Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft .  Leben .  Medizin und Gesundheit 
 
Pflegenotstand und Pflegeforschung
Pflege ist nicht nur gesellschaftspolitisches, sondern auch ein wissenschaftliches Thema
 
  Neue Pflegeskandale erregen öffentlich die Gemüter. An die Politik richtet sich die Forderung, den steigenden Pflegebedarf zu befriedigen und für Qualitätsverbesserungen zu sorgen. Wer Qualität in der Pflege will, kommt aber nicht länger an Pflegewissenschaft und Pflegeforschung vorbei. Österreich hat auf diesem Gebiet noch einigen Nachholbedarf.  
Zwischen Gebraucht- und Vergessenwerden
"Die Pflege als Beruf", so stellte Elisabeth Seidl, eine der Pionierinnen der österreichischen Pflegewissenschaft vor einem Jahr aus Anlass des zehnjährigen Bestehens der von ihr geleiteten Abteilung Pflegeforschung nüchtern fest, "steht in Österreich im Spannungsfeld zwischen Gebrauchtwerden und Vergessenwerden.

Immer dann, wenn der Bedarf an Pflegeleistungen bedrohlich zunimmt - etwa bei der Versorgung von Alten und chronisch Kranken - wird Pflege aktuell. Auch bei Problemen im Gesundheitswesen, wenn Öffentlichkeit und Medien alarmiert sind, steigt die Aktualität der Pflege. Wenn es jedoch um die Verteilung von Forschungsmitteln geht, wenn es um die autonome Ausübung des Berufes und um Fragen der höheren Bildung geht, dann ist Pflege nicht gefragt, nicht aktuell."

Es steht zu befürchten, dass auch die jüngsten Pflegeskandale daran wenig ändern. Die politische Aufregung ist groß. Gefordert werden wirksamere Kontrollen, eine bessere personelle Ausstattung von Klinikstationen und Pflegeheimen, bauliche Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensqualität für Heimbewohner.

Aber von Pflegewissenschaft und Pflegeforschung spricht in diesem Zusammenhang kaum jemand, und das, obwohl auch der Politik schon seit Jahren bekannt ist, dass Österreich einen erheblichen Nachhohlbedarf in Sachen Pflegewissenschaft hat. "Die Gesundheitsversorgung in Österreich", so die Generaloberin Charlotte Staudinger vom Krankenanstaltsverbund (KAV) der Stadt Wien, "braucht die Pflegewissenschaft".
Die Emanzipation der Pflege von der Medizin
In der Theorie wird längst akzeptiert, dass die Pflege nicht mehr die Hilfsdisziplin der Medizin, sondern ein eigenständiger und neben der Medizin gleichberechtigter Beruf ist. Das neue österreichische Gesundheits- und Krankenpflegegesetz von 1997 trägt dem Rechnung. Ausdrücklich wird den Krankenschwestern und -pflegern durch dieses Gesetz ein eigenverantwortlicher Tätigkeitsbereich zugewiesen, in dem sie unabhängig von ärztlichen Weisungen arbeiten.

In der Praxis aber gibt es noch immer die Tendenz, die Pflege der Medizin unterzuordnen. Es ist so gesehen bezeichnend, dass als neuer Pflegeobmann für Wien nicht etwa ein Pflegeexperte oder eine Pflegeexpertin, sondern ein Arzt eingesetzt wurde. Dessen hohes Ansehen soll gar nicht in Frage gestellt werden, wenn darauf hingewiesen wird, dass zwischen medizinischen bzw. medizinethischen Fragen und pflegerischen bzw. pflegeethischen Fragen z.T. ein erheblicher Unterschied besteht, und dass Medizinexperten nicht auch schon Pflegeexperten sind.
Die internationale Entwicklung
Seit Jahren ist bekannt, dass auch in Österreich ein dringender Bedarf an akademisch ausgebildeten Pflegekräften besteht, will man den heute international üblichen Standard erreichen. Längst schon ist in den USA und in Großbritannien die Pflege zu einem wissenschaftlich orientierten Handeln geworden. "Nursing will be a research-based profession", wie der so genannte Briggs-Report bereits 1973 in Großbritannien feststellte.

Allmählich beginnt sich auch auf dem europäischen Kontinent die Pflegewissenschaft zu etablieren. In Deutschland gibt es inzwischen nicht nur Fachhochschulen, sondern auch einige Universitäten, an denen man Pflegewissenschaft studieren kann. Neben dem Studium spielt auch die Forschung eine immer wichtigere Rolle. Pflegeforschung meint nicht nur Forschung über Pflege, z.B. die Erforschung der Geschichte der Pflege, sondern auch Forschung in der Pflege, d.h. Forschung, die die Verbesserung pflegerischen Handelns zum Ziel hat. Was der Medizin an Arzneimittelforschung und Medizinprodukteforschung recht ist, muss der Pflege billig sein.

Buchtipp:
Hanna Mayer, Pflegeforschung. Elemente und Basiswissen, 3. Aufl., Facultas Verlag, Wien 2003
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Pflegeforschung in Österreich
Österreich hinkt der internationalen Entwicklung noch immer hinterher. Immerhin wurde vor elf Jahren die Abteilung Pflegeforschung der Universität Linz gegründet. Die Gründung verdankt sich dem bewundernswerten Einsatz engagierter Pflegeexpertinnen. Stellvertretend seien Univ.-Doz. Dr. Elisabeth Seidl und Dr. Ilsemarie Walter genannt. Die Abteilung Pflegeforschung hat in den vergangenen Jahren eine Reihe von wissenschaftlichen Symposien veranstaltet, deren Ergebnisse in Buchform vorliegen.

