Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Leben 
 
Nobody is perfect
Über das Recht auf Unvollkommenheit im Zeitalter der Biomedizin
 
  Ein spektakuläres Urteil in Frankreich, wonach einem Behinderten Schadenersatz aufgrund der Tatsache zusteht, daß er überhaupt geboren und nicht abgetrieben wurde, lenkt das Augenmerk auf einen neuen Unbegriff in der bioethischen Debatte: "wrongful life". Die Menschlichkeit des Menschen hängt aber gerade von seinem Recht auf Unvollkommenheit ab.  
Homo faber
"Homo faber" lautet der Titel eines 1957 erschienenen Romans von Max Frisch. Der Titelheld ist ein Techniker, dessen rationale Weltsicht durch tragische Verwicklungen aus den Fugen gerät. Auch andere Romanfiguren des 20. Jahrhunderts waren Ingenieure, zum Beispiel Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften in Robert Musils gleichnamigem Roman.
Der Techniker gilt als Inbegriff der Moderne. Nicht nur die Literatur, auch die Philosophie des 20. Jahrhunderts hat sich intensiv mit dem Wesen moderner Technik auseinandergesetzt. Besonders radikal fällt die Technikkritik bei Martin Heidegger aus. Schonungslos - Kritiker sagen: einseitig - hat Heidegger das berechnende Wesen und die Gewalttätigkeit der modernen Technik im Umgang mit der Natur und ihre Auswirkungen auf das Selbstverständnis des Menschen analysiert.
Vom Homo faber zum Homo fabricatus
Einen neuen Entwicklungsschritt markiert die Gentechnik. "Life sciences" ist der Name für den biowissenschaftlich-technischen Komplex des 21. Jahrhunderts, der sich von der Landwirtschaft bis zu molekularen Medizin erstreckt. Die Biotechnologie führt zu neuen tiefgreifenden Veränderungen unseres Welt- und Menschenbildes. Aus dem Homo faber wird der Homo fabricatus. Nur ein Beispiel sind in den USA im Reagenzglas gezeugte Kinder, die, genetisch betrachtet, drei Eltern haben, weil der Eizelle der leiblichen Mutter zur Steigerung ihrer Fruchtbarkeit Teile einer weiteren Eizelle beigegeben wurden.
Vor allen ethischen Fragen, ob die moderne Medizin in Forschung und Therapie alles tun soll oder darf, was technisch möglich ist, steht die Frage nach ihren Auswirkungen auf das menschliche Selbstverständnis, auf die Sicht, die der Mensch künftig von sich selbst und Seinesgleichen haben wird. Was bedeutet es für das eigene Selbstverständnis, wenn ein Mensch sich künftig als das technisch erzeugte Produkt anderer Artgenossen begreifen muß? Kann er sich z.B. noch als Geschöpf Gottes verstehen, das eine unbedingte Würde hat?
Der Wunsch nach Vollkommenheit
Die ohnehin problematische Vorstellung eines Rechtes auf Gesundheit - das von dem sozialen Menschenrecht des gleichen Zugangs zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung zu unterscheiden ist! - steigert sich zur Idee eines Rechts auf Vollkommenheit. Sie äußert sich keineswegs nur in diversen Utopien der Menschenzüchtung, sondern ist bereits die reale Folge der schon existierenden Formen prädiktiver Medizin.
"Wrongful life"?
Wie weit z.B. der durch die heute übliche Praxis pränataler Diagnostik hervorgerufene Bewußtseinswandel reicht, zeigen spektakuläre Gerichtsurteile. In einem Fall wurde ein Arzt zu Schadensersatz verklagt, weil aufgrund seiner vorgeburtlichen Fehldiagnose ein behindertes Kind zur Welt kam, das andernfalls hätte abgetrieben werden sollen. Den Eltern sei, so die Begründung des Gerichts, durch die aufwendige Pflege des Kindes ein materieller Schaden entstanden.
Der Gerechtigkeit halber muß gesagt werden, daß nicht das Kind selbst, sondern die Aufwendungen für seine Pflege als Schaden definiert wurden. Vorausgesetzt wird aber, daß dieser Schaden durch Abtreibung des Kindes hätte vermieden werden können. Aus dem Recht auf Kinder wird also das Recht auf gesunde Kinder.
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Recht auf die eigene Nichtexistenz?
Für Aufsehen hat kürzlich ein spektakulärer Fall in Frankreich gesorgt. Ein Schwerstbehinderter hat nicht etwa die Ärzte, sondern seine Eltern auf Schadenersatz geklagt, weil diese ihn nicht hatten abtreiben lassen. Dem Kläger wurde vom Cour de Cassation Recht gegeben. Auf die rechtliche Begründung der Gerichtsentscheidung sei hier nicht näher eingegangen. Ethisch von Belang ist jedenfalls die Konsequenz, daß die eigene Nichtexistenz der durch eine Behinderung beeinträchtigen Existenz vorzuziehen ist.

