverantwortung für ihre Gesundheit übernehmen können, müssen sie dazu allererst befähigt werden. Um die dafür notwendige Bildung und das entsprechende Einkommen zu erlangen, bedarf es einer aktiven und aktivierenden Sozialpolitik.
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Das liebe Geld
Eine der wichtigsten medizinökonomischen Fragen lautet, wie unser Gesundheitssystem grundsätzlich finanziert werden soll. Welche Leistungen sollen durch die Solidargemeinschaft über die Pflichtversicherung abgesichert werden, welche über Steuern, welche über Privatversicherungen?

Welche Leistungen sollen ganz aus dem Leistungskatalog von Krankenversicherungen ausgeschlossen werden? In welchen Fällen soll es Selbstbehalte geben? Wie weit soll die Gesundheitsversorgung dem freien Spiel der Kräfte des Marktes überlassen werden?
Und wer entscheidet?
Sodann stellt sich die Frage, wer auf den vier Allokationsebenen die Entscheidungen über die Zuteilung der Ressourcen trifft: der behandelnde Arzt? Übergeordnete Stellen (Beispiel Chefarztbewilligung)? Gesundheitsökonomen? Die Sozialversicherungsträger? Zentrale Kontrollorgane auf Ebene des Bundes?

Bisher ist es in Österreich nicht gelungen, sich auf neue und transparente Instrumente der Allokation zu verständigen. Im Verteilungskampf, der zwischen den unterschiedlichen Interessensgruppen und zwischen Bund und Ländern um Macht und Geld geführt wird, ist die überfällige Reform einmal mehr auf der Strecke geblieben.
Demokratische Gesundheitspolitik
Ethische Fragen der optimalen Versorgung bleiben solange ungelöst wie das Allokationsproblem in Politik und Gesellschaft tabuisiert wird. Lediglich neues Geld in das bestehende System zu pumpen ist keine Lösung. Sollen die Ausgaben für das Gesundheitswesen in einem angemessenen Verhältnis zu den sonstigen Aufgaben des Staates bleiben und also sinnvoll begrenzt werden, wird die Solidargemeinschaft in einzelnen Bereichen auch um Priorisierungen nicht herumkommen.

Das sind letztlich politische Entscheidungen, die in einem demokratischen Staat möglichst transparent und nicht hinter verschlossenen Türen getroffen werden sollten. Daher brauchen wir eine Grundsatzdebatte über soziale Gerechtigkeit - nicht nur in der Gesundheitspolitik.

Dabei dürfen ethische Grundsätze nicht über Bord geworfen werden. Das Subjekt der Medizin sind nicht das Gesundheitssystem mit seinen Finanzierungsengpässen, sondern die Patienten und ihre Lebensqualität.

[12.8.08]
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