Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Leben 
 
Embryonale Stammzellen - die Politik der kleinen Schritte
Zur Entscheidung des deutschen Bundestages über den Import embryonaler Stammzellen
 
  Nach langer, sehr kontroverser, aber auf hohem Niveau geführter Debatte hat der deutsche Bundestag gestern für den Import und die Beforschung embryonaler Stammzellen entschieden - allerdings nur unter strengen Auflagen. Die Entscheidung ist ein politischer Kompromiss, der Augenmaß und Verantwortungsbewusstsein verrät. Die deutsche Regelung wäre auch als Modell für Österreich vorstellbar.  
Eine schwere Entscheidung ...
Dem Bundestag lagen drei Anträge zur Entscheidung vor, wobei die Fronten quer durch die Parteien gingen. Der erste, unterstützt z.B. von dem CDU-Abgeordneten Hubert Hüppe, lehnte die Einfuhr und Beforschung embryonaler Stammzellen kategorisch ab.

Völlig entgegengesetzt beantragte eine Gruppe von Parlamentariern um die FDP-Abgeordnete Flach, die Einfuhr ohne wesentliche Einschränkungen zu erlauben.
Das Ergebnis: Import unter strengen Auflagen
Die Mehrheit fand schließlich der Antrag der Abgeordneten Margot von Renesse (SPD), zugleich Vorsitzende der Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin", Maria Böhmer (CDU) und Andrea Fischer (Bündnis 90/DIE GRÜNEN).

Nach der gestrigen Entscheidung dürfen nun bereits existierende embryonale Stammzelllinien, die vor einem bestimmt Stichtag hergestellt worden sind, nach Deutschland importiert und beforscht werden - allerdings nur unter strengen Auflagen.

Deutschland: Stammzellen-Import unter strengen Auflagen
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Keine generelle Freigabe der Embryonenforschung
Grundsätzlich soll die verbrauchende Embryonenforschung in Deutschland verboten bleiben. Auch die Herstellung neuer embryonaler Stammzelllinien ist nicht vorgesehen. Die Beforschung von bereits existierenden Stammzellinien ist an etliche Auflagen gebunden, die innerhalb der nächsten Wochen als Gesetz verabschiedet werden. Über jedes Forschungsprojekt wird gesondert entschieden. Hierfür gelten folgende Kriterien:

- Hochrangigkeit und ethische Verträglichkeit des Forschungsziels
- Alternativlosigkeit der Forschung (Vergleichbare Experimente mit adulten oder anderen Stammzellen nicht möglich; Tierversuche bereits ausgereizt)
- Verwendung ausschließlich von Stammzellen, die von bei der In-vitro-Fertilisation angefallenen "überzähligen" Embryonen stammen
- Stichtagsregelung (Es soll verhindert werden, dass für die nun in Deutschland anlaufenden Forschungen weitere Embryonen getötet werden)
- Nicht gekaufte Zustimmung der Spender, von deren Embryonen die Stammzellen gewonnen wurden.

Die Begutachtung und Kontrolle der Forschungsvorhaben wird voraussichtlich einer nationalen Kommission übertragen.
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Geteilte Reaktionen
Die Reaktionen auf die Bundestagsentscheidung sind ähnlich geteilt wie seinerzeit nach der Entscheidung des US-Präsindenten Bush.

Manchen Forschern und Teilen der Pharmaindustrie geht die Lösung nicht weit genug, während die Kirchen den gefundenen Kompromiss ablehnen, weil er die Tötung werdender Menschen in Kauf nehme.
->   science.orf.at: Gemischte Reaktionen auf Stammzell-Entscheid
Kein fauler Kompromiss
Die Bundestagsentscheidung ist ein politischer Kompromiss. Kritiker werden von einem faulen Kompromiss sprechen.

Nachdem im ersten Abstimmungsgang kein Antrag die erforderliche absolute Mehrheit fand, schlossen sich im zweiten Abstimmungsgang die Befürworter einer weitgehenden Liberalisierung der Stammzellenforschung dem Antrag Renesse/Böhmer/Fischer an.
Verantwortungsvoll und ethisch gerechtfertigt
Von einem faulen Kompromiss zu sprechen, wird aber der Qualität der Entscheidung nicht gerecht. Sie ist im Gegenteil höchst verantwortungsvoll und ethisch gerechtfertigt, weil sie in einer schwierigen Abwägungsfrage zu einer maßvollen Entscheidung gelangt.
Menschenwürde von Embryonen
Dass nun in Deutschland, wie Vertreter der enttäuschten Kirchen äußern, der strikte Lebensschutz auch des ungeborenen Lebens aufgegeben werde, ist eine nicht gerechtfertigte Unterstellung.