Läßt sich das vermeintliche Recht auf Gesundheit nicht verwirklichen, wird es zu einem Recht auf das eigene Nichtgeborenwerden umgedeutet. Da sich aber die eigene Geburt nicht mehr rückgängig machen läßt, ist es vom Recht auf Nichtgeborenwerden zum Recht auf Euthanasie nur noch ein kleiner Schritt.

Im Eiltempo wurde nun vom französischen Parlament ein "Gesetz zur nationalen Solidarität mit und über die Entschädigung von Menschen mit angeborenen Behinderungen" beschlossen, das derartige Schadensersatzentscheidungen künftig ausschließen soll. Allerdings mit einer Einschränkung: Lediglich Schadenersatzansprüche der Kinder soll es nicht mehr geben, Ansprüche der Eltern dagegen weiterhin schon.
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Was ist Menschen zumutbar?
In Anbetracht des biomedizinischen Fortschritts wird behindertes oder sonstwie unvollkommenes Leben als Zumutung empfunden, sei es für die Betroffenen selbst, sei es für ihre Umgebung. Daß das Leben eine Zumutung sein kann und daß wir unseren Kindern, indem wir ihnen das Leben schenken, dieses zugleich zumuten, ist eine grundsätzliche Tatsache, die heute einer neuen Bewertung unterzogen wird. So zwingt uns die moderne Biomedizin, den Begriff des Zumutbaren ethisch zu bedenken.
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Zumutungen an die Ungeborenen
Der Philosoph H. Jonas hat dazu angemerkt, "daß wir im letzten nicht das antizipierte Wünschen der Späteren konsultieren (das unser eigenes Erzeugnis sein kann), sondern ihr Sollen, das nicht von uns gemacht ist und über uns beiden steht. [...] Das bedeutet aber, daß wir nicht so sehr über das Recht künftiger Menschen zu wachen haben - nämlich ihr Recht auf Glück, das bei dem schwankenden Begriff des Glücks ohnehin ein mißliches Kriterium wäre - wie über ihre Pflicht, nämlich ihre Pflicht zu wirklichem Menschentum: also über ihre Fähigkeit zu dieser Pflicht" (H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation (1979), Frankfurt a.M. 1984, S.89).

Jonas spricht von einer Pflicht, "die uns ganz und gar einseitig ermächtigt [!], allen nach uns Kommenden ihr Dasein nicht sowohl zu schenken (was sich mit Aufzwingen [!] schlecht verträgt), als vielmehr zuzumuten [!] - eben ein Dasein, das der Bürde fähig ist, für die die Pflicht gemeint ist. Ob sie diese Bürde auch wünschen, würden wir sie gar nicht fragen, selbst wenn wir könnten" (a.a.O., S.90).
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Vom Recht auf Glück zur Selektion
Offenbar verstehen sich solche Überlegung zur Zumutbarkeit des Lebens und seinen Zumutungen längst nicht mehr von selbst. Ob Ungeborene die Bürde eines behinderten Lebens auch wünschen, werden sie heute hypothetisch sehr wohl gefragt. Daß man sich dabei eines schwankenden Begriffs von Glück als Kriterium bedient und die eigenen Wünsche auf die Ungeborenen projiziert, wird von der Gesellschaft in Kauf genommen.
Wenn man aber im Fall von körperlichen oder geistigen Behinderungen so argumentiert, warum dann nicht auch im Blick auf das Geschlecht - was in Indien bereits gängige Praxis ist - oder im Blick auf die Hautfarbe, die mutmaßliche Intelligenz oder andere Eigenschaften?
Das Recht auf Unvollkommenheit
Wird das subjektive Recht auf Glück zum Maßstab prädiktiver Medizin erklärt, läuft dies auf die Behauptung eines Rechtes auf Vollkommenheit hinaus. Zu fragen ist aber, wie menschlich eine Gesellschaft noch ist, welche diesen Rechtsanspruch akzeptiert und einklagbar macht.
Die Menschlichkeit des Menschen - so lautet meine These - hängt am Recht auf Unvollkommenheit. Indikator für die Humanität einer Gesellschaft ist, wie weit sie das Recht auf Unvollkommenheit schützt. Im Recht auf Unvollkommenheit liegt der positive Sinn dessen, was wir im Anschluß an H. Jonas als Zumutung und Zumutbarkeit des Lebens bezeichnet haben.
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Prädiktive Medizin und Präimplantationsdiagnostik
Die Entwicklung der prädiktiven Medizin schreitet weiter voran. Nach Etablierung der pränatalen Diagnostik wird nun über die Einführung der Präimplantationsdiagnostik (PID) diskutiert. In diesem Fall werden Embryonen in vitro gezeugt, um sie vor dem Transfer in den Uterus auf mögliche Chromosomen- oder Gendefekte zu untersuchen.

Befürworter der neuen Diagnostik argumentieren, daß auf diese Weise spätere Abtreibungen vermieden werden. Gegner werfen der PID vor, eine Methode der eugenischen Selektion zu sein. Das Pro und Contra der PID soll hier allerdings nicht im Einzelnen diskutiert werden.
->   Ulrich Körtner: Präimplantationsdiagnostik - Hilfe für Betroffene oder neue Eugenik?, Teil 1 und 2
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Recht auf ein gesundes Kind?
Unter den möglichen Indikationen wären zumindest zwei Fälle zu unterscheiden: Sollen solche Embryonen aussortiert werden, die aus medizinischen Gründen nicht lebensfähig sind - d.h. geht es darum, Eltern überhaupt zu einem leiblichen Kind zu verhelfen -, oder sollen auch solche Embryonen selektiert werden, die zwar lebensfähig wären, aber bei denen mit einer manifesten Erkrankung oder vielleicht auch nur mit einer Disposition für eine im späteren Leben möglicherweise auftretende Krankheit zu rechnen wäre? In diesem Fall ginge es nicht mehr um das Recht auf ein Kind überhaupt, sondern um das vermeintliche Recht auf ein gesundes Kind.
Ethik und Genetik
Die Diskussion über die ethische Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der PID verstärkt die Notwendigkeit, das Recht auf Unvollkommenheit zu verteidigen und seine positive Bedeutung für die Humanität unserer Gesellschaft zu verdeutlichen. Hierbei kann uns gerade die Genetik zur Hilfe kommen. Streng genommen gibt es wohl keinen Menschen ohne irgendwelche Gendefekte, auch wenn diese nicht immer zu einer gravierenden Krankheit führen müssen. Die Unvollkommenheit, welche zum Menschsein gehört, zeigt sich also schon im molekulargenetischen Bereich.
Während einerseits gerade seriöse Genetiker vor einem Gen-Reduktionismus warnen, weil der Mensch eben nicht durch sein Genom definiert und determiniert wird, läßt sich andererseits von der Genetik her einsichtig machen, daß die Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit, zwischen Behinderung und Nichtbehinderung fließend ist.
Nobody is perfect
Wollte man die Grenze aufgrund von genetischen Kriterien ziehen, so müßte man sagen, daß letztlich alle Menschen behindert sind. Gerade aus Sicht der Genetik gilt: Nobody is perfect. Weil es aber im Verlauf der Zellteilungen, die unser Körper im Laufe unseres Lebens durchläuft immer wieder zu Mutationen kommt, bleibt auch die Idee, einen genetisch vollkommenen Menschen züchten zu können, eine Illusion.
Schon genetisch betrachtet ist der Mensch ein unvollkommenes Wesen. Daß er es auch bleiben darf, ist sein zu verteidigendes Recht.
 
 
 
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