Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Medizin und Gesundheit .  Gesellschaft 
 
Schmerz, lass nach!
Ethik-Institut veranstaltete Symposium über Schmerztherapie und die Grenzen des Machbaren
 
  Die Behandlung chronischer Schmerzen ist ein in der Öffentlichkeit kaum beachtete Thema, obwohl es inzwischen zu den teuersten Gesundheitsproblemen gehört. Ein Symposium des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin hat die Möglichkeiten und Grenzen moderner Schmerztherapie, ihre anthropologischen, medizinischen, rechtlichen und ethischen Aspekte diskutiert.  
->   Institut für Ethik und Recht in der Medizin
Chronische Schmerzen - ein gesellschaftliches Problem
Jeder Mensch kennt Schmerzen. Sie sind Warnsignale unseres Körpers und erfüllen, sofern sie vorübergehen, eine lebensdienlich Aufgabe. Schmerzen können aber auch chronisch werden und damit zur Qual für die Betroffenen, zumal dann, wenn der Sinn solcher Schmerzen zunächst nicht erkennbar ist.

Chronischer Schmerz ist längst ein gesellschaftliches Problem. In Österreich sind Schmerzen die häufigste Ursache für Krankenstände und vorzeitige Pensionierung. Vor allem bei Kopf- und Rückenschmerzen ist seit Jahren eine beängstigende Zunahme zu verzeichnen.
Zahlen und Fakten
Während die meisten akuten Beschwerden innerhalb weniger Wochen spontan oder nach ärztlicher Behandlung verschwinden, kommt es in etwa 10 Prozent der Fälle zur langjährigen Chronifizierung. Auf die Behandlung dieser anhaltenden Beschwerden entfallen 80 Prozent aller durch Rückenbeschwerden verursachten Kosten.

Während die Zahl der Patienten mit Rückenbeschwerden in den letzten Jahrzehnten annhähernd konstant geblieben ist, ist die zahl der Fälle, in denen chronische Rückenschmerzen zur Arbeistunfähigkeit führen, sprunghaft angestiegen. Es gibt nicht eine Epidemie von Rückenschmerzen als solchen, sondern eine Epidemie von Arbeitsunfähigkeit.

In den USA werden pro Tag 1 Million Aspirin-Tabletten hergestellt und konsumiert. Die Ausgaben für Schmerzmittel, die teilweise rezeptfrei in Apotheken erhältlich sind, gehen in Milliardenhöhe. Der Pharmamarkt boomt. Österreich und Deutschland sind, wie der Berliner Psychosomatiker Gerhard Danzer in seinem Eröffnungsreferat feststellte, "analgetisierte Republiken".
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Hilfe zur Selbsthilfe
Verbesserungen auf dem Gebiet der Schmerztherapie dienen also nicht nur den Betroffenen, sondern sind auch ein wirksamer Beitrag zur Sanierung des Gesundheitswesens. Zunehmende Bedeutung gewinnt hierbei die Hilfe zu Selbsthilfe.

Bei der Suche nach neuen Wegen der Schmerzbewältigung spielen Selbsthilfegruppen eine wesentliche Rolle. Sie bieten nicht nur den unmittelbar Betroffenen Hilfe, sondern bilden inzwischen auch eine zivilgesellschaftliche und gesundheitspolitische Kraft.

Nach einer Schätzung des Politikwissenschaftlers Winfried Kösters gibt es in Deutschland derzeit 70.000 Selbsthilfegruppen mit drei Millionen Mitgliedern, fast doppelt so viel wie die im deutschen Bundestag vertretenen Parteien.
->   Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen
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Das Leiden am Schmerz - nicht nur ein medizinisches Problem
Neue Wege der Schmerztherapie erfordern eine ganzheitliche Sicht des Menschen und seiner Krankheit, weil nur so die tieferen Ursachen und der Sinn chronischer Schmerzen erkennbar werden. Das erläuterte der Mediziner Univ.Prof. Dr. Gerhard Danzer in seinem Eröffnungsvortrag. Danzer ist Professor an der Charité Berlin und arbeitet an der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Psychosomatik.
Chronische Scherzen führen zu Depression und Isolation, zu Ängsten und zu einem Mangel an Selbstvertrauen. Sie machen seelisch krank oder können auch das Symptom für tieferliegende seelische Konflikte sein. Schmerzen sind unter Umständen die Reaktion auf anhaltenden Stress. Psychische Probleme aber lassen sich auf die Dauer nicht erfolgreich nur mit Analgetika betäuben.
Psychosomatische Zugänge
Grundlegend für eine integrale Sicht chronischer Schmerzen ist die Unterscheidung zwischen Schmerz und Leiden. Schmerzen können ein Symptom nicht nur körperlicher, sondern auch psychischer Leiden sein. Das Leiden am Schmerz ist daher nicht nur eine medizinische, sondern auch eine tiefenpsychologische Fragestellung, die letztlich auf anthropologische Grundfragen wie die nach unserer Sichtweise des Menschen und dem Sinn von Leiden führt. Medizinische und psychotherapeutische Therapieansätze müssen sich sinnvoll ergänzen.

Danzer erläuterte, dass Schmerzen und Schmerzstörungen einerseits "existentielle Frustrationserfahrungen" bedeuten, andererseits aber auch für die Betroffenen einen positiven Sinn annehmen können, sei als als eine Form der Selbstbestrafung bei depressiven Persönlichkeiten, sei es als Form der Selbstwertregulierung bei narzisstischen Persönlichkeiten oder auch als Weg der Konfliktlösung, um Zuwendung und Aufmerksamkeit zu erlangen.

Die Psychosomatik versucht Schmerzstörungen nicht nur medizinisch zu erklären, sondern auch psychologisch und anthropologisch zu verstehen. Schmerz kann zum Kommunikationsstil, zum Prototyp eines Sprachspiels (L. Wittgenstein) werden.
Heutige Wege der Schmerztherapie
Möglichkeiten und Grenzen der modernen Schmerztherapie zeigte Univ.Prof. Dr. Hans-Georg Kress vom AKH Wien auf. Kress ist Präsident der Österreichischen Schmerzgesellschaft.
->   Österreichische Schmerzgesellschaft
Schmerzen sind ein "biopsychosziales Phänomen" und dürfen nicht auf ein einfaches somatisches Reiz-Rekations-Schema reduziert werden. Erforderlich ist vielmehr, wie Kress erläuterte, ein "multimodales" Therapiekonzept.

Neben der medikamentösen Behandlung chronischer Schmerzen (Tabletten, Injektionen, implantierte Pumpen, die Schmerzmittel an den Körper abgeben) bieten sich heute zur Ergänzung, manchmal sogar als Ersatztherapie physikalische Maßnahmen an. Zu denken ist nicht nur an verschiedene Methoden der Physiotherapie, sondern auch an die gezielte Zufuhr von Wärme (z.B. Heizkissen) oder Kälte (z.B. Eisabreibungen).
Keine Wunderdroge
Starke Schmerzen können auch durch örtliche Betäubungsverfahren unterbunden werden. Sind alle Möglichkeiten einer konservativen Therapie erschöpft bleibt unter Umständen nur der Weg eines operativen Eingriffs (z.B. Bandscheibenoperataion).

Die Wunderdroge gegen Schmerz gibt es freilich nicht und wird es auch nie geben. Ebenso ist völlige Schmerzfreiheit kein sinnvolles medizinisches Ziel. Erreicht werden kann aber wirksame Schmerzlinderung und verbesserte Lebensqualität.
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Schmerztherapie und Palliativmedizin
Außer Streit steht, dass die Schmerztherapie in Österreich verbesserungsbedürftig ist. Noch immer sind Ärzte bei der Verabreichung schmerzstillender Mittel zu zurückhaltend. Nachholbedarf gibt es auch auf dem Gebiet der Palliativmedizin. Ihre Aufgabe ist es, die physischen, psychischen und sozialen Leiden von Sterbenden zu lindern und spirituellen Beistand zu leisten.

Die Palliativmedizin hat wissenschaftlich mittlerweile einen sehr hohen Standard erreicht, der leider viel zu wenig in die Praxis umgesetzt wird. Wirksame Symptomkrontrolle und Schmerztherapie gelten als Grundlage aller weitergehenden palliativmedizinischen Maßnahmen.

Nach wie vor gibt es in Österreich weder einen Lehrstuhl für Palliativmedizin noch für einen Lehrstuhl für Psychosomatik. Im AKH Wien gibt es auch keine Betten für Palliativmedizin oder für Schmerztherapie, an denen Medizinistudierende praktisch ausgebildet werden könnten.
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Psychotherapie
Da Schmerzen nicht nur das körperliche Befinden beeinträchtigen, sondern auch das seelische Wohlbefinden beeinflussen, kann auch die Psychotherapie einen sinnvollen Beitrag zur Schmerzbewältigung leisten.

Chronischer Schmerz führt zu Sinnlosigkeitsrefahrungen, die sich zu Suizidabsichten und tatsächlichen Suiziden steigern können. Eine besondere Problematik stellen Schmerzstörungen in Verbindung mit Suchterkrankungen dar.

Manchen Patienten hilft eine Gesprächstherapie oder das Erlernen bestimmter Entspannungstechniken. In anderen Fällen kann eine länger dauernde Verhaltenstherapie sinnvoll sein.
Auf der Suche nach Sinn
Das Ziel psychotherapeutischer Angebote besteht nicht nur im umfassenderen Ergründungen der seelischen und sozialen Faktoren chronischer Schmerzen, sondern auch in der Förderung der Eigenverantwortung des Patienten.

Die Problematik chronischer Schmerzstörungen spielt letztlich auch in Fragen der Sinnsuche und der Spiritualität hinüber. Hier tut sich eine weites Feld für die Seelsorge auf. Die verstärkte Nachfrage nach Schmerztherapie und ihre Zuweisung an das Medizinalsystem deutet Gerhard Danzer allerdings auch als Symptom für den Funktionsverlust der Kirchen als Institutionen, die Lebenssinn und Trost vermitteln. Paramedizin, Esoterik oder auch Kunst dienen als Religionsersatz.

Die Wirksamkeit psychotherapeutischer und medizinischer Angebote der Schmerztherapie werde, so Danzer, dadurch erhöht, dass sich die Betroffenen mit anthropologischen Fragen beschäftigten. Konkret empfahl er die Beschäftigung mit der stoischen Philosophie. Die Einübung in stoische Gelassenheit ermögliche Distanz und Souveränität gegenüber dem eigenen Schmerz.
Die Nemesis der Medizin
Die einseitig medizinische Sicht und Behandlung von Schmerzen kann aber auch zur Verschlimmerung des Leidens und zur Chronifizierung führen. Wenn körperliche Schmerzen nicht als Signal für psychische Probleme verstanden wird, geraten die Patienten unter Umständen in einen therapeutischen Teufelskreis. Auch Medikamentenmissbrauch und -abhängigkeit sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen.
Zum Beispiel Rückenschmerzen
Dass sich die moderne Medizin, wie der Medizinkritiker Ivan Illich formuliert hat, zu einer ernsten Gefahr für die Gesundheit entwickeln kann, erläuterte Univ.Prof. Dr. Michael Bach von der Universitätsklinik für Psychiatrie, AKH Wien, einer der Organisatoren des Symposiums, am Beispiel des chronischen Rückenschmerzes.

Nicht immer entsprechen somatische Schmerzen einem orgnaischen Befund, wie umgekehrt nicht jeder organische befund Schmerzn auslöst. Gerade bei chronischen Rückenschmerzen steht die Medizin daher oftmals in einem Erklärungsdilemma.

Die Folge: Oftmals fehlt für die ausgewählt Therapie eine gesicherte wissenschaftliche Grundlage. Man denke nur an die große Zahl von Bandscheibenoperationen, die keineswegs immer zum gewünschten Erfolg führen.
Recht auf Schmerzfreiheit?
Zu diskutieren sind freilich nicht nur die möglichen medizinischen, psychischen und sozialen Ursachen von Schmerz, sondern auch ihre medizinökonomischen und rechtlichen Folgen. Grundlegend stellt sich die Frage, ob es ein Recht auf Schmerzfreiheit gibt und wie weit es möglicherweise reicht. Dass jeder Mensch ein Recht auf bestmögliche Behandlung hat, steht außer Streit. Die moderne Schmerztherapie stößt aber häufig an ihre Grenzen. Daher ist auch ein überzogenes Anspruchsdenken auf seiten der Patienten zu überdenken.

Zwischen dem Recht auf optimale Behandlung und einem kaum einklagbaren Recht auf Schmerzfreiheit ist nicht nur medizinisch, sondern auch juristisch zu unterscheiden. Die medizinrechtliche Bedeutung dieser Unterscheidung erläuterte der Medizinrechtler Univ.Prof. DDr. Christian Kopetzki, der auch stellvertretender Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien ist.
Nicht nur eine Frage des Strafrechts
Unter anderem wis Kopetzki darauf hin, dass das neue Suchtmittelgesetz einen großzügigeren Einsatz von Opiaten in der Schmerztherapie erlaubt. Diesbezügliche Hemmmung bestehen nicht mehr im Strafrecht, wohl aber noch in den Köpfen mancher Mediziner. So bleibt die Versorgung von Schmerzpatienten immer noch zu oft suboptimal.

Verbesserungen in der medizinsichen Ausbildung und in der schmerztherapeutischen Versorgung der Bevölkerung sind letztlich gesundheitspolitische Fragen. Es gibt in Österreich erste Schritte in die richtige Richtung, doch fehlt eine breite Dikussion in der Öffentlichkeit.
(Selbst)verantwortung von Schmerzpatienten
Hinter der Frage nach einem möglichen Recht auf Schmerzfreiheit steht die ethische Frage nach der Selbstverantwortung der Betroffenen. Es ist bekannt, dass eine erfolgreiche Schmerztherapie in der Hälfte der Fälle an der mangelnden Bereitschaft der Patienten zur Mitarbeit ("compliance") scheitert. Der Theologe und Medizinethiker Univ.Prof. Dr. Ulrich Körtner erörterte die ethischen Aspekte des Themas.
Die Ausgangsfrage lautet, wie sich Patienten motivieren lassen, ihre Mitverantwortung für den Erfolg der Therapie wahrzunehmen und welche Konsequenzen aus dem nachweislichen Fehlen jeglicher Compliance ergeben. Inwiefern impliziert das Recht auf Behandlung eine moralische Pflicht zur Compliance? Ist es ethisch vertretbar, den Behandlungsanspruch unter bestimmten Voraussetzungen einzuschränken oder gar abzuerkennen?
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Rechte und Pflichten
Dies sind Fragen von gesellschaftlicher Tragweite. In Anbetracht der Tatsache, dass die Behandlung chronischer Schmerzen einen hohen Kostenfaktor im Gesundheitswesen darstellt, ergibt sich aus dem Prinzip der Solidarversicherung nicht nur eine persönliche, sondern auch eine gesellschaftliche Verantwortung der Patienten gegenüber der Gemeinschaft der Versicherten. Gemeinsam haben alle mit den finanziellen Ressourcen verantwortungsvoll umzugehen.

Problematisch ist es aber, diese Verantwortung durch Androhung äußerer Sanktionen erzwingen zu wollen, weil hierbei möglicherweise wiederum tieferliegende psychische Ursachen und Konflikte ausgeblendet werden.
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Das Arzt-Patienten-Verhältnis
Deutlich ist, dass ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Arzt und Patient zu den wesentlichen Voraussetzungen für das Gelingen einer Therapie und für die Bereitschaft des Patienten zur Selbstverantwortung ist. Allerdings kann Compliance, die durch die Kommunikation zwischen Arzt und Patient gefördert werden könnte, von den behandelnden Ärzten kaum gezielt herbeigeführt werden.
Äußere Zwänge, z.B. die Androhung von Leistungskürzungen, mögen einerseits in manchen Fällen ihre Wirkung als "extrinsische Motivation" nicht verfehlen, dürften aber in der Regel dem Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Arzt und Patient abträglich sein.
Realismus in der Schmerztherapie
Mit ausschlaggebend für den Erfolg einer Schmerztherapie sind freilich auch die Erwartungen der Betroffenen. Neuere Untersuchungen unterscheiden zwischen realistischen und unrealistischen Ergebniserwartungen, z.B. bei Rehabilitationsmaßnahmen. Unrealistische Erwartungen führen zu überzogenen Ansprüchen an den Arzt und damit zu Störungen in der Kommunikation.
Unrealistischen Erwartungshaltungen leistet beispielsweise die Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Vorschub. Sie erklärt, Gesundheit sei "der Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen". Denkt man diesen Gedanken zuende, mutiert freilich das Recht auf angemessene Behandlung von Schmerzen zur utopischen Wunschvorstellung eines Rechtes auf Glück.
Von solchen utopischen Erwartungshaltungen ist die Behandlung chronischer Schmerzen zu entlasten. Heilungsprozesse mögen nur zum Teil gelingen, menschliche Bemühungen um Heilung stoßen an ihre Grenzen. Erfahrungen des Scheiterns und die Fragmenthaftigkeit unseres Lebens dürfen aus der Diskussion über Verbesserungsmöglichkeiten für eine moderne Schmerztherapie nicht ausgeblendet werden.
 
 
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Medizin und Gesundheit .  Gesellschaft 
 

 
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