Erst seit 1999 kann man nun auch an der Universität Wien Pflegewissenschaft studieren. Bisher handelt es sich jedoch immer noch um ein so genanntes Individuelles Diplomstudium, nicht um einen regulären Studiengang.

Buchtipp:
Eilsabeth Seidl/Ilsemarie Walter (Hg.): Pflegeforschung aktuell. Studien - Kommentare - Berichte. Zum 10jährigen Bestehen der Abteilung Pflegeforschung, Verlag Wilhelm Maudrich, Wien 2002

Erwähnt sei auch die Abteilung Palliative Care und OrganisationsEthik des Instituts für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung der Universitäten Klagenfurt, Wien, Innsbruck und Graz (Standort: Wien).

Bislang gibt es in Österreich jedoch noch keinen Lehrstuhl für Palliativmedizin und auch keine Professur für Pflegewissenschaft.
->   Pflegewissenschaft an der Universität Wien
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->   IFF-Palliative Care und OrganisationsEthik
Bedarf an akademisch gebildeten Pflegekräften
Dabei besteht nach übereinstimmender Ansicht aller Experten auch in Österreich ein Bedarf an akademisch gebildeten Pflegepersonen. Profunde Kennerinnen wie Charlotte Staudinger, rechnen für den Anfang (!) mit einer Quote von drei bis vier Prozent aller in Österreich tätigen Pflegepersonen. Bei einem Gesamtbestand von 30.000 bis 50.000 Personen entspricht dies einer Zahl von 1.200 bis 2.000 Personen. Längerfristig wird sogar von einem Bedarf von zehn Prozent ausgegangen. Zum Vergleich: Derzeit studieren an der Universität Wien rund 200 Personen im Individuellen Diplomstudiengang Pflegewissenschaft.

Akademisch gebildete Pflegekräfte werden dringend gebraucht, wenn die Qualitätsstandards der Pflege angehoben werden sollen - in einer Gesellschaft, die zunehmend überaltert, und deren Bedarf an Pflege dramatisch ansteigt. Mit der Anwerbung ausländischer Pflegekräfte oder der Aufschulung von Heimhilfen, um die gröbsten Versorgungsmängel zu beheben, ist es keinesfalls getan.
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Aufsteigen statt aussteigen!
Wissenschaftlich ausgebildete Pflegeexpertinnen und -experten werden als Führungskräfte, als Pflegeberaterinnen und -berater sowie als Lehrkräfte benötigt. Noch aber fehlen in Österreich entsprechend dotierte Stellen. Darüber wird im aktuellen politischen Streit allerdings kaum öffentlich gesprochen.

"Aufsteigen statt aussteigen", lautet das Motto, das z.B. Elisabeth Seidl propagiert. Die Fluktuation, sprich die Rate der Aussteigerinnen und Aussteiger, ist gerade im Bereich der Altenpflege groß.

Was Pflegende brauchen, ist nicht allein die öffentliche Anerkennung und Wertschätzung ihrer Arbeit. Der in der TV-Diskussion "Offen gesagt" am 14. September im ORF geäußerte Vorschlag, einen Preis für herausragende Pflege zu stiften, hat bestenfalls symbolische Bedeutung. Benötigt werden handfeste Aufstiegschancen und neue Karrieremuster. Die aber kosten Geld und sind auf eine begleitende Forschung angewiesen.
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Pflegeforschung und Pflegeethik
Zur Pflegewissenschaft gehört schließlich auch eine eigenständige Pflegeethik. Auch auf diesem Gebiet muss sich in Österreich noch einiges tun. Nicht nur die öffentliche Diskussion, sondern auch die wissenschaftliche Debatte hat sich bisher zu einseitig auf die Medizinethik und auf biomedizinische Entwicklungen konzentriert, die in Wahrheit die Gesamtbevölkerung nur zu einen geringen Teil betreffen.

Stammzellforschung, Präimplantationsdiagnostik oder Anti-Aging-Forschung haben doch längst nicht den Stellenwert für das Gesundheitssystem und die Gesellschaft, die ihnen von Politik und Medien zugeschrieben werden. Pflegebedürftigkeit und Pflegenotstand sind dagegen ein politisches und ethisches Thema ersten Ranges.

Es geht nicht länger an, die Pflegeethik als Anhang zur Medizinethik zu betrachten. Die Pflege wirft eine Reihe schwerwiegender ethischer Fragen auf, die nicht in den Bereich der Medizin und der Medizinethik fallen. Genannt seien nur der Umgang mit so genannten schwierigen Patienten und schwierigen Angehörigen, die menschenwürdige Pflege von geistig Verwirrten oder dementen Personen und die dabei entstehenden Schwierigkeiten, die heute allseits geforderte Autonomie des Patienten zu respektieren.

Ethik gehört zwar inzwischen zu den Pflichtfächern in der Ausbildung von Pflegenden. Spezifisch pflegeethische Angebote der Fort- und Weiterbildung müssen aber noch entwickelt werden. Dazu ist es notwendig, der Pflegeethik auch im Rahmen der universitären Forschung und Lehre verstärkte Aufmerksamkeit zu widmen.
->   Institut für Ethik und Recht in der Medizin
 
 
 
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