Vielmehr wird daran festgehalten, dass auch Embryonen Menschenwürde und Recht auf Leben zukommen. Eben darum soll die gezielte Tötung von Embryonen, ganz zu schweigen von der Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken, in Deutschland verboten bleiben.
Ethische Dilemmata
Dass für die bereits existierenden Stammzellinien Embryonen vernichtet wurden, ist auch für die Befürworter des Import ein ethisches Dilemma.

Gleiches gilt aber auch für die Beforschung von fetalem Gewebe, das bei Abtreibungen anfällt. Diese wird allgemein für ethisch zulässig gehalten.

Die Verfechter eines strikten Nein zu jeglicher Embryonenforschung geraten an dieser Stelle ebenfalls in Begründungsprobleme - übrigens auch, wenn es um die Zulässigkeit der Spirale als Verhütungsmittel geht.
Politik der kleinen Schritte
Höchst verantwortungsvoll ist es, dass man sich in Deutschland zu einer Biopolitik der kleinen Schritte entschlossen hat. Denn eines muss klar gesagt werden: Die Forschung mit embryonalen Stammzellen ist bis auf weiteres nur Grundlagenforschung, die möglicherweise mehr verspricht, als sie je halten kann.
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Die Zeit drängt - wirklich?
Bisweilen entsteht der Eindruck, als steigere sich die Politik aus Angst um Wirschaftsstandorte und Arbeitsplätze in einen Entscheidungsdruck hinein, der dem tatschlichen Tempo der wissenschaftlichen Entwicklung vorauseilt. Keineswegs kommen die Ethik und die Politik immer zu spät. Sie können auch einmal zu früh kommen. Die behutsame Entscheidung des deutschen Bundestages sorgt biopolitisch für eine gewisse "Entschleunigung" und "Verzögerung der Zeit". Wer meint, für verantwortungsvolle ethische Abwägungen sei ohnehin keine Zeit mehr, der irrt.

Jetzt müssen nämlich erst einmal die Forscher beweisen, ob die Forschung an embryonalen Stammzellen tatsächlich hält, was sie uns derzeit verspricht. Seriöse Wissenschaftler warnen schon die ganze Zeit vor übertriebenen Hoffnungen. Allerdings muss man genau hinschauen, aus welchen Motiven die Skepsis im Einzelfall geäußert wird. Nicht nur bei den Befürwortern, sondern auch bei den Kritikern der verbrauchenden Embryonenforschung sind Eigeninteressen im Spiel.
->   Ulrich Körtner: Embryonenschutz und Biomedizin - eine Zwischenbilanz der bioethischen Debatte
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Mut zur Politik
Jedenfalls braucht sich die Politik weder von wissenschaftlichen Sensationsmeldungen noch von den Vorstandsetagen der großen Biotech-Firmen kopfscheu machen zu lassen.

Sie muss allerdings den Mut aufbringen, Biopolitik aktiv zu gestalten und den technischen Fortschritt zu regulieren. Wie dies mit Augenmaß und verantwortungsbewusst geschehen kann, hat der deutsche Bundestag gestern gezeigt.
Nur ein erster Schritt?
Kritiker wenden ein, dass es bei dem gestrigen Schritt nicht bleiben werde. Hellhörig macht die gestrige Aussage des Präsidenten der DFG, sollte sich irgendwann aus Sicht der Forschung eine neue Sachlage ergeben, werde der Bundestag gegebenenfalls über weitere Fragen entscheiden müssen, z.B. darüber, ob nicht doch auch in Deutschland eigene embryonale Stammzellinien hergestellt werden sollen.
Kirchen werden sich bestätigt sehen
Redlicherweise lässt sich dies nicht ausschließen. Die Kirchen in Deutschland werden sich jetzt in ihrer Warnung bestätigt sehen, dass man sich nun auf einer schiefen Ebene bewege, die zur Totalinstrumentalisierung des Menschen führe und Embryonen zur Biomasse degradiere.
Wer A sagt, muss nicht B sagen
Das Argument des Dammbruchs oder der schiefen Ebene bewegt sich freilich selbst auf einer schiefen Bahn. Es geht nämlich von einem tiefen Misstrauen gegenüber der moralischen Urteils- und Widerstandfähigkeit des Menschen aus.

Wer A sagt, muss keinesfalls auch B sagen. Wird das in Zweifel gezogen, dann allerdings geben Ethik und Politik sich selbst auf.
->   Sämtliche Artikel von Ulrich Körtner in science.orf.at
 
 
 
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