Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Medizin und Gesundheit 
 
Spiritualität, Religion und Kultur am Krankenbett  
  Viele Patienten, aber auch Ärzte und Pflegekräfte erkennen zunehmend die Bedeutung von Religion und Spiritualität im Gesundheitswesen. Studien legen einen Zusammenhang zwischen individueller Spiritualität und Krankheitsverlauf nahe. Am 16. und 17. Oktober veranstaltet das Institut für Ethik und Recht in der Medizin eine interdisziplinäre Fachtagung, auf der über Theorie und Praxis von Spiritualität als Dimension der medizinischen Versorgung diskutiert wird.  
Spiritualität als Dimension der Medizin
Die Kulturgeschichte von Krankheit und Gesundheit ist bis in die Moderne weitgehend auch Religionsgeschichte. Erst die naturwissenschaftlich begründete moderne Medizin führt zu einer Trennung von Medizin und Religion, damit aber auch von Heil und Heilung.

Gegen das vorherrschende biomedizinische Paradigma wenden sich unterschiedliche Modelle einer ganzheitlichen Medizin. Das Spektrum reicht von der Psychosomatik über Homöopathie und Komplementärmedizin bis hin zu den verschiedenen Spielarten einer Alternativmedizin, die sich in bewussten Gegensatz zur sogenannten "Schulmedizin" stellen.

Unverkennbar spielen auf diesem Feld religiöse Aspekte eine große Rolle, wobei der Begriff der Spiritualität bevorzugt wird. Individualität, Sinnsuche, Ganzheitlichkeit, Einheit von Körper und Seele, Einssein mit der Natur, Zusammengehörigkeit von Heilung und Heil - das sind einige der Stichworte, die sich mit dem Begriff der Spiritualität verbinden.
Steigendes wissenschaftliches Interesse
Inzwischen beginnt man sich aber auch in der medizinischen Wissenschaft wieder für die religiöse Dimension von Krankheit und Gesundheit zu interessieren. In den vergangenen Jahren ist eine Reihe von Untersuchungen in medizinischen Fachzeitschriften erschienen, die einen positiven Einfluss von Religion und Spiritualität auf den Heilungsverlauf und die individuelle Bewältigung von Krankheit, "coping" genannt, nahelegen.

In den letzten Jahren ist die Zahl von Veröffentlichungen zu Spiritualität, Religion und Glauben in medizinischen und pflegewissenschaftlichen Zeitschriften sprunghaft angestiegen. Gab es laut MEDLINE im Zeitraum von 1970 bis 1979 nur 178 Publikationen, so waren es in den 90er Jahren bereits 1.645 und allein zwischen 2000 und 2005 sogar 2.271 Arbeiten.

1995 nahm die Weltgesundheitsorganisation den Komplex "spirituality/religion/personal beliefs" als eigenen Bereich in ihren Fragebogen zur Erhebung von gesundheitsbezogener Lebensqualität auf, weil ihn viele Patienten für wichtig halten (WHO-Fragebogen WHOQOL-100). Patienten, Patientinnen und ihre Angehörigen brauchen unter Umständen nicht nur psychologischen, sondern auch seelsorgerlichen Beistand.

Die Kooperation mit der Krankenhausseelsorge - nicht nur mit Vertretern und Vertreterinnen der christlichen Kirchen, sondern auch anderer Religionsgemeinschaften - gehört zu einem guten therapeutischen und pflegerischen Prozess.
...
Interreligiöse Ärzteplattform
2007 wurde in Wien eine Interreligiöse Ärzteplattform gegründet. Ihre Mitglieder setzen sich für eine verstärkte Integration von Seelsorge und Spiritualität in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen ein. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit nach organisatorischen Vorkehrungen in Gesundheitseinrichtungen, Schaffung von gemeinsamen Standards in der Krankenhausseelsorge-Ausbildung und Praxis und Sicherstellung der räumlichen und personellen Ressourcen.
->   Mehr über die interreligiöse Ärzteplattform
...
Interkulturelle Medizin und Pflege
Konzepte einer interkulturellen Medizin und Pflege schließen die Berücksichtigung der religiösen oder spirituellen Bedürfnisse und Überzeugungen der Patienten ein. Soziokulturell und religiös bestehen zum Teil sehr unterschiedliche Sichtweisen von Körper, Geist und Seele (z.B. westliches Personkonzept/Menschenbild in asiatischen Religionen), des Verhältnisses von Mensch und Natur (Mikrokosmos/Makrokosmos), von Krankheit, Gesundheit, Behinderung und ihren Ursachen (insbesondere von psychischen Erkrankungen).
Ausländerstatus überdeckt Religion
Freilich gibt es "den" muslimischen Patienten ebenso wenig wie "den" christlichen oder buddhistischen Patienten. Schwierigkeiten, sich zum Beispiel den Gegebenheiten in österreichischen Krankenhäusern anzupassen, haben eher kulturelle als religiöse Ursachen. So sehr Religion auch ein Bestandteil der Kultur ist, muss doch zwischen Religion und Kultur unterschieden werden.

Was zum Beispiel Muslime betrifft, so fallen, wie empirische Untersuchungen zeigen, nicht nur in der breiten Öffentlichkeit, sondern auch in einer krankenhausinternen Öffentlichkeit Vorstellungen von Islam und Migrant häufig zusammen.

Wie die Religionswissenschaftlerin Ina Wunn untersucht hat, macht sich eine mögliche Problemorientiertheit "eher am Ausländerstatus eines Patienten als an seiner tatsächlichen Religionszugehörigkeit fest. Fast zwangsläufig kann daher auf religiöse Vorschriften wenig Rücksicht genommen werden, weil diese nicht als religionsspezifisch zum Bewusstsein der Verantwortlichen gelangen."
Spiritual Care
Das Thema "Spiritualität, Religion und Kultur am Krankenbett" betrifft freilich nicht nur den persönlichen Kontakt zwischen Ärzten, Pflegenden, Patienten und Angehörigen.

So sehr der einzelne Patient im Mittelpunkt des medizinischen Geschehens und helfenden Handelns steht und stehen soll, so sehr müssen doch die konkreten Orte helfenden und heilenden Handelns, die institutionellen und organisatorischen Rahmenbedingungen mit berücksichtigt werden. Das gilt nicht nur für die Strukturen und Arbeitsbedingungen z.B. in einem Krankenhauses oder Pflegeheim, sondern für das Gesundheitswesen insgesamt.

Dem tragen die verschiedenen Konzepte von "spiritual care" Rechnung, die in den USA und Großbritannien entwickelt worden sind. Inzwischen hat die Diskussion auch den deutschsprachigen Raum erreicht. In ihr geht es auch darum, die Aufgabe und Rolle der Seelsorge im Krankenhaus neu zu bestimmen.
Institutionelle Seelsorge
Wie der evangelische Krankenhausseelsorger und Praktische Theologie Traugott Roser schreibt, besteht die eigentliche Neuerung in der Begründung von Seelsorge "darin, dass nicht mehr allein vom Recht des Patienten auf seelsorgerliche Begleitung als Konkretion der Religionsfreiheit her argumentiert wird, sondern ein institutionelles und nach Kriterien einer Institution (Qualitätsmanagement) zu beschreibendes Interesse angeführt wird, das seinerseits konsequent patientenorientiert ist in dem Sinne, dass die subjektive Zufriedenheit und Lebensqualität von Patienten zentrale Bedeutung für das Verständnis von Qualität haben".
Offene Fragen in Theorie und Praxis
Das Konzept der "spiritual care" erfordert allerdings einige begriffliche Klärungen und wirft auch eine Reihe von religionstheoretischen und theologischen Fragen auf. In den USA wird zwischen konservativen und liberalen Theologen über das Für und Wider von "spiritual care" im Unterschied zur "pastoral care", d.h. einer konfessionell geprägten Seelsorge diskutiert.

Dabei spielt die Palliativmedizin bzw. "palliative care" eine Vorreiterrolle. Auch im deutschsprachigen Raum deutet sich in der Hospizbewegung eine Lösung der konfessionellen Bindung der Seelsorge zugunsten einer "spiritual care" an, die an keine feste religiöse Tradition gebunden ist. Welche strukturellen Konsequenzen dies für die Krankenhausseelsorge auf Dauer nach sich zieht, bleibt abzuwarten.

[14.10.08]
...
Tagung des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin
Zum Thema "Spiritualität, Religion und Kultur am Krankenbett" findet am 16. und 17. Oktober 2008 eine interdisziplinäre Fachtagung statt. Veranstalter ist das Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien, in Kooperation mit der Akademie für Altersforschung am Haus der Barmherzigkeit, Wien.
Ort: Festsaal der Akademie für Altersforschung am Haus der Barmherzigkeit, Tokiostraße 4, 1220 Wien.
->   Mehr zur Fachtagung
...
->   Institut für Ethik und Recht in der Medizin
->   Akademie für Altersforschung am Haus der Barmherzigkeit
Mehr zu diesem Thema:
->   Ulrich Körtner: Spiritualität in der Medizin, Teil 1
->   Ulrich Körtner: Spiritualität in der Medizin, Teil 2
 
 
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Medizin und Gesundheit 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick