Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Medizin und Gesundheit 
 
Ehrfurcht vor dem Leben?
Über die Moral (in) der BSE-Krise
 
  Die EU ändert ihren Krisenplan für die "Entsorgung" von überschüssigem Rindfleisch. Auch ist von "Rindern für Inder" die Rede. Mit Tierethik und ökologischem Umdenken hat all das nur wenig zu tun.  
Pyrrhussieg des schlechten Gewissens
Die Pläne der EU-Kommission, 3 Millionen Rinder, die wegen der BSE-Krise nicht mehr vermarktet werden können, schlachten und verbrennen zu lassen, hat europaweit eine Sturm der Entrüstung ausgelöst. Die massenhafte Vernichtung von Tieren bzw. von Lebensmitteln wird als ethischer Skandal empfunden. Kirchenvertreter sprechen von einer Mißachtung der Schöpfung.
Nach den neuen Plänen von Agrarkommisar Fischler soll es den Mitgliedstaaten freigestellt bleiben, ob sie das überflüssige Rindfleisch verbrennen oder in Kühlhäusern einlagern - letzteres freilich auf eigene Kosten. Ein Sieg der Ethik über die Politik oder die Ökonomie ist das freilich nicht, eher ein Pyrrhus-Sieg des kollektiven schlechten Gewissens.
Kühlschrank statt Mistkübel?
Ob Rindfleisch, das niemand mehr haben will, gleich verbrannt oder - mit Steuermitteln - zunächst eingelagert und zu einem späteren Zeitpunkt, wenn sich die allgemeine Aufregung gelegt hat - natürlich auch wieder mit öffentlichen Geldern - "entsorgt" wird, macht ethisch keinen großen Unterschied. An den skandalösen Strukturen eines agrarwirtschaftlichen Systems, das hochsubventionierte Überschüsse produziert, ändert das alle nichts.
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Rinder für Inder?
Auch die - auif den ersten Blick verständliche - Idee, das überschüssige Rindfleisch in Katastrophengebiete zu schicken, löst die ethischen Probleme der europäischen Agrarpolitik nicht, sondern erzeugt lediglich neue.

Abgesehen davon, daß es skandalös wäre, nicht auf BSE getestetes Rindfleisch abzugeben oder durch Billimiporte heimische Fleischmärkte in der Dritten Welt zu ruinieren, muß die Frage gestellt werden, ob Katatstrophenhilfe nicht auf andere Weise sinnvoller und effektiver geleistet werden kann.

Ethisch ist es jedenfalls nur schwer zu rechtfertigen, zusätzliches Geld für die Verarbeitung von Rindfleisch zu verwenden, damit es überhaupt lagerungs-, transport- und gebrauchsfähig ist, statt dieses Geld für Direkthilfen zu verwenden. Von der Mitschuld, die wir alle - Produzenten, Handel und Konsumenten - an der gegenwärtigen Misere auf dem europäischen Fleischmarkt tragen, können wir uns so nicht freikaufen. Solche Mildtätigkeit bleibt eine Alibiaktion.
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Kultur des Todes
Nicht nur die Landwirtschaft, die Lebensmittelbranche und die Politik, sondern wir alle sind herausgefordert, unseren Umgang mit der Natur, insbesondere mit Nutztieren zu überdenken. Fragen der Tierethik und ihres Zusammenhangs mit unserem Lebensstil gehen in der gegenwärtigen Debatte weitgehend unter.

Schließlich würden die jetzt überzähligen Tiere in jedem Fall geschlachtet. Einzig zu diesem Zweck werden sie schließlich in so großer Stückzahl aufgezogen. Was nicht verkauft wird, wandert auch sonst aus den Regalen der Supermärkte in den Mistkübel.
Unsere moderne Lebensmittelindustrie ist nicht nur eine Wegwerfkultur, sondern eine Kultur des Todes, errichtet auf Hekatomben von Tierkadavern. Die Bilder aus den Ställen und Schlachthöfen, die nun täglich im Fernsehen gezeigt werden, haben wir lange verdrängt. Nach dem Leiden von übergwichtigen oder mit Medikamenten vollgepumpten Schweinen, Kühen oder Turbo-Putern hat keiner gefragt. Das hätte uns ja den Appetit verderben können.
Alles hat seinen Preis
Wir wollen zwar möglichst gut, aber zugleich möglichst billig essen. Prozentual sind die Ausgaben für Lebensmittel in den letzten Jahrzehnten immer weiter gesunken. Wenn der Kaufpreis ein Indikator für Wertschätzung ist, so drückt sich in den niedrigen Preisen für Fleisch und Geflügel unsere völlige Mißachtung der Schöpfung aus. Von Ehrfurcht vor dem Leben kann keine Rede sein.
Tierethik
Es ist hoch an der Zeit umzudenken und dem Gedanken der Eigenwertigkeit von Tieren auch in der modernen Landwirtschaft zum Durchbruch zu verhelfen. Auch Nutztiere, die zur Fleischerzeugung dienen, die also überhaupt nur deshalb leben, um später geschlachtet zu werden, sind Mitgeschöpfe, die Anspruch auf eine artgerechte Haltung und Ernährung haben.
Nicht erst die Verfütterung von Tiermehl an vegetarische Widerkäuer, sondern bereits die industrielle Tierhaltung und quer durch Europa führende Tiertransporte widersprechen allen tierethischen Grundsätzen.
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Literaturhinweise
A. Krebs (Hg.), Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion (stw 1262), Frankfurt a.M. 1997

U. Wolf, Das Tier in der der Moral, Frankfurt a.M. 1990

J.-C. Wolf, Tierethik. Neue Perspektiven für Menschen und Tiere, Freiburg (Schweiz) 1992

U. Körtner, Solange die Erde steht. Schöpfungsglaube in der Risikogesellschaft (Mensch - Natur - Technik 2), Hannover 1997
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Zurück in die Zukunft
So verständlich der Ruf nach naturgerechten Produktionsmethoden in der Landwirtschaft und so wünschenswert die Stärkung des ökologischen Landbaus ist, so wenig gibt es freilich ein Zurück in vormoderne Zeiten. Darauf hat sich auch die Ethik einzustellen. Wenn nun ein Umdenken in der europäischen Landwirtschaft gefordert wird, dürfen darum die ethischen Dilemmata und die vorhandenen Interessenskonflikte nicht übersehene werden.
Wer z.B. wirklich etwas gegen den Hunger in anderen Regionen der Erde unternehmen will, darf Getreide und Soja nicht massenhaft an Nutztiere verfüttern, sondern muß es direkt zur menschlichen Ernährung einsetzen.

Auch deshalb ist es an der Zeit darüber nachzudenken, ob nicht eine Einschränkung unseres Fleischverzehrs, die uns ernährungswissenschaftlich betrachtet ohnehin guttut, ein Stück Lebensqualität bietet.
Der qualifizierte Verzicht trägt gleichermaßen zu einer wirklichen Solidarität mit den Ärmsten dieser Erde und zu einer naturnäheren Lebensweise, d.h. zu Bewahrung der Schöpfung bei. Werbekampagnen, die das Vertrauen der Verbraucher in die heimísche Agrarwirtschaft zurückgewinnen wollen und aus rein ökomoischen Erwägungen geradezu betteln: "Eßt mehr Fleisch!", bleiben in den ausgetretenen Bahnen unserer alten Denk- und Lebensgewohnheiten.
Wie sagte schon Shakespeares Hamlet: "Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode."
 
 
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Medizin und Gesundheit 
 

 
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