Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Medizin und Gesundheit .  Leben 
 
Europäische Biopolitik
Die jüngsten Entwicklungen sind auch für Österreich von Bedeutung
 
  Europa steht biopolitisch vor wichtigen Weichenstellungen. In den vergangenen Tagen und Monaten sind einige wichtige Entscheidungen gefallen. Österreich ist derzeit jedoch vornehmlich mit sich selbst beschäftigt. Von der internationalen Entwicklung nimmt man nur am Rande Notiz. Zu Unrecht.  
Entscheidung des EU-Parlaments
Am 14. November hat das Europäische Parlament in Brüssel in erster Lesung das 6. Rahmenprogramm der EU-Forschungsförderung für die Jahre 2002 bis 2006 beraten. Mit einer deutlichen Mehrheit von 317 zu 190 Stimmen bei 28 Enthaltungen stimmten die Parlamentarier in Brüssel dem vorliegenden Entwurf zu, der unter anderem die Förderung von Forschung an humanen embryonalen Stammzellen unter strengen Auflagen vorsieht.
Die vorgeschlagene Regelung entspricht in etwa der Entscheidung, die der US-amerikanische Präsident im August diesen Jahres getroffen hat.
->   Bush zu Stammzellenforschung: Ja, aber
->   Ulrich Körtner: Ein Sieg der Doppelmoral
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Kein Geld für therapeutisches Klonen
Ausgeschlossen sind jedoch Zuschüsse für Forschungen auf dem Gebiet des therapeutischen Klonens und des reproduktiven Klonens von Menschen. Mit seinem Votum blieb das Parlament hinter den Forderungen des Forschungsausschusses zurück, der eine umfassende Förderung der Embryonenforschung befürwortet hatte. Im Unterschied dazu hatte der Ausschuß für Genetik sogar die Förderung von Forschung mit embryonalen Stammzellen abgelehnt.

Das EU-Forschungsprogramm und die vom EU-Parlament geforderten Änderungen stehen auf der Tagesordnung der europäischen Forschungsminister, die sich am 10. Dezember zu einer Sitzung in Brüssel treffen.
->   EU-Parlament: Kein Geld für therapeutisches Klonen
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Englisches Klon-Gesetz ungültig
Nur einen Tag später, am 15. November, hob das britische Höchstgericht das erst Anfang des Jahres beschlossene Gesetz zur Regelung des Klonens von menschlichem Leben auf. Dieses sah vor, daß zwar das reproduktive Klonen, d.h. das Erzeugen von genetisch identischen Menschen, in Großbritannien verboten bleiben solle, nicht aber das sogenannten therapeutische Klonen, bei welchem aus den Stammzellen von Embryonen, die durch Transfer eines Zellkerns in eine entkernte Eizelle entstehen, Gewebe zu therapeutischen Zwecken gewonnen werden sollen.
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Was sind Embryonen?
Eine Lebensschützer-Organisation hatte gegen das britische Gesetz mit der Begründung geklagt, die Unterscheidung zwischen reproduktivem und therapeutischem Klonen sei ebenso ein semantischer Trick wie die Einschränkung des Bezeichnung ¿Embryo¿ auf solche vermehrungsfähigen Zellen, die durch Verschmelzung einer Ei- und einer Samenzelle entstehen. Demnach wären durch Klonierungstechnik erzeugte Embryonen gar keine Embryonen, obwohl sie sich theoretisch zu einem vollständigen Individuum entwickeln könnten.

Das britische Höchstgericht hat nun den Klägern Recht gegeben und das international heftig umstrittene Gesetz zu Fall gebracht. Jetzt ist der britische Gesetzgeber wieder am Zug. Offenbar war das EU-Parlament gut beraten, als es die Forschungsförderung für das therapeutische Klonen ablehnte.
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Biopolitik in Deutschland
Nur wenige Tage zuvor, nämlich am 12. November hatte die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages ¿Recht und Ethik der modernen Medizin¿ ihre Beratungen zum Import humaner embryonaler Stammzellen abgeschlossen, ohne zu einem einhelligen Votum zu gelangen.
Allerdings spricht sich eine klare Mehrheit gegen den Import und jegliche Embryonenforschung in Deutschland aus, wogegen eine Minderheit ¿ unter ihr die Ausschußvorsitzende Margot von Renesse ¿ unter strengen Auflagen eine eingeschränkte Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen befürwortet, nicht jedoch das therapeutische Klonen.
Minderheitenvotum
Im wesentlichen stimmt die Minderheitenposition in puncto Stammzellforschung mit derjenigen des Europäischen Parlaments oder auch des amerikanischen Präsidenten George W. Bush überein.
->   Deutschland: Kommission geg. Stammzellen-Import
Nationaler Ethikrat und Bundestag
Nun ist der Nationale Ethikrat des deutschen Bundeskanzlers am Zug, bevor Ende Januar 2002 der deutsche Bundestag eine Entscheidung über den Import embryonaler Stammzellen treffen soll. Die Entscheidungssuche beider Gremien verspricht spannend zu werden. Während einerseits das Mehrheitsvotum der Enquete-Kommission den Druck in Richtung einer Ablehnung erhöht, gibt die Entscheidung des EU-Parlaments den Import-Befürwortern neuen Auftrieb.
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DFG unter Entscheidungsdruck
Unter hohem Entscheidungsdruck steht aber auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Mehrfach hat sie eine Entscheidung über das Forschungsprojekt der Neurowissenschaftler Oliver Brüstle und Othmar Wiester von der Universität Bonn, die embryonale Stammzellen aus Israel importieren und beforschen wollen, verschoben.

Eigentlich soll noch im Dezember entschieden werden. Doch es wäre politisch höchst brisant, dem Bundestag vorzugreifen und einfach vollendete Tatsachen zu schaffen.
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Biopolitik in der Schweiz
Genau das ist in unserem westlichen Nachbarland geschehen. Wie in Österreich wurde auch in der Schweiz erst im Sommer eine nationale Bioethikkommission eingesetzt. Sie sollte unter anderem über die Zulässigkeit von Embryonenforschung beraten, lag doch auch in der Schweiz schon seit längerem ein Antrag beim Schweizer Nationalfonds (SNF) für ein Forschungsprojekt mit embryonalen Stammzellen vor. Ziel ist die Zucht von Herzmuskelzellen aus embryonalen Stammzellen, die für die Therapie von Herzinfarkt-Folgen eingesetzt werden könnten.
->   Schweiz setzt nationale Bioethik-Kommission ein
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Schweitzer Nationalfonds schafft Fakten
Anders als die DFG wollte sich der SNF jedoch nicht länger hinhalten lassen und schuf einfach Fakten: Im September bewilligte er das eingereichte Forschungsprojekt und düpierte damit die kurz zuvor eingesetzte Bioethikkommission.
->   Schweitzer Nationalfonds
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Europäische Trends ...
Die Entwicklung in den Nachbarländern und auf gesamteuropäischer Ebene wird unter den Gegnern eines ungehinderten biomedizinischen Fortschritts Besorgnis auslösen.
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Striktes Nein der Österreichischen Bischofskonferenz
So hat eben erst die Österreichische Bischofskonferenz gefordert, in Österreich solle unabhängig vom Beitritt zur Biomedizin-Konvention des Europarates nicht nur jede Erzeugung von Embryonen durch Klonen ¿ also auch das therapeutische Klonen ¿, sondern auch die Gewinnung von embryonalen Stammzellen und selbst die Beforschung von bereits vorhandenen embronalen Stammzellinien verboten bleiben.

Hiervon unterscheidet sich die Haltung der Evangelischen Kirchen, welche die eingeschränkte Beforschung embryonaler Stammzellen für ethisch vertretbar halten.
->   Ulrich Körtner: Verantwortung für das Leben. Evangelische Kirche veröffentlicht Denkschrift zur Biomedizin
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... und nationale Konsequenzen
Die Entscheidung des EU-Parlaments zum 6. Rahmenprogramm der EU-Forschungsförderung
hat freilich auch für Österreich Konsequenzen. Selbst wenn jegliche Embryonenforschung in Österreich verboten bliebe, werden ¿ geht es nach dem Willen der EU-Parlamentarier ¿ künftig auch mit Geldern aus den österreichischen EU-Beiträgen solche Forschungen in anderen EU-Staaten finanziert.
Biopolitik ist also längst keine ausschließlich nationale Angelegenheit mehr. Österreichs Politik wird sich damit auseinandersetzen müssen, daß die eigenen Rechtsauffassungen und ethischen Standards anderen Ländern nur bedingt zuzumuten sind.
Daß all jene Länder, die gegenüber der Forschung an humanen embryonalen Stammzellen eine liberalere Haltung einnehmen, mit Rücksicht auf Länder wie Deutschland oder Österreich auf entsprechende gemeinsame Forschungsprogramme verzichten, ist kaum zu erwarten.
Gesamteuropäischer Konsens in Sicht?
Immerhin zeichnet sich ein gesamteuropäischer Konsens ab, nicht nur das reproduktive, sondern auch das therapeutische Klonen von der Förderung auszuschließen bzw. durch einzelstaatliche Gesetzgebung zu verbieten. In der Frage der Forschung an embryonalen Stammzellen wird sich europaweit vermutlich jene gemäßigte Position durchsetzen, welche zwar gegen eine völlige Liberalisierung ist, jedoch zumindest die Beforschung bereits existierender embryonaler Stammzellinien unter strengen Auflagen erlauben möchte.
Wahrscheinlich wird diese Linie auch in Deutschland am Ende eine parlamentarische Mdehrheit finden, was wiederum für die bioethische und biopolitische Diskussion in Österreich nicht ohne Folgen bleiben wird. Es ist darum durchaus kein Schaden, daß das Thema der embryonalen Stammzellen derzeit nicht an vorderster Stelle auf der Tagesordnung der östereichischen Bioethikkommision steht. Allerdings sollte die europäische Entwicklung kontinuierlich und sorgfältig beobachtet werden.
Feindbild Bioethik-Konvention?
Die aktuelle biopolitische Entwicklung unterstreicht auch die Dringlichkeit, sich in Österreich mit der noch immer ausstehenden Ratifizierung der Bioethik-Konvention des Europarates zu befassen. Zu Recht steht diese an erster Stelle der Agenda der Bioethikkommission.
Wie sehr die Zeit drängt, ist manchen Kritikern der Bioethik-Konvention in Österreich offenbar noch gar nicht recht bewußt. Kritiker dieses Menschenrechtsdokuments haben eine ¿Bioethikkommission für die Bundesregierung gebildet¿, der Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Behindertenorganisationen und die Aktion Leben angehören. Sie befürchten, daß die Ratifizierung der Bioethik-Konvention zur Absenkung des Schutzniveaus für Behinderte und nichtzustimmungsfähige Personen (z.B. auch Kinder und Altersverwirrte) in der medizinischen Forschung führen könnte.
->   Bioethikkommission für die Bundesregierung
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EU-Richtlinie zur Arzneimittelforschung
Nun ist die Bioethik-Konvention ¿ zutreffender Biomedizin-Konvention oder Menschenrechtskonvention zur Biomedizin genannt ¿ ein völkerrechtliches Abkommen des Europarates. Nur wenigen ist bewußt, daß die von ihm zu unterscheidende Europäische Union im Mai 2001 eine neue Richtlinie zur Arzneimittelforschung erlassen hat, die weitreichende Möglichkeiten der Forschung an Kindern und sonstigen Nichtzustimmungsfähigen Personen vorsieht.

Es handelt sich um die ¿Richtlinie 2001/20/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. April 2001 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung der guten klinischen Praxis [GCP] bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Humanmedizin.
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Auch für Österreich bindend
Diese Richtlinie ist auch für Österreich bindend und muß bis 2003 rechtlich umgesetzt werden. Durch die neue EU-Richtlinie zur Arzeimittelforschung wird also die von manchen zum Feindbild erklärte Biomedizin-Konvention des Europarates gewissermaßen von rechts überholt.
Es könnte sich schon bald herausstellen, daß gerade die Biomedizin-Konvention des Europarates, zu der weitere Zusatzprotokolle existieren oder bereits in Arbeit sind, ein wichtiges Rechtsinstrument ist, um fragwürdige biomedizinische Entwicklungen innerhalb der EU einzudämmen, die in erster Linie von Wirtschaftsinteressen, vor allem der Pharmaindustrie, diktiert werden.
Keine Insel der Seligen
Eines zeigen die Entwicklungen der letzten Monate und Tage jedenfalls ganz klar: Bioethik und Biopolitik sind eine gesamteuropäische Angelegenheit. Auch die nationale Biopolitik läßt sich nur noch im gesamteuropäischen Rahmen diskutieren.
 
 
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Medizin und Gesundheit .  Leben 
 

 